Am 24. und 25. November 1980 untersuchte das Höchste Gericht der Litauischen SSR in Vilnius die Prozeßakte der Genovaitė Navickaitė und Ona Vitkauskaitė wegen der Vervielfältigung und Verbreitung der »Chronik der LKK«. Über die bevorstehende Gerichtsverhandlung wurden selbst die engsten Verwand­ten nicht informiert. Das erfuhr man von den Zeugen, die eine Vorladung zu die­ser Verhandlung bekommen hatten. Der Eingang des Gerichtssaals wurde von KGB-Mitarbeitern bewacht, und außer den engsten Verwandten ließen sie nie­manden in den Saal. Der Saal war von KGB-Mitarbeitern und von »Praktikan­ten«, wie es die KGB-Bediensteten zu sagen pflegen, voll besetzt. Bronė Vitkaus­kaitė mußte an diesem Tag arbeiten, um der Gerichtsverhandlung ihrer Schwester nicht beiwohnen zu können.

Um 10.00 Uhr werden die Angeklagten, von Soldaten begleitet, in den Saal ge­führt. Sie werden ganz plötzlich von zwei Zeuginnen — Teresė Petrikienė und Ge­nutė Mačenskaitė — mit folgenden Worten begrüßt: »Grüße von allen, die für euch beten!« Die mutigen Frauen werden von den Soldaten grob fortgejagt. Der Richter stellt die Beteiligten des Gerichtes vor: Gerichtsvorsitzende — Repša, die Beisitzenden — Fr. Burokevičienė und Gudelevičius, der Staatsankläger — Kyrijenko.

Die Angeklagte G. Navickaitė verzichtet auf einen Verteidiger. Sie motiviert ihren Verzicht damit, daß wenn sie den Verteidiger bis zur Gerichtsverhandlung nicht zu sehen bekommen hätte, wäre er jetzt um so weniger notwendig, außerdem könnte er in solch einem Prozeß sowieso nichts ausrichten. Auch Ona Vitkauskai­tė verzichtete auf einen Verteidiger. Das Gericht billigt, daß die Anwälte nicht am Prozeß teilnehmen, sie verlassen den Saal.

Die Anklage wird verlesen. Den Angeklagten wird der Artikel 199, Absatz 1 des Strafgesetzbuches der Litauischen SSR zugrunde gelegt. Er beinhaltet die Ver­leumdung des Sowjetsystems. Sie hätten gegen diesen Artikel verstoßen, indem sie die »Chronik der LKK« vervielfältigt und verbreitet haben. O. Vitkauskaitė habe die »Chronik der LKK« Nr. 42 und G. Navickaitė die Nummern 40, 41 und 42 vervielfältigt. Die in der »Chronik der LKK« beschriebenen Fakten wären ver­leumderisch.

Als der Richter G. Navickaitė fragte, ob sie sich schuldig bekenne, antwortete sie, daß sie sich nicht schuldig gemacht hätte, denn die »Chronik der LKK« wäre eine Ausgabe religiösen Inhalts. Sie hätte die »Chronik« gedruckt, um die Kirche vor der Verfolgung zu beschützen.

Der Richter verliest einige Auszüge aus der »Chronik der LKK«, in denen der Molotow-Ribbentrop-Pakt wegen der Teilung des Baltikums, die Zwangseinglie­derung Litauens in die Sowjetunion, der Verschmähung der Leichen litauischer Patrioten in den Nachkriegsjahren und der Deportation unschuldiger Menschen nach Sibirien erwähnt wird. G. Navickaitė antwortet, sie wüßte aus Erzählungen vieler Leute, daß dieses tatsächlich stattgefunden habe. Der Richter verliest wieder einen Auszug, in dem es heißt, daß man in Moskau Pläne gegen die Kirche und ihre Vernichtung vorbereiten würde, er behauptet, dieses sei Verleumdung. Wie­der liest er, daß zwischen den Aufsehern im Lager Pravieniškiai und den Verbre­chern kein Unterschied bestehen würde. Sie würden sich nur durch die Uniform unterscheiden. Navickaitė antwortet, daß es tatsächlich so ist, denn die Aufseher wären den Inhaftierten gegenüber sehr grausam, grob und würden ständig flu­chen.

Der Richter befragt Navickaitė, woher sie die Schreibmaschinen bekommen habe. Die Angeklagte erklärt, daß sie eine der Schreibmaschinen von dem Priester Vir­gilijus Jaugelis erhalten habe (verstorben im Februar 1980 — Anmerkung der Red.), und die andere habe ihr ein Unbekannter verkauft, der ihr die Nummern 40, 41 und 42 gab, mit der Bitte, sie zu vervielfältigen.

Der Richter fragt, ob Navickaitė sich schuldig bekennen würde? Die Angeklagte bekennt sich nicht schuldig. Der Staatsanwalt bemüht sich ebenfalls zu beweisen, daß die »Chronik der LKK« nicht die Angelegenheiten der Kirche vertritt, son­dern in die Politik eingreift.

Weiter wird Ona Vitkauskaitė befragt. Der Richter fragt, zu welchem Zweck sie nach Bagota gefahren sei, wer ihr die »Chronik« gegeben und warum sie diese vervielfältigt habe usw. Die Angeklagte erklärt, daß sie die »Chronik der LKK« im Briefkasten vorgefunden hätte, die vervielfältigten Exemplare habe sie ihren Bekannten zu lesen gegeben. O. Vitkauskaitė bekannte sich ebenfalls für nicht schuldig.

