Bei flüchtiger Beobachtung könnte der Eindruck entstehen, daß durch die Katholische Kirche Litauens ein frischer Wind wehe. So ermahnte ein Ver­treter des Rates für religiöse Angelegenheiten, P. Makarcev, die litauischen Parteifunktionäre, sich etwas manierlicher Priestern gegenüber zu benehmen. Bei seiner Abreise nach Moskau soll er sich sogar für eine Milderung der Re­gierungspolitik gegenüber der Kirche geäußert haben.

In Šiauliai durften die Glocken der Peter- und Paul-Kirche nach einer 20jäh-rigen Pause das Osterfest einläuten. Ende Januar 1977, zur Jubiläumsfeier des Gottesdieners, Erzbischofs Jurgis Matulevičius, zelebrierte der seines Amtes verwiesene Bischof von Kaišiadorys, V. Sladkevičius, den Haupt­gottesdienst. Noch vor wenigen Jahren durfte aus ähnlichem Anlaß die hl. Messe in der Sakristei der Mariampoler Kirche lediglich von den örtlich zuge­lassenen Priestern zelebriert werden. Was hat das alles zu bedeuten?!

Für die vielerorts in aller Öffentlichkeit vorgenommene Katechisierung der Kinder werden von den Regierungsstellen lediglich Geldbußen auferlegt. Über Gerichtsverfahren, wie die gegen die Priester Šeškevičius, Zdebskis und Bubnys, braucht man heute nichts mehr zu berichten; derartige Vorkomm­nisse sind z. Zt. recht unwahrscheinlich. Was steckt dahinter?!

Ist es möglich, daß die Sowjetregierung endlich bereit ist, das, was schwarz auf weiß in der Verfassung der Sowjetunion und in ihrer Gesetzesgebung ver­ankert ist, das, wozu sie sich kraft ihrer Unterschrift unter internationale Ab­kommen, wie die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte und die KSZE-Schlußakte von Helsinki, verpflichtet hat, und das, was sie seit 30 Jahren lauthals verkündet, ohne sich daran zu halten, in die Tat umzusetzen? Sollte dies die Einstellung von sogenannten „unzeitgemäßen Maßnahmen" sein, weil diese allzusehr den Unmut der gläubigen Massen erregt haben? Oder kann man dies eventuell auch als bescheidenen Sieg des Kampfes für die Menschenrechte in Litauen, in der Gesamtsowjetunion, in der ganzen Welt verbuchen? Bekanntlich hat die Sowjetunion durch ihr plumpes admini­stratives Vorgehen weltweit an Ansehen eingebüßt und dadurch der von ihr vertretenen Außenpolitik geschadet.

Oder handelt es sich um nichts weiter, als eine der üblichen vorsätzlichen Täuschungen der Sowjetobrigkeit, anläßlich der bevorstehenden Belgrader Konferenz der Europäischen Staaten, die eine Überprüfung der Einhaltung der Helsinkier Beschlüsse beinhaltet? Die nahe Zukunft wird es an den Tag bringen. Jedoch bereits heute steht fest, daß die Sowjetregierung kein gut­williges Entgegenkommen zeigt und die Verminderung der Kirchenverfol­gung nur als ein taktisches Manöver der Kommunistischen Partei (KP) zu werten ist. Falls sich die mit der Sowjetunion auf wirtschaftlicher Basis ver­kehrenden Staaten stärker für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen würden, dem Beispiel des Präsidenten der USA, J. Carter, folgend, und die Weltöffentlichkeit durch die Massenmedien ständig auf die Verletzung der Menschenrechte in der Sowjetunion hingewiesen würde, könnte sich die als bewußte Täuschung seitens der KP inszenierte Abschwächung der Verfol­gung der Gläubigen noch über einen längeren Zeitraum hinziehen.

Dafür, daß es der Sowjetregierung an Aufrichtigkeit mangelt, gibt es genü­gend Beweise. Seit mehr als dreißig Jahren wird von den atheistischen Füh­rungskräften die Verfolgung der Gläubigen und der Geistlichkeit, gestützt auf vor der Öffentlichkeit geheimgehaltenen Instruktionen, betrieben. Am 28. Juli 1976 wurden diese Geheiminstruktionen vom Präsidium des Ober­sten Sowjets der Litauischen SSR zum Gesetz erhoben. Die Rechte der Gläu­bigen werden in diesem Erlaß auf geradezu drakonische Weise eingeschränkt. Es ist nur ein schwacher Trost, daß dieser erwähnte Präsidiumserlaß lediglich auf dem Papier besteht. Jeden Tag muß mit seiner strengen Anwendung ge­rechnet werden. So instruierte am 19. Januar 1977 der Stellvertretende Vor­sitzende des Rates für religiöse Angelegenheiten, P. Makarcev, die Partei­funktionäre über Maßnahmen zur Verbesserung der atheistischen Propagan­da und zur Kontrollverstärkung über die Gesetze für religiöse Kulte.

Den Katholiken wird hin und wieder von der sowjetischen Regierung die Ge­nehmigung zum Druck von Gebetsbüchern erteilt, da anderenfalls diese im

Untergrund hergestellt würden. In der Nachkriegszeit wurden insgeheim Hunderttausende von Gebetbüchern angefertigt.

Die Katholiken dürfen auch einige wenige Bücher religiösen Inhalts drucken lassen, doch in so geringer Auflage, daß sie die gläubige Gemeinde kaum er­reichen können oder es handelt sich um Spezialbücher für Priester, wie z. B. um ein Zeremonienbuch oder um eine Abhandlung über die Beschlüsse des 2. Vatikanischen Konzils u. d. m. Die Regierung erlaubte den litauischen Ka­tholiken, ein Geschenk des Hl. Vaters, lateinische Breviere und Meßbücher, anzunehmen. Die sowjetischen Führungskräfte verstehen nur zu gut, daß von diesen Büchern keine Gefahr ausgeht, da die lateinischen Texte eine durch­greifende Reform der hl. Messe unmöglich machen und sich deswegen den Gläubigen die volle Bedeutung der Opferhandlung in der hl. Messe ver­schließt. Zweifelsohne war der atheistischen Propaganda „der aus dem Vati­kan gesandte Waggon mit religiöser Literatur" nur dienlich. Andererseits darf man in Litauen Bücher religiösen Inhalts, die den gläubigen Katholiken mit den Grundglaubensbekenntnissen vertraut machen, nicht drucken. So ist es zum Beispiel der Katholischen Kirchenführung in Litauen während der 30 Nachkriegsjahre nicht gelungen, die Sowjetobrigkeit zur Ge­nehmigung des Drucks eines Katechismus zu bewegen. Der Katechismus ist in den Augen der sowjetischen Führung eine überaus gefährliche Lektüre, insb. für Kinder und Schüler, die ja über Glaubensdinge nichts erfahren sollen.

Die Sowjetregierung gestattete eine höhere Eintrittsquote in das Priester­seminar. Zur gleichen Zeit steigerte sie auch den seelischen Druck auf die Se­minarzöglinge. Die Bemühungen des KGB, Kleriker zu Schnüffeldiensten und Verrat anzuwerben, beweisen zur Genüge die „Gutwilligkeit" der Sowjet obrigkeit, die unter dem Motto steht: Sei Priester, doch hilf den Atheisten bei der Zerstörung der Kirche! Man kann sich nicht genug darüber wundern und der göttlichen Vorsehung danken, daß ungeachtet dieser schrecklichen Wühl­arbeit seitens des KGB dennoch zur Freude der gläubigen Gemeinde aus dem Seminar noch viele gute Priester hervorgehen. Es wird einmal die Zeit kom­men, zu der die litauischen Priester in ihren Erinnerungen auch darüber be­richten werden, wieviel Willensstärke dazu gehört hat, den Werbungen des KGB zu trotzen und nicht zu Totengräbern an Volk und Kirche zu werden. Durch die Milderung der Kirchenverfolgung ist die atheistische Regierung je­doch nicht betroffen. Das liegt einmal daran, daß Priester und Gläubige durch die lange Zeit der Beschränkungen nun nicht mehr in der Lage sind, die jetzige Situation zu erfassen. Deshalb unternehmen sie keine Schritte, um die verlorenen Positionen, wie die öffentliche Katechisierung der Kinder, das Glockenläuten, die vorweihnachtlichen Priesterbesuche bei den Gemeinde­mitgliedern, das Heranziehen Jugendlicher zum aktiven Mittun bei kirchli­chen Handlungen usw. zurückzuerobern. Noch immer gibt es Priester in Li­tauen, die sich nicht trauen, Kinder den Meßdienst versehen zu lassen, ihnen die Teilnahme an Prozessionen zu gestatten, so geschehen in Kaunas an der St. Anton-Kirche, an den Kirchen von Šiauliai und anderswo. So mancher Priester verständigt die Rayonobrigkeit über stattfindende Ablaßfeste, bittet sie um Gestattung zur Zusammenkunft von mehreren ortsfremden Priestern zur Abhaltung von Einkehrtagen und Exerzitien. Andere Priester bemühen sich nicht einmal, die von der atheistischen Regierung genehmigten Pastora­tionsmittel zu nutzen. Zum Beispiel findet an der Kaunaer Auferstehungs­kirche während des von vielen Gläubigen besuchten Gottesdienstes an Sonn­tagabenden keine Predigt statt. Es gibt Pfarrer, die bei Begräbnissen keine Predigt halten und dies auch ihren Vikaren nicht erlauben. Die Diözese­kurien kümmern sich kaum um solche Vorfälle und rufen die Nachlässigen nicht zur Ordnung auf.

Die Mehrzahl der Gläubigen, insb. die Intellektuellen, sind noch bis zum heu­tigen Tag von der Furcht gelähmt, öffentlich ihren Glauben zu praktizieren, ernsthaft ihre Kinder im katholischen Geiste zu erziehen und vor Lüge und Zwang nicht zu kuschen.

Es besteht kein Zweifel, daß der „gute Wille" der Sowjetregierung im Nu verflogen wäre, wenn Priester und Gläubige an eine Reaktivierung des reli­giösen Lebens dächten. Dort, wo in den Kirchengemeinden die Schülerschaft wieder aktiver am Kirchgang teilnimmt, folgen sofort diverse Repressalien. In der gegenwärtigen Lage der katholischen Kirche Litauens fordern wir alle Priester und die Gläubigen dazu auf, sich von der Angst freizumachen und für sich das Recht zu erkämpfen, in Freiheit glauben und leben zu dürfen. Wir danken unseren Brüdern in der Fremde für ihre aktiven Bemühungen, der verfolgten litauischen Kirche zu Hilfe zu kommen. Vor allem danken wir denjenigen jungen Litauern, über deren Bemühungen, ihren Landsleuten in der Heimat zu helfen, wir des öfteren durch den Rundfunk erfahren haben. Wir bitten die Obrigkeiten aller Länder, dem Beispiel des Präsidenten der Vereinigten Staaten, J. Carter, zu folgen und die Obrigkeit der Sowjetunion ständig daran zu erinnern, die Rechte ihrer Bürger zu respektieren. Ganz besonders legen wir unseren ausgewanderten Brüdern und allen Freun­den des litauischen Volkes in der freien Welt ans Herz, während der Belgra­der Konferenz und bei anderen Gelegenheiten, die Verletzungen der Men­schenrechte in Litauen, unter Verwendung der in der „Chronik der LKK" unterbreiteten Tatsachen, anzuprangern.

Wahrheit, Freiheit und Menschlichkeit müssen den Sieg davontragen!

Die Redaktion der „Chronik der