Am 2. Februar 1977 konnten wir in der Tiesa (Die Wahrheit) die Antwort des Schriftstellers J. Baltušis an den ausländischen Korrespondenten des Figaro unter der Überschrift „Ein Zerrspiegel" lesen.

In Unkenntnis des Figaro-Artikels ist es schwierig, seinen Wahrheitsgehalt zu beurteilen. Man muß jedoch davon ausgehen, daß sich der Korrespondent bei einem nur kurzen Aufenthalt in Litauen kaum ein vollständiges Bild von unserem Land machen konnte.

Der Artikel von J. Baltušis, indes, setzt uns in Staunen. Baltušis ist ein ta­lentierter, von der breiten Öffentlichkeit anerkannter Schriftsteller. Viele Seiten unserer noch nicht fernen Vergangenheit hat er trefflich zu schildern gewußt. Mit offenen Augen durchreiste er Amerika, wo er, im Gegensatz zu so manchem anderen unserer Schriftsteller, nicht nur die Schattenseiten, sondern auch die „Rosengärten" erblickte.

Doch dieser Artikel, der sich mit den verschiedensten Bereichen des Lebens in Litauen - mit Wirtschaft, Kultur, Politik, Geschichte, Religion - ausein­andersetzt, geriet ihm zu einem Zerrspiegel. Das wird u. a. augenscheinlich, wenn man die den religiösen Aspekten gewidmeten Zeilen liest. J. Baltušis ist über den Korrespondenten desFigaro erzürnt, weil dieser schrieb: „Das sowjetische Regime engt die Religion stark ein (Kirchen, Prie­sterseminare, Klöster werden geschlossen); wer eine gute Arbeit hat, der darf öffentlich seinen Glauben nicht praktizieren". Weshalb macht Sie das so zor­nig, verehrter Schriftsteller, entspricht denn das nicht vollkommen den bei uns herrschenden Tatsachen?

Oder sollte unserem verehrten Schriftsteller entgangen sein, daß, sagen wir, in einer Stadt wie Vilnius von einigen Dutzend Kirchen nur wenige geöffnet sind? Und weshalb sind die übrigen geschlossen? Haben sie sich von alleine zugemacht? Es gab einen Erlaß aus dem Jahre 1948, gemäß dessen in Litauen viele Kirchen schließen mußten; nicht nur die Kirchen, auch alle Klöster wurden damals geschlossen.

J. Baltušis weiß zu berichten, daß: „das in Kaunas befindliche Priestersemi­nar auch heute noch besteht, wie eh und je". Doch in welcher Verfassung be­steht es denn? Das ehemalige Gebäude ist ihm fortgenommen, die jetzigen Räume sind menschenunwürdig, die Zahl der Studierenden ist begrenzt, die Kirchenobrigkeit darf weder die Wahl der Seminarlehrer noch die der Zög­linge selbständig treffen. Bei dieser Gelegenheit richten wir an J. Baltušis die Frage, ob er weiß, daß es früher auch noch Priesterseminare in Vilnius, Vilka­viškis und Telšiai gegeben hat? Wo sind die denn geblieben? Weiß Baltušis, was für Passionswege derjenige zu durchschreiten hat, der Priester werden will? Ist denn das keine Einschränkung des Glaubens? Vor ungefähr 20 Jahren gab es noch kein Gesetz, das eine Strafe für die Unterrichtung der Kinder in Religion vorsah. Jetzt ist ein solches Gesetz in Kraft. Ist denn das keine Religionseinschränkung?

In unserer Presse war vor Jahren zu lesen, daß neue Städte (Elektrėnai, Ak­menė) entstehen und daß niemand der Neubürger sich eine Kirche wünsche. Auch J. Baltušis wird es nicht verborgen geblieben sein, daß solche Wünsche bei uns höchst unerwünscht sind. Im Jahre 1955 haben die in Workuta be­findlichen Litauer in einem offiziellen Schreiben an den Ministerrat der Komi Autonomen Republik um die Erlaubnis zum Bau eines Kirchleins nachge­sucht. Für eine solche „Selbstbetätigung" wurden die Unterzeichner ganz übel von einem aus dem Zentrum angereisten Vertreter zurechtgewiesen und Priester A. Šeškevičius wurde, obgleich er keine Unterschrift unter dieses Schriftstück geleistet hatte, wieder hinter Stacheldraht gesetzt. Um das Jahr 1968 oder 1969 gab es in einigen Arbeitslagern des Uralgebietes eine Amnestie. Viele Kriminelle erhielten damals ihre Freiheit zurück; die Amnestie mußte auch für Priester A. Šeškevičius gelten, doch er durfte den Stacheldrahtverhau nicht verlassen. Einmal kam in die von ihm betreute Sek­tion der Lagerkommandant, er lobte die dort herrschende Ordnung und Sauberkeit, doch einem anderen gegenüber äußerte er: „wenn er sich nur nicht so oft bekreuzigen und weniger beten würde, dann wäre er in Ord­nung . . .". Für die Frommen gilt keine Amnestie. Der betende Mensch ist unerwünscht. . .

Priester P. Lygaugaris fragte während seiner einige Jahre dauernden Haftzeit im Irkutsker Gebiet die Sicherheitsbediensteten: „Weshalb dürfen sich denn in Litauen Priester frei betätigen?" Darauf erhielt er die Antwort: „Das ist auch dort nur befristet erlaubt. Mit der Zeit wird es dort auch so sein wie hier".

So hat sich doch wohl der Korrespondent des Figaro nicht sehr weit von der Wahrheit entfernt, wenn er schreibt: „Das Sowjetregime schränkt die Reli­gion weitgehend ein"!

J. Baltušis schreibt: „Die Kirchentüren sind jedem Gläubigen geöffnet". Das ist nur eine Halbwahrheit.

Möge doch der verehrte Schriftsteller erklären, weshalb die kirchlichen Dienstleistungen zum größten Teil in aller Heimlichkeit erfolgen und mit der Bitte, in die Kirchenbücher Taufen oder Vermählungen nicht einzutragen?

Weshalb muß der Priester manchmal Dutzende von Kilometern zu einem Krankenbesuch oder zu einer Kindstaufe zurücklegen, und das stets nachts, obwohl es auch näher zu erreichende Priester gibt? Weshalb geht ein Teil der Gläubigen nicht in die am Ort gelegene Kirche, sondern in eine entfernte, schwieriger zu erreichende? Wieso kommt es vor, daß die Angehörigen eines Verstorbenen in der Nacht vor der Beerdigung in der Kirche die Sakramente empfangen, jedoch nicht während der Begräbnisfeierlichkeiten? Weshalb ste­hen die heimlich ihren Glauben praktizierenden Angehörigen eines Verstor­benen während des Totengottesdienstes draußen vorm Kirchentor und ge­trauen sich nicht einmal den Friedhof zu betreten, während der Priester die Begräbniszeremonien zelebriert? Es fehlt ihnen dazu der Mut in dem „Land der Freiheit" . . . Einen solchen Mut bringen lediglich Kolchosbauern und Arbeiter und ganz besonders beherzte Intellektuelle auf. Derart ist unsere „Freiheit" beschaffen. Das ist zweifelsohne auch dem Ge­nossen J. Baltušis bekannt. Als einige seiner federführenden Kollegen, wie z. B. der Schriftsteller Kazys Boruta, sein Literaturlehrer, in die Ungnade der Regierung fielen und für einige Jahre auf den „Archipel Gulag verreist" wa­ren, hat sie unser so hochverehrter Humanist J. Baltušis überhaupt nicht mehr gekannt. Nur später, als das Regime gelockert wurde, brachte er den Mut auf, sich von seinen einstigen Freunden nicht mehr abzuwenden, wenn er sie traf.

J. Baltušis schreibt von dem einmütigen Willen unseres Volkes, dem Freund­schaftsbund der sowjetischen Völker beizutreten. Die Frage sei hierbei er­laubt, weshalb denn dann ein so großer Teil unseres Volkes geopfert werden mußte, durch Verbannung in die sibirischen Weiten und Einpferchung in „Archipel Gulag"? Weshalb mußten denn dann von den sowjetischen Orga­nen derart grausige Exekutionen vorgenommen werden? Neulich stand in der Presse Komjaunimo tiesa (Die Wahrheit des Komso­mol), 1977, Nr. 51, daß ein tüchtiger Schiedsrichter indirekt beschuldigt wurde, während eines Fußballspiels nicht nüchtern gewesen zu sein. Man untersuchte seinen Blutspiegel im Krankenhaus und der bösartige Vorwurf mußte fallengelassen werden. Die Ehre dieses Menschen wurde durch die öffentliche Bekanntgabe in der Presse wieder hergestellt. Leider kommt ein Priester niemals in den Genuß eines derartigen Privilegs, nicht nur, wenn er von einfachen Bürgern angegriffen wird, sondern auch dann nicht, wenn er von Regierungs-Amtsträgern fälschlich der Trunkenheit am Steuer beschul­digt wird, um ihm seinen Führerschein abzunehmen. Ihm ist es nicht gestattet, eine medizinische Expertise einzuholen. Versagt ist ihm die Möglichkeit der Rechtfertigung bei einer höheren Instanz und sein guter Leumund wird durch keine Zeitung wiederhergestellt. So geschehen mit Priester J. Zdebskis 1976. Der Stempel eines „Zerrspiegels" tritt bei Baltušis nicht nur in diesem Arti­kel, sondern auch in seinem literarischen Werk hervor. Hier wirkt sein „Vor­urteil", das er dem ausländischen Journalisten vorwirft, oft übelerregend. So schreibt er in Womit das Salz gegessen wurde (II, S. 47) über die „pavasari­ninkai" (Verbandsmitglieder der Organisation „Frühlingsleute"): „sie hatten schiefe Schultern und rot angelaufene Nasenspitzen . . .". Man geniert sich das Zitat fortzusetzen. Zur damaligen Zeit waren die „pavasarininkai" die größte Massenbewegung der Dorfjugend - mit 90000 Mitgliedern in ihren Reihen (Kleine sowj.-litauische Enzyklopädie, II, 811). In Wirklichkeit gab es dort kaum „Rotnasige", bestimmt unvergleichlich viel weniger als heutzu­tage.

Unsere ältere Dorfgeneration, die viele schmerzliche Schicksalsschläge zu er­tragen hatte, die sich jetzt ehrbar auf den Kolchosfeldern abrackert und in ihren Herzen eine vornehme Gesinnung bewahrt hat, stammt aus den damali­gen Reihen der „pavasarininkai". Es tut weh, daß diese Menschen von J. Bal­tušis derart mit Dreck beworfen werden. Was hat die Feder von J. Baltušis zu so einem Anwurf bewogen? Wurde er tendenziös von seinem Gefühl, ohne seinen Verstand zu befragen, übermannt oder ist das eine ganz bewußt vorge­nommene Schwarzzeichnung, die in der Sprache des Volkes ganz schlicht Verleumdung genannt wird? Der Dichter Gamsatow hat einmal bemerkt: „Wer in die Vergangenheit mit einer Pistole schießt, dem wird die Zukunft mit einer Geschützsalve antworten . . .".

Der Artikel von J. Baltušis hinterläßt ein bedrückendes Gefühl und er wirft die Frage auf, wessen Spiegel die Wirklichkeit mehr verzerrt, den des Figaro-Korrespondenten oder den des Verfassers des „Verkauften Sommer"? Ein Jammer, daß das Talent nicht immer auf einem stolzen Roß daherreitet, manchmal hockt es auch auf einem von Lügenkleppern gezogenen Schlitten . . . Schlimmer als der damals „Verkauften Sommer" (der Hütejun­gen und Knechte, Ubers.) ist ein „verkauftes Gewissen"!