In den Jahren 1952 bis 1957 durfte ich in dieser bescheidenen Kirche des Priesterseminars öfters reden. Ich durfte hier Betrachtungen vorlesen und Konferenzen abhalten. In dieser langen Zeit hat sich vieles geändert. Wir wissen aber, daß Veränderungen unterschiedlicher Art sein können, denn es gibt erfreuliche und traurige. Auch in dieser langen Zeit waren nicht alle Veränderungen erfreulich. Es ist schwer, sie alle aufzuzählen...

Heute, da wir uns aus Anlaß des Marianischen Jubiläumsjahres zu einer Festtagung hier versammelt haben und da wir uns auch an die Fülle der Gaben Gottes erinnern, die uns durch die Seligsprechung des Erzbischofs Jurgis Matulaitis zuteil wurde, dessen Jahrestag seiner Seligsprechung wir vor kurzem in Marijampolė feierlich begehen durften, stellen wir in beson­derer Weise fest, daß die erfreulichsten Veränderungen in diesem maria­nischen Jahr begonnen haben. Wie damals am Hochzeitstag zu Kanaa in Galiäa dürfen wir sagen, daß das Beste für uns bis jetzt aufgehoben wurde.

Gerade im Jahr Mariens treten in unserem Volke die wundersamsten Ver­änderungen in Erscheinung, die den Namen Umgestaltung tragen. Eine besondere Aussagekraft dieser Umgestaltung hat unser Volk vor noch nicht langer Zeit im Wingio-Park erlebt, als nach so vielen Jahren unsere dreifar-bene Flagge wieder feierlich wehte...als die Fragen erörtert wurden, die das ganze Volk bewegen. Wie schade, daß wir heute unsere Nationalflagge hier nicht sehen. Ist denn das für uns eine fremde Sache?! Ist denn das eine Sache, die unseren Blicken unerträglich ist, oder haben wir verlernt uns darüber zu freuen, worüber heute unser ganzes Volk sich freut? Oder verträgt sich das vielleicht nicht mit dem Priestertum? Nicht ohne Grund machen jene, die die Freuden der Umgestaltung im Wingio-Park erlebt haben, uns Priestern Vorwürfe, warum wir uns bei der Sache so fremd, gefühllos verhalten, als wenn wir uns keine Umwandlungen, keine Verän­derungen wünschen würden, als wenn wir uns mit dieser traurigen Lage abgefunden hätten. Die Bewegung der Umgestaltung läßt mich nicht in Ruhe, Ihre Delegationen kommen zu mir, eine nach der anderen, und fra­gen mich, warum wir schweigen? Dieses unser Wort sei die Antwort darauf - wir schweigen bislang, weil wir uns Sorgen darüber machen, weil wir das ernst nehmen.

Ich möchte heute nicht nur in meinen Namen, sondern auch im Namen der gesamten katholischen Geistlichkeit, erklären und unseren Geist klar­stellen, was wir in Wirklichkeit uns wünschen und was wir wollen, worüber wir klagen, worüber wir uns Sorgen machen und was wir fordern.