Die Zeugenvernehmung:

Als erste wird Fr. Teresė Petrikienė befragt, bei der G. Navickaitė festgenommen wurde. Die Zeugin bekräftigte, daß G. Navickaitė bei ihr einen Tag vor der Fest­nahme getippt habe.

Die Zeugin Genovaitė Mačenskaitė unterzeichnete die Ermahnung nicht, in der über die Verantwortung falscher Zeugenaussagen aufgeklärt wird. Sie motivierte ihre Handlung: »Obwohl ich während der Haussuchung zu Hause war, durfte ich dieser nicht beiwohnen, und während des Verhörs wollte man das Protokoll ab­ändern. Deswegen bin ich zu dem Schluß gekommen, daß man den Sicherheitsbe­diensteten nicht vertrauen kann, daher unterschreibe ich auch das nicht.« »Vertrauen Sie dem Gericht nicht?« fragt der Richter. Die Befragte antwortet:

»Ich vertraue euch allen nicht. Ihr alle blast in dasselbe Horn!« G. Mačenskaitė bezeugte, daß sie zusammen mit Navickaitė gelernt und gearbei­tet habe. »Sie ist ein wundervoller Mensch und nur selten im Leben zu finden. Ge­wissenhaft — sie hat nie gelogen —, sie ist freundlich und herzlich. Solche Men­schen wie Genutė sind zu keinem Verbrechen fähig. Ich hoffe, das Gericht spricht sie frei.« Außerdem bestritt Mačenskaitė, daß Navickaitė ihr die »Chronik der LKK« überlassen habe.

Der Pfarrer der Gemeinde Bagota, Priester Vaclovas Degutis (in der Pfarrge­meinde Bagota wurde Ona Vitkauskaitė verhaftet — Anmerkung der Red.), be­zeugte, daß er Vitkauskaitė einmal gesehen habe — sie besuchte seine Haushälte­rin. Mehr könnte er nicht über sie berichten.

Die Haushälterin der Pfarrei Bagota, Janina Pileckytė, war bei der Gerichtsver­handlung nicht anwesend.

Das Gericht bringt den Anklagestoff vor: Während der Haussuchung in der Pfar­rei von Bagota, im zweiten Stock, waren eine Schreibmaschine der Marke »Erika«, Schreibmaschinenpapier, die »Chronik der LKK« Nr. 42 und 10 weitere noch nicht zu Ende getippte Exemplare gefunden worden, auf denen die Finger­abdrücke von Vitkauskaitė zu finden waren. Früher war Vitkauskaitė als Inge­nieurin tätig und zuletzt als Putzhilfe der Kirche von Sasnava. Die Arbeitsstätten berichteten in den Charakteristiken, daß sie sehr verschlossen und gesellschaftlich nicht aktiv war. Später stellte sich heraus, sie sei sehr religiös. Während der Haussuchung in der Wohnung von Petrikienė fand man Genovaitė Navickaitė beim Tippen. Es wurden zwei Schreibmaschinen (»Erika« und »Opti­ma«), die »Chronik der LKK« Nr. 42 und 10 weitere nicht eingebundene Exem­plare sichergestellt. Etliche »Chroniken«, die man bei dem Priester S. Tamkeviči-us gefunden hatte, wiesen Fingerabdrücke von Navickaitė auf. Diese »Chroni­ken« sind von Navickaitė getippt worden. In der Wohnung von G. Mačenskaitė wurde eine Nummer der »Chronik der LKK« gefunden, die mit der Schreibma­schine von Navickaitė getippt worden war. Am 30. Januar 1980 war bei dem Ein­wohner von Birštonas, Povilas Buzas, die »Chronik der LKK« Nr. 41, mit der Schreibmaschine von Navickaitė getippt, gefunden worden. Die Charakteristik des II. klinischen Krankenhauses in Kaunas wird verlesen. In ihr heißt es, Na­vickaitė sei den Kranken gegenüber aufopfernd und sanft gewesen, ihre Arbeit er­ledigte sie gut, obwohl sie keine gesellschaftliche Tätigkeit ausübte.

Am 25. November wird der Gerichtseingang wieder von Sicherheitsbeamten be­wacht. Nur die engsten Verwandten haben Zugang in den Gerichtssaal. Das Wort wird dem Staatsanwalt erteilt. Der Prokurist sagt, daß den Angeklagten der Arti­kel 199, Absatz 1 des Strafgesetzbuches zugrunde gelegt wird. Sie hatten die »Chronik der LKK« vervielfältigt und verbreitet. Der Staatsanwalt behauptete, daß die Benennung selbst, »Chronik der LKK«, schon verleumderisch sei. Seiner Meinung nach würden auch die Titel einzelner Artikel nach Verleumdung klin­gen: z. B. »Das Unglück der Litauischen Katholischen Kirche — die Okkupation«, »P. Anilionis — der Kirchenhenker« usw. Der Staatsanwalt liest einen Auszug aus der »Chronik der LKK« vor: »Die Nachkriegsjahre in Litauen waren schwer: unschuldige Menschen waren nach Sibirien deportiert worden, die Körper der ermordeten Patrioten wurden durch die Straßen der Städte geschleift, die Gefängnisse waren voll von unschuldigen Menschen . