Die Einengung dar Rechte der Katholiken, insbesondere die gegen die Priester J.Zdebskis und P. Bubnys angestrengten Prozesse, führten zur Abfassung dieses Memorandums.

Die Unterschriftensammlung erfolgte im Laufe zweier Monate. Da dieses Memorandum an die Obrigkeit der UdSSR gerichtet war, wurden bei Sammlung der Unterschriften keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Zum Teil wurden die Unterschriften vor und nach den sonntäglichen Andachten vor den Kirchen gesammelt, zum Teil bei Hausbesuchen. Ein jedes Blatt enthielt den vol­len Text des Memorandums, so daß die Unterzeichnenden sich ein Bild über des­sen Inhalt machen konnten. Schriftunkundigen wurde der Text von den mit der Unterschriftensammlung Betrauten vorgelesen beziehungsweise es wurde ihnen erklärt, worum es sich handele.

Die Katholiken kamen der Aufforderung, ihre Unterschrift unter das Memoran­dum zu setzen, mit größter Bereitschaft nach. Nur wenige enthielten sich aus Furcht vor etwaigen Repressalien der Unterzeichnung. Die Unterschriftensam­melaktion zog, ohne daß dies vorauszusehen war, immer größere Kreise: ein Gläubiger schrieb den Text des Memorandums vom anderen ab und ordnete sich in die Aktion ein.

Die KGB-Aktion gegen die Unterschriftensammler

Recht bald verbreitete sich die Kunde, daß Unterschriftensammler von KGB Organen aufgegriffen, nach der Herkunft des Memorandumstextes befragt und ihnen die gesammelten Unterschriften abgenommen wurden.

Die Unterschriftensammelaktion wurde abgebrochen. Nun tauchte das schwie­rig zu lösende Problem auf, auf welchem Wege die gesammelten Unterschriften dem Generalsekretär des ZK der KPdSU zugeleitet werden könnten. In der Regel werden die aus dem zu Litauen gehörenden Territorium abgesandten Be­schwerdebriefe von den KGB-Organen abgefangen. Nicht günstiger sieht es aus, wenn die Beschwerden in Moskau direkt bei den Adressaten eingereicht werden. Zweifelsohne hat noch nie ein an den Generalsekretär des ZK der KPdSU, Breznev, an Ministerpräsident Kossygin und an den Vorsitzenden des Obersten Sowjets, Podgorny, gerichtetes Schreiben eines Katholiken oder Priesters seine Moskauer Adressaten erreicht. All diese Eingaben werden nach Vilnius über-sandt und gelangen zu guter Letzt in die Hände des Beauftragten des Rates für religiöse Angelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR, J. Rugienis, welcher mit Hilfe des KGB versucht, die Initiatoren dieser Eingaben zu ermitteln. Diese wer­den eingeschüchtert, und daraufhin wird erklärt, man hätte festgestellt, in Litau­en lägen keine Verstöße gegen die Prinzipien der Glaubens- und Gewissensfrei­heit vor.

Um dem Memorandum der Katholiken das gleiche Schicksal zu ersparen, wurde beschlossen, UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim um Hilfeleistung zu bitten.

Auf verschlungenen Wegen gelangte das Memorandum noch vor Ostern 1972 zur UNO. Nachstehend wird der Wortlaut des Memorandums samt Begleit­schreiben wiedergegeben.

Text des Memorandums:

An den Generalsekretär des ZK der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, L. Brežnev, Moskau, Kreml.

Memorandum der Römischen Katholiken Litauens.

Nachdem der Zweite Weltkrieg beendet war, erhoben sich die Völker aus den Trümmern und strebten einen beständigen Frieden an. Die Grundfesten eines echten Friedens sind Gerechtigkeit und Achtung der Menschenrechte. Wir Ka­tholiken Litauens halten es für äußerst schmerzlich, daß bis zum heutigen Tage die Glaubensfreiheit in unserem Volke eingeengt ist und die Kirche verfolgt wird.

Die Bischöfe J. Steponavičius und V. Sladkevi6ius befinden sich, obwohl völlig schuldlos, seit über zehn Jahren ohne Gerichtsurteil und unbefristet in quälender Verbannung.

Im November 1971 wurden die Priester J. Zdebskis und B. Bubnys zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, und zwar nur deswegen, weil sie auf Wunsch der El­tern und gemäß ihrer priesterlichen Pflicht den Kindern die Grundlagen des katholischen Glaubens beigebracht hatten. In der Kirche, nicht in der Schule, halfen diese Priester bei der Vorbereitung zur Erstkommunion, ohne irgendein Druckmittel anzuwenden. Zur Unterweisung kamen die Kinder freiwillig. Anders in der Schule, hier werden die Kinder religiöser Eltern zur Teilnahme am atheistischen Unterricht genötigt. Sie werden gezwungen, gegen ihre Überzeu­gung zu reden, zu schreiben und zu handeln. An diesen Lehrkräften darf indes keine Kritik geübt werden, noch können sie deswegen zur Verantwortung ge­zogen werden.

Die Priester sind nicht in der Lage, uns Gläubige seelsorgerisch zufriedenstellend zu betreuen, da es zu wenige gibt. Vielerorts werden von einem Priester zwei, manchmal auch drei Pfarreien versorgt. Invalide, greise Priester müssen sich noch dem Kirchendienst zur Verfügung stellen. Dies ist notwendig, weil die An­gelegenheiten des Priesterseminars weniger vom Bischof als vielmehr vom Regie­rungsbeauftragten dirigiert werden. Die Regierung läßt alljährlich nicht mehr als zehn Priesteranwärter zum Eintritt in das Priesterseminar zu. Die Zuweisung der Priester zu den Pfarreien wird ebenfalls von Amtsträgern der Regierung vorgenommen.

Ungeachtet dessen, daß gemäß Strafgesetzbuch der Litauischen SSR auch die Verfolgung der Gläubigen strafbar ist, wird dieses Gesetz in der praxis niemals angewandt. Das Bildungsamt von Vilkaviškis entließ 1970 die Lehrerin Ona Brilienė ihres Glaubens wegen aus dem Lehramt, jetzt wird ihr sogar die Tätig­keit als Putzfrau in ihrem Wohnort Vilkaviškis von der Rayonverwaltung unter­sagt. Eine solche Willkür der Amtsträger wird nicht rechtlich verfolgt, obwohl derartige Anmaßungen Angehörige der Intelligenz davon zurückschrecken lassen, öffentlich ihren Glauben zu praktizieren.

Regierungsbeamte erteilen den Gläubigen nicht die Erlaubnis, abgebrannte Kirchen mit eigenen Mitteln wieder aufzurichten, so geschehen in Sangrūda, Batakiai, Gaurė. Nur unter großer Anstrengungen kann die Erlaubnis, in einem Wohnhaus eine Kapelle einzurichten, erwirkt werden. Auf dem Kirchengelände darf man jedoch unter keinen Umständen eine Kapelle errichten.

Wir könnten noch viele unser Leben vergällende Vorkommnisse der Verfolgung von Gläubigen hinweisen, die uns an der sowjetischen Gesetzgebung und der Verfassung der Sowjetunion zweifeln lassen.

Wir bitten daher die sowjetische Obrigkeit um die von der Verfassung der UdSSR garantierte, jedoch niemals gewährte Gewissensfreiheit. Keine über Presse und Rundfunk gerichtete Schönrederei wollen wir, sondern ernsthafte Bemühungen seitens der Regierung, die es uns Katholiken ermöglichen, uns als vollwertige Bürger der Sowjetunion zu fühlen.

Dezember 1971

Anlage zum Memorandum:

An den Generalsekretär des ZK der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.

Dem Memorandum sind 17.054 Unterschriften beigefügt. Hierzu ist zu bemer­ken, daß nur eine geringe Anzahl der Gläubigen in Litauen Gelegenheit hatte zu unterschreiben, weil von der Miliz sowie den KGB Organen eine Anzahl von Maßnahmen zur Verhinderung der Unterschriftensammlung eingeleitet worden war. So wurden in Kapsukas, Šakiai, Išlaužas, Kapčiamietis an der Unterschrif­tensammelaktion beteiligte Personen festgenommen und die bei ihnen gefun­denen Blätter mit den Unterschriften beschlagnahmt, obwohl das Memorandum an die sowjetische Obrigkeit gerichtet war.

Sollten die Regierungsorgane auch in Zukunft in gleicher Weise auf die Gläu­bigen eingereichten Beschwerden reagieren, wie bis jetzt geschehen, so sind wir gezwungen, uns an internationale Organisationen zu wenden: an das Oberhaupt unserer Kirche, den Papst in Rom oder an die UNO als führende Institution zur Verteidigung der Menschenrechte.

Außerdem wollen wir Ihnen ins Gedächtnis rufen, daß der Anlaß zu diesem Memorandum die Sorge um das nationale Wohlergehen war: während der sow­jetischen Regierungszeit in Litauen ist die Quote der gesellschaftlichen Laster, wie Jugendkriminalität, Trunksucht, Selbstmorde und ebenfalls Familienzer­rüttung und Tötung ungeborenen Lebens, um das Zehnfache gestiegen. Je weiter wir uns von unserer christlichen Vergangenheit entfernen, desto deut­licher treten die schrecklichen Folgen dieser zwangsweisen atheistischen Erzie­hung zutage, desto inhumaner entwickelt sich — ohne Gott und Religion — unser Leben.

Wir wenden uns an Sie, die höchste Autorität in der Kommunistischen Partei, mit der Bitte, sich der hier aufgeführten Tatsachen mit aller Ernsthaftigkeit und vollem Verantwortungsbewußtsein anzunehmen sowie die erforderlichen Schritte zu ihrer Beseitigung zu veranlassen.

Februar 1972

Vertreter der litauischen Katholiken

An den Generalsekretär der Vereinigten Nationen, Kurt Waldheim

Eingabe der Katholiken Litauens

In Anbetracht dessen, daß Litauen in der Organisation der Vereinten Nationen nicht vertreten ist, sind wir, die Katholiken Litauens, gezwungen, uns an Sie, Herr Generalsekretär, über inoffizielle Kanäle zu wenden.

Veranlaßt wurde diese Eingabe durch den Umstand, daß die Gläubigen unserer Republik nicht die in der Deklaration der Allgemeinen Menschenrechte, Atr. 18, angeführten Rechte in Anspruch nehmen können. Unsere Priester, Gruppen von Gläubigen sowie einzelne Katholiken wandten sich in dieser Angelegenheit zum wiederholten Male an die höchsten Staatsorgane der Sowjetunion mit der Forderung, die Verstöße gegen die Rechte der Gläubigen einzustellen. Mehrere Petitionen wurden an die sowjetischen Staats, und Partei-Oberhäupter gerichtet, darunter die Erklärung von zweitausend Katholiken aus Prienai, vom September 1971, die Erlärung von Gläubigen der Kirchengemeinde Santaka, Rayon Alytus, mit 1190 Unterschriften vom Oktober 1971 sowie die Erklärung von 1344 Gläubigen der Kirchengemeinde von Girkalnis, Rayon Raseiniai, vom Dezember 1971. Diese Eingaben wurden an verschiedene höchste Instanzen der UdSSR gesandt, ohne daß auch nur eine einzige offizielle Antwort eingegangen wäre, obwohl es Pflicht der Behörden ist, die Eingabe der Bürger innerhalb eines Monats zu beantworten. Als inoffizielle Antwort kann man allerdings die ver­stärkt gegen die Gläubigen geübten Repressalien werten.

Mit einem Memorandum an den Generalsekretär der KPdSU, Herrn Brežnev, versuchten die Katholiken in Litauen auf ihre rechtlose Lage aufmerksam zu machen; Miliz und KGB verhinderten jedoch unter Anwendung von Drohungen. Festnahmen und Beschlagnahme eine Unterschriftensammelaktion.

Eine solche seitens der Regierung gezeigte Einstellung bestärkte uns in der An­nahme, daß auch dieses mit 17.000 Unterschriften versehene Memorandum nicht dem Adressaten vorgelegt werde, falls es auf dem gleichen Wege zugestellt würde wie die früheren Gruppenerklärungen.

Wir Katholiken Litauens wenden uns deshalb an Sie, sehr geehrter Herr Generalsekretär, mit der Bitte, dieses Memorandum zusammen mit den Unter­schriften über die Organisation der Vereinten Nationen dem Herrn General­sekretär der KPdSU, L. Brežnev, zu überreichen.

 

Februar 1972                                               Mit vorzüglicher Hochachtung

Die Vertreter der litauischen Katholiken

Presse, Rundfunk und Fernsehen haben im Ausland über dieses Memorandum ausführlich berichtet. Die Meinung der Weltöffentlichkeit stand an der Seite der 17.000 Katholiken, die den Mut aufgebracht hatten, ihr Recht zu fordern. Papst Paul VI. erwähnte in seiner Osteransprache die „Kirche des Schweigens". Wie war die Reaktion der sowjetischen Regierungsorgane?

Wie der Hirtenbrief zustande kam:

Da nach Auffassung der KG B-Organe die sowjetische Wirklichkeit im Memo­randum verzerrt dargestellt wurde, wird nun nach den Initiatoren des Memoran­dums gefahndet. Indessen, vorläufig konnte vom KGB nur der eine oder andere Unterschriftensammler festgestellt werden. Die Regierungsorgane vermuten, „antisowjetische" Priester seien die Organisatoren des Memorandums gewesen.

Am 11.April 1972 bestellte der Beauftragte des Rates für religiöse Angelegen­heiten, J. Rugienis, die Bischöfe — die den Bischofsämtern Vorstehenden — so­wie die Diözesenverwalter der litauischen Diözesen in die Räume der Kurie des Kaunaer Erzbistums, wo ihnen in Anwesenheit eines Vertreters aus Moskau, S. Orlov, ein „Hitenbrief an die Gläubigen", in dem die Unterschriftensammler und Unterzeichner übel verleumdet werden, zur Unterzeichnung vorgelegt wurde. Nachstend ein Auszug aus diesem Schriftstück:

„3. Schließlich kam es in letzter Zeit vor, daß unverantwortliche Personen im Namen der Priester und der Gläubigen vor den Kirchen, ja selbst in den Kirchen und manchmal sogar bei Hausbesuchen auf Blättern mit und ohne Text Unter­schriften sammelten, angeblich nur damit ein Pfarrer versetzt, eine Kirche nicht geschlossen, Priester eingewiesen, dieser oder jener Pfarrer beziehungsweise Vikar nicht versetzt würde u.a.m. Vo den Unterschriftensammlern wird der Text dann hinzugefügt oder aber verändert. Das ist doch eine Urkundenfäl­schung! Es wundert uns, daß immer wieder Gläubige darauf hereinfallen und ihre Unterschrift unter ein Schriftstück setzen, ohne zu wissen, welchen Zwecken es dient und was für Folgen daraus entstehen können. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Unterschriften unter ein unverantwortliches Schrift­stück sich auf die Beziehungen zwischen Kirche und Staat auswirken und zu Mißstimmungen führen. Solche Vorkommnisse gereichen der Kirche nicht zum Vorteil..."

Wie die Priester auf den Brief reagierten:

Dieser Brief mußte am 30.April 1972, einem Sonntag, von allen Kanzeln statt derPredigt verlesen werden.

Den Priestern war von vornherein klar, daß dieser Brief auf Anweisung der Regierung verfaßt worden war, weil die Bischöfe über die Unterschriften­sammelaktion von authentischer Seite keine Informationen erhalten hatten, vor allem jedoch deshalb, weil die Hauptanschuldigungen dieses sogenannten „Hirtenbriefes" über die Durchführung der Unterschriftensammlung eindeutig falsch waren. Unter den Priestern entspann sich eine Diskussion, was zu tun sei, ob man den Brief verlesen solle oder lieber nicht.

Viele Priester erhielten deshalb folgendes Schreiben:

„Verehrter Priester,

für die katholische Kirche Litauen und die Priesterschaft sind Tage der Prüfung angebrochen. Es wird von den Priestern verlangt, am 30. April einen Brief zu verlesen, der Bischöfe, Priester und Gläubige kompromittieren soll. Hierzu ist zu bemerken:

1.         Am 11. April wurden die Ordinarien von Rugienis sowie einem Moskauer Vertreter des Rates für religiöse Angelegenheiten gezwungen, diesen be­dauernswerten Brief zu unterzeichnen.

2.         Dieser Brief stellt unwahre Behauptungen auf, da die 17.000 Gläubige ihre Unterschrift nicht auf ein leeres Blatt Papier gesetzt haben, sondern unter einen in der ganzen Welt bekannten Text.

3.         Dieser Brief beleidigt und kompromittiert die besten Söhne und Töchter der litauischen katholischen Kirche, die den Mut hatten, dieses Memoran­dum zu unterzeichnen.

4.         Dieser Brief stellt weiter eine nicht wiedergutzumachende Blamage für die Ordinarien dar.

5.         Die Priester sind gegenüber dem Bischof lediglich im Rahmen des Codex Iuris Canonici zum Gehorsam verpflichtet. Niemand kann einen Priester dazu zwingen, eine Schmähschrift zu verlesen.

6.         Priester, die ein Gewissen haben, werden diesen Brief nicht verlesen, auch auf die Gefahr hin, sich dadurch Repressalien jedweder Art auszusetzen.

Priester, wir appelieren an Eure Priestergewissen! Als Gesandte des Allerhöch­sten, in dessen Namen wir die Wahrheit verkünden, beugt Euch nicht vor Lüge und Zwang, verratet nicht für ein Linsengericht die Sache des Volkes und der Kirche!"

An besagtem Sonntag wurden aus den Kreisverwaltungen bestimmte Personen in die Kirchen geschickt, um zu kontrollieren, ob die Priester der Verlesung des Briefes nachkamen oder nicht.

Wie die Regierungsagenten sich dieses Briefes bedienten:

Die Atheisten nutzten den „Hirtenbrief" vom 11. April zu Propagandazwecken. So wurde noch vor dem 30. April in Panemunė von Regierungsvertretern den Eltern in einer Elternversammlung der Mittelschule vorgehalten, daß die Leute ihre Unterschrift unter verschiedene Schriftstücke gesetzt hätten, ohne zu wissen, weshalb. Zur Verstärkung dieses Vorwurfs las einer der Vertreter einige Stellen aus dem bischöflichen Briefe mit den Worten vor: „Hört, was hierzu eure Bischöfe sagen, wenn ihr schon mir keinen Glauben schenkt."

Der Gesamtinhalt des Briefes wurde nur von einer geringen Anzahl der Priester verlesen: einige taten dies, weil sie die Umstände nicht richtig einschätzten, andere aus Opportunismus gegenüber der Regierung. Ein Teil der Priester las unter Auslassung der eingestreuten Lügen nur die kirchlichen Stellen des Briefes vor. Andere wiederum hielten ihre Predigt an jenem Sonntag wie gewohnt.

Nach dem 30. April unternahm das KGB Schritte, um zu genaueren Informa­tionen über die Verlesung des Briefes zu gelangen, wofür es auch die Dienste ihm ergebener Priester in Anspruch nahm.

Ungeachtet des Umstands, daß der Hirtenbrief verspätet verschickt wurde — manche Priester erhielten ihn erst einige Tage vor dem 30. April, so daß keine Zeit mehr zu Rücksprachen vorhanden war — wurde diese Prüfung doch recht gut bestanden. Die Regierungsorgane mußten einsehen, daß sich die Mehrheit der Priester in Litauen nicht vor den Regierungskarren spannen läßt.

EREIGNISSE IN KLAIPĖDA

Der Kirchenbau und sein Schicksal

Gegen Kriegsende 1945 wurde, wie von Ortsansässigen bezeugt werden kann, die katholische Kirche von Klaipėda (Memel), ein Ziegelbau, von der Wehrmacht vermint und gesprengt.

Nach dem Kriege stieg die Zahl der Litauer in Klaipėda rasch an. Heute leben in Klaipėda 85.000 Litauer und 43.000 Russen (nach Angaben der Volkszählung von 1970). Die Mehrheit der Katholiken ist gläubig. So nahmen im Jahre 1972 allein an der hl. Kommunion in der vorösterlichen Fastenzeit etwa 8.000 Personen teil.

Der Bau der Kirche wurde zu Zeiten Malenkovs genehmigt:

Nach dem Kriege genehmigte die Sowjetregierung den Katholiken die Nutzung eines kleinen Kirchleins einer ehemals hier ansässigen deutschen Sekte in der Turmstraße. Während der Gottesdienste war das Kirchlein so berstend voll, daß die Leute im Gedränge in Ohnmacht fielen. Die Katholiken beantragten daher die Genehmigung zum Bau einer größeren Kirche.

1954 erhielt der Pfarrer von Klaipéda — der jetzige Bischof Povilonis — die Er­laubnis zum Bau einer neuen Kirche. Damals war Malenkov Regierungschef der Sowjetunion; die Verfolgung der Gläubigen war etwas zurückgegangen. Die Gläubigen wurden aufgefordert, an den Bemühungen zur Sicherheit des Frie­dens in der Welt teilzunehmen. Ohne Zweifel, wurde die Genehmigung zum Bau der Klaipėdaer Kirche vor allem aus propagandistischen Gründen erteilt, da viele ausländische Seeleute hierher kommen.

Die Regierungsvertreter sagten damals: „Baut die Kirche so, daß ihre Türme sogar vom Meere aus gesehen werden können."

Obwohl damals in dem vom Kriege zerstörten Klaipéda Baumaterial äußerst rar war, durfte für den Bau der Kirche solches aus den staatlichen Fonds entnom­men werden. Nichts spricht dafür, daß die Regierung schon damals den Vorsatz hatte, die Kirche nach Fertigstellung für profane Zwecke zu nutzen.

Am 30. Juni 1957 wurden vom Verwalter der Diözese Telšiai, Bischof P. Maželis, die Grundmauern der neuen Klaipédaer katholischen Kirche eingesegnet, wobei in das Fundament eine Urkunde folgenden Wortlautes eingeschlossen wurde: „Unter dem mütterlichen Schutze Marias bauen die Katholiken von Klaipéda und von ganz Litauen mit ihren Opfergaben diese der Friedenskönigin gewid­mete Kirche in Klaipéda, deren Fundamente am 30. Juni S. Exz. der Bistumsver­walter von Telšiai, Bischof Petras Maželis, eingesegnet hat."

„Wir bauen diese Kirche zu Ehren der Friedenskönigin", erklärte in seinem Auf­ruf an die litauischen Katholiken der Kirchenausschuß der katholischen Pfarr­gemeinde von Klaipéda, „damit wollen wir hervorheben, daß wir nie mehr am Ostsee-Strande Kriegsbrände und Zerstörungen erleben möchten."

In ganz Litauen wurde für den Kirchenbau gespendet. Die Katholiken von Klai-peda freuten sich und beteiligten sich voll Enthusiasmus am Bau ihrer Kirche. Der zugeteilte Bauplatz befand sich auf einem stark sumpfigen Gelände, doch die Leute hatten innerhalb einiger Wochen den Morast aufgeschüttet, wobei sie die Erde mit Handkarren und sogar Taschen herbeischleppten. Nach ihrer Tagesarbeit eilten die Gläubigen zu freiwilligen Hilfeleistungen beim Bau und werkten dort bis in die Nacht. LKW-Fahrer schafften in ihrer Freizeit das nötige Material für den Kirchenbau heran. Die Ziegelsteine holten sie aus den Stadt­ruinen. Sogar die Verkehrspolizisten drückten ein Auge zu, wenn sie Fahrer mit ihren Lastern beim Kirchenbau entdeckten. Ja, selbst Beamte kamen den Gläu­bigen zu Hilfe. So mancher Helfer konnte bislang keineswegs zu den eifrigen Kirchgängern gezählt werden.

Die Gläubigen hatten für den Bau dieser Kirche ca. drei Millionen Rubel auf­gebracht. Keineswegs begüterte Katholiken opferten mit Freuden ihre Erspar­nisse für die Errichtung der Kirche. Ein Arbeiter übergab eine größere Summe mit den Worten: „Zusammen mit den Ziegeln soll auch mein Herz in die Kirchenwände eingemauert werden." Die Spende entsprach einem Monatslohn dieses Mannes, der zudem eine große Familie zu ernähren hatte, wie sich später herausstellte. Es wurde üblich, wenn man etwas, verkauft hatte, einen Teil des Geldes für den Kirchenbau zu spenden.

Zu Chruscovs Zeiten wurde die Kirche kofisziert:

Im Sommer 1960 war der Bau der Kirche fertiggestellt, und die Feierlichkeiten zur Einsegnung sollten zu Maria Himmelfahrt stattfinden. Da fiel die Kirche zum zweiten Male einer „Sprengung" zum Opfer, die der von Hitlers Gefolgs­leuten verübten in nichts nachstand. Als sich die Gläubigen zu der Kirchenein­weihung versammelten, fanden sie das Kirchenportal mit Brettern vernagelt.

„Die Regierung hat die Eröffnung der Kirche nicht genehmigt!" — „Die Atheisten nehmen uns die Kirche fort!" hieß es. Die Ausrufe wurden von Mund zu Mund weitergegeben und verursachten große Betrübnis. Die Gemeinde der Gläubigen fühlte sich zu Boden getreten und grausam hintergangen.

Weshalb geschah die Schließung der Kirche?

Aus Parteikreisen machte folgende Version die Runde: Als Nikita Chruščov vom Bau der Kirche von Klaipėda erfuhr, soll er wütend geschrien haben: „Ich verbiete die Eröffnung!" Das Verbot wurde an die Sowjetregierung Litauens weitergeleitet, und die Kircheneröffnung wurde gestoppt.

Zur Schließung der Kirche haben zweifellos auch die nach Moskau gelangten Beschwerden der Atheisten beigetragen, die um den Einfluß ihrer atheistischen Propaganda bangten.

Die Atheisten rechneten ganz brutal mit der Kirche ab. Der Kirchturm wurde von Soldaten zu nächtlicher Stunde mit Raupenschleppern niedergewalzt. Die teuren Gibsabgüsse des Leidensweges Christi wurden zerschmettert und in den Schmutz geworfen. Tränen waren die einzige Waffe, die die Gemeindemitglieder der Willkür von Militär und Miliz entgegenzusetzen hatten. Die Milizionäre machten Jagd auf die Gläubigen und sperrten sie ein. Manche wurden mit Last­autos 40 bis 50 Kilometer außerhalb der Stadt gebracht, von wo sie unter dem Hohngelächter der Ordnungshüter zu Fuß den Heimweg antreten mußten. Eine derartige Behandlung der Kirche und der Gläubigen wäre in einem die Men­schenrechte auch nur einigermaßen achtenden Staate völlig undenkbar. Die Gläubigen, mit deren Opferbereitschaft und Schweißperlen die Kirche errichtet worden war, empfanden das als eine unsagbare Kränkung.

„Hier kam das wahre Gesicht der gottlosen Regierung richtig zum Vorschein," sprachen die Leute untereinander mit Tränen in den Augen.

„Das sollte man an höherer Stelle melden..."

„Es gibt keine Stelle, die sich der Sache der Religiösen annimmt. Wir stehen außerhalb des Gesetzes, da nützen keine Beschwerden an noch so hoher Stelle!"

Aus Furcht vor Aufruhr seitens der Gläubigen hatte die Regierung an die 200 Milizionäre nach Klaipėda beordert. Zu Beginn des Jahres 1961 wurden die Klaipėdaer Priester Povilonis und Burneikis festgenommen und zu Gefängnis­strafen verurteilt. Priester Talaišis wurde aus Klaipėda verbannt. Zur Zeit be­findet sich in der neuen Kirche die Volks-Philharmonie. Anfangs weigerte sich die gläubige Stadtbevölkerung, Litauer wie Russen, die dort gebotenen Konzerte zu besuchen. Manchmal saßen vor 50 auf der Bühne Agierenden lediglich fünf Zuschauer im Saale. Die Russen pflegten zu sagen: „Wir gehen in keine Kirche..."

Inzwischen müssen die Katholiken auch weiterhin mit dem viel zu engen Kirch­lein fürlieb nehmen. Ohnmächtige, die an Sonn- und Feiertagen während der Gottesdienste aus dem Kirchlein nach draußen gebracht werden müssen, sind zum gewohnten Anblick geworden. Als die Katholiken nun am Jahresanfang die nachdrücklichen Beteuerungen der Atheisten hörten, daß die Rechte der Gläu­bigen nicht beschnitten würden, daß man die Überzeugung eines jeden achten müsse, reifte in ihnen der Entschluß, sich mit einer Petition um Rückgabe der Kirche an die Regierung der Sowjetunion zu wenden. Im Laufe einiger Monate wurde ganz behutsam eine Unterschriftensammlung gestartet, die jedoch wegen Verfolgung durch das KGB abgebrochen werden mußte.