Einige Jahrzehnte lang waren die Katholiken und die Bekenner anderer Religionen in unserem Lande aus dem öffentlichen Leben ausgestoßen, in den Wänden der Kirche und von den Mauern des Kirchhofes und des Friedhofes eingeschlossen. Die jetzt stattfindende Veränderung des gesell­schaftlichen Lebens lädt uns ein und fordert uns heraus, die Obrigkeit der Kirche, wie auch die Priester und gleichermaßen die Gläubigen, ganz neu ihren Platz in der Geschichte unseres Volkes dieser Tage zu sehen. Inner­halb einiger Monate sind viele Einschränkungen des Wortes gefallen. In den letzten paar Jahren haben sich manche berühmte Persönlichkeiten des kulturellen Lebens der sowjetischen Republiken, unter ihnen auch einige aus unserer Republik, laut über die Bedeutung des religiösen Lebens für den Geist des Volkes und seine Moral ausgesprochen. Es wird schon öffentlich zugegeben, daß nicht nur die aufgezwungene Kollektivierung und die planlose Organisation, sondern auch die rücksichtslose Atheisie-rung die Seele unseres Volkes geschädigt hat. Das Gewissen der Menschen wurde geschädigt, als sie nicht das sagen durften, was sie dachten, und nicht das tun, was sie sprachen, als sie alles verachten mußten, was ihren Eltern, aber auch ihnen selber heilig war und ist. Die Kirche propagiert keine Rache, wenn sie auch die Meinung vertritt, daß man Vergehen gegen die Menschlichkeit, gegen die Freiheit und das Leben unschuldiger Men­schen nicht leicht vergessen darf. Es stimmt, die Gläubigen haben keine Verbannungen organisiert und keine ausgeführt, das haben die anderen getan. Sie haben keine Todesurteile oder langjährige Freiheitsstrafen unter­zeichnet, es gab aber und gibt vielleicht auch jetzt noch eingeschüchterte, hintergangene Gläubige in der Armee der schamlosen Verräter oder Zuträ­ger, die bei den damaligen Grausamkeiten mitgeholfen haben und die auch jetzt noch dieser Unterdrückungsapparatur als Helfer dienen. Wir ermah­nen in vollem Ernst solche gläubige Laien, besonders aber jene, die im Dienst der Kirche stehen. Wir wollen uns nicht täuschen lassen, wir wollen unsere Kleingeistigkeit nicht rechtfertigen, wir wollen an die schmerzvolle Verantwortung vor Gott und vor dem Volke denken. Kein Preis darf für uns zu groß sein, damit wir uns wieder frei, als Menschen guten Gewissens fühlen können. In jetziger Zeit werden zwei verderbliche Epochen der Geschichte des Volkes ständig genannt, der Diktatorskult und die Epoche der Erstarrung oder der Stagnation. In wieweit und wie haben diese Epo­chen das Leben der Kirche berührt? Zu Zeiten des Personenkultes des Diktators hat die Kirche gelitten, damals wurde dies aber nicht zugegeben, jetzt wagt man es, auch öffentlich darüber zu reden, jedoch noch sehr leise. Wollen denn wir, die Priester, auch nur leise darüber reden?! Jeder dritte Priester Litauens und vier von fünf Bischöfen waren eingekerkert, zahlrei­che Mitarbeiter der katholischen Organisationen, Arbeiter der christlichen Kultur, eifrige Gläubige waren eingekerkert oder verbannt, die gesamte katholische Presse, die Schulen und Bruderschaften wurden verboten; die Klöster wurden aufgelöst, eine nicht geringe Zahl von Kirchen und drei Priesterseminare wurden geschlossen, die Bibliotheken der Klöster und der Priesterseminare wurden konfisziert... Die Kirche hat schmerzvoll darun­ter gelitten, sie blieb aber damals die einzige Institution im ganzen Lande, die dem Diktator keine Ehrerbietung bewiesen hatte.

Während der Tauwetterperiode, als der Diktator schon gestorben war, wur­den weder die religiöse Presse noch die Schulen wieder hergestellt, im Gegenteil, es wurden erneut Kirchen geschlossen, es wurde mit einer syste­matischen Vernichtung der Kreuze und Kapellchen am Wegrand begonnen, der Kampf gegen den Glauben in der Presse und an den Schulen, der anti­religiöse Druck gegen die Intelligenz und die Beamten wurde verschärft. Durch Drohungen wurden die Kinder und die Jugendlichen vom Altar weggejagt, und als der Bischof von Vilnius, Julijonas Steponavičius, sich dagegen wehrte, wurde er nach Žagarė verbannt und wird bis jetzt gehin­dert, sein Amt auszuüben.

In der Epoche der Stagnation wurden Anstrengungen unternommen, auch der Kirche diese Stagnation aufzuzwingen. Diese Stagnation hat tiefe Wur­zeln geschlagen, so daß auch noch zu unserer Zeit der Rat für Religionsan­gelegenheiten der Union und seine Vertreter in unserer Republik sich nur sehr schwer für einen Dialog mit der Kirche entschließen können - sie wollen immer nur diktieren und alles so verwalten wie in alten Zeiten. In manchen Fällen wird nur von der Umgestaltung gesprochen, aber nichts Konkretes in dieser Richtung unternommen. Es geschieht sogar das Gegenteil. Es wurde angekündigt, daß im Priesterseminar zu Kaunas 150 junge Männer werden studieren dürfen, heute behauptet schon jemand durch irgendwelche dubiose Kanäle, die in der Presse nicht bekanntgege­ben werden, daß nur 145 junge Männer im Priesterseminar studieren dür­fen. Wer hätte die uns mitgeteilte Begrenzung ändern können?! Ich habe keine Information darüber erhalten, die anderen Bischöfe Litauens erhiel­ten ebenfalls keine. Durch welche Kanäle kommen solche Verordnungen? Man soll doch schriftlich öffentlich uns mitteilen, oder in der Presse bekanntgeben, daß in das Priesterseminar zu Kaunas weniger junge

Männer aufgenommen werden, als zu Beginn erlaubt wurde, und auch die Gründe dafür erklären. Das wurde aber nicht gemacht. Solche und ähn­liche Nachrichten erreichen uns nur durch rätselhafte, stille, geheime Kanäle. Dürfen wir, die Bischöfe und die Priester, immer noch schweigen und uns damit abfinden?!

Die Geschichte zeigt, daß die Kirche in der Lage ist, unter den verschie­densten staatlichen Systemen zu leben, die Kirche darf sich aber nicht mit ungerechten Einschränkungen ihrer Tätigkeit, mit den Verletzungen der Menschenrechte einverstanden erklären. Die Geschichte zeigt, daß die Freiheit niemals geschenkt wird, sondern daß die Menschen selber, die ganze Gesellschaft, wenn günstige Verhältnisse entstehen, sich wie Freie zu verhalten beginnen und nach Freiheit verlangen müssen. Wir dürfen nicht mehr länger warten. Drei Jahre sind schon ins Land gegangen, seit man uns die Herausgabe des neuen Statuts der religiösen Gemeinschaften ver­spricht, und immer schiebt man es hinaus, und es ist immer noch nicht klar, wann es tatsächlich herausgegeben wird. Ja, man versucht uns wie die Kinder in Schlaf zu wiegen, einzuschläfern, mit Versprechungen zu vertrösten...

Da die sowjetische Regierung das Konkordat zwischen der Republik Litauen und dem Heiligen Stuhl annulliert und eine Nichteinmischung in die kanonische Tätigkeit der Kirche proklamiert hat, hat die Verwaltung dieser Tätigkeit durch die Behörde des Bevollmächtigten des RfR und der Rayonverwaltungen wie auch anderer Organe für uns keine juristische Grundlage, und sie müßte aufhören. Wenn man eine wirkliche Umgestal­tung und normale Beziehungen will, dann soll man es doch der Kirche gestatten, sich ungehindert nach den Canones der Kirche zu richten und sich von dem von ihnen festgelegten hierarchischen und seelsorgerischen Tun leiten lassen. Nur auf diese Weise werden, soweit es den religiösen Sektor betrifft, die ersten Schritte zur Gründung eines Rechtsstaates gemacht, um den sich auch das bedeutungsvolle Forum im Wingio-Park Kopfzerbrechen machte, das kürzlich stattfand.

Die Priester, die Pfarrherren, die Vikare sollten nach unserer Meinung jetzt schon öffentlich mit der Katechese der Kinder und mit der Bildung der Jugend beginnen und nicht darauf warten, bis die Behörde des RfR einmal mitteilt, daß es erlaubt ist. Sie sollen auch nicht auf ein Sonderschreiben der Bischöfe warten, daß es ihnen erlaubt ist. Wozu denn noch ein Schrei­ben der Bischöfe, wenn die Canones der Kirche ihnen dieses Recht geben? Die Bischöfe haben doch den Priestern nicht verboten, die Kinder und die Jugendlichen zu katechisieren. Sie mögen selber damit beginnen und zu jenen Positionen zurückkehren, die wir verloren haben. Die Obrigkeit der Kirche, die Geistlichen und die Gläubigen dürfen nicht aufhören zu ver­langen, daß die Wiege des Christentums in Litauen, die Kathedrale von Vilnius, den Gläubigen zurückgegeben und die Profanierung der uns teuren St. Casimir-Kirche zu Vilnius beendet wird; daß die Rückgabe der Kirche „Königin des Friedens" von Klaipėda verwirklicht wird, daß die Genehmigungen erteilt werden, neue Kirche dort zu errichten, wo sie nach Beurteilung der Obrigkeit der Kirche von den Gläubigen benötigt werden.

Wir dürfen nicht aufhören, alle verantwortlichen Instanzen aufzurütteln, damit die Freiheit der religiösen Presse wiederhergestellt werde. Die Obrig­keit der Kirche, der Klerus und die Gläubigen selber müssen bestimmen, welche Veröffentlichungen in welcher Auflage von ihnen benötigt werden, und nicht Regierungsbehörden. Der Staat, der vor 40 Jahren Hunderte von kirchlichen Bauten und über ein Dutzend Druckereien enteignet hat, soll sich nicht einbilden, daß er uns irgendwas schenkt, wenn er uns eine Krume hinwirft und nachher vor der ganzen Welt darüber prahlt.

Die Gläubigen werden bereit sein, alle nur möglichen seelsorgerischen Maßnahmen sowohl individuell wie auch gruppenweise beim Apostolat der Versorgung der Alten, der Invaliden, der Waisen und der Kranken zu erweisen. Man hört schon Stimmen, daß die Wohltätigkeit wieder erlaubt wird, daß möglicherweise sogar manche klösterliche Gemeinschaften auf diesem Gebiet wieder arbeiten dürfen. Es sind aber bislang nur vereinzelte Stimmen. Wir fordern die gläubigen Laien, besonders aber die Geistlich­keit auf, die Bemühungen um die Erneuerung der Gesellschaft und um die Demokratisierung auf jede nur mögliche Weise zu unterstützen. Es ist nicht notwendig, daß wir in gewissen Bewegungen als Priester auftreten, wir wollen aber dieser Sache zugetan bleiben und sie mit allen möglichen Mitteln unterstützen. Sollte es dazu kommen, daß die an der Erneuerungs­bewegung teilnehmenden Laien einen Berater, Theologen, Kenner des Kirchenrechts benötigen, wird die Bischofskonferenz sie ernennen und ihnen zur Verfügung stellen.

Viel hat die Kirche in dieser Epoche gelitten, vieles wurde ihr weggenom­men. Ungeachtet dessen wollen wir geduldig bleiben, gegnerische Ge­sinnungen und unüberlegte Aktionen meiden, wir wollen aber nicht ver­gessen, daß das gläubige Volk nur dann geduldig bleiben kann, wenn es sieht, daß konkrete Schritte gemacht werden, und nicht nur leere Verspre­chungen.

Voriges Jahr haben die Bischöfe in der für den Jubiläumstag der Taufe Litauens vorgesehenen Predigt gesagt: Brüderlich danken wir allen, die mit der Kirche mitfühlen, allen, die wegen innerer oder äußerer Behinderun­gen glauben, nicht alle Sakramente empfangen zu können, die aber die Worte des Evangeliums hochschätzen, die den christlichen Geist durch ihr Verhalten, durch ihre Worte oder durch ihre Kunst unterstützen; allen, die die Anstrengungen der einzelnen Gläubigen oder der gesamten Kirche unterstützen und betreuen. Man möchte diesen Worten gerne noch eigens ein Dankeswort an alle Kulturschaffenden unseres Volkes beifügen, die, von der Gerechtigkeit und dem Gefühl der Heimatliebe angeregt, immer lauter ihre Stimme erheben für die christlichen Werte, gegen ihre Verach­tung, gegen die Diskriminierung der Gläubigen. Damit möchte ich unsere unvollkommen gestaltete erste Ansprache ergänzt wissen.

Wir sind fest davon überzeugt, daß durch die Fürsprache unserer himm­lischen Mutter Maria, durch unsere Fömmigkeit und durch die Erfüllung Ihrer Worte „Was Er euch sagt, das tut", die Lage sich zum Guten wenden wird. „Tut alles, was Er euch sagt..." Mit diesen Worten sprach unsere himmlische Mutter zum ersten und einzigen Mal zu der Menschheit und zu jedem von uns in Form einer Aufforderung. Sie weist uns damit gleich­zeitig darauf hin, was Sie von uns erwartet, was Sie von uns will und was Sie von uns verlangt, das wir tun sollen. Das Unglück in unserem Volke begann gerade damit, daß wir, obwohl wir die Freiheit dazu hatten, nicht das getan haben, was uns der Herr geboten hat; wir haben Seine Gebote nicht eingehalten, und das war der Anfang unseres ganzen Unglücks. Wenn wir uns alle, besonders die Geistlichkeit, in unseren Herzen dazu entschlie­ßen, das alles zu tun, was Jesus uns befiehlt, werden die günstigen Umwandlungen kommen und sich in schönster Weise zeigen und wir wer­den genau so sagen können, wie damals am Hochzeitstag zu Kanaa in Galiläa: Das Beste hast du bis zuletzt aufgehoben.

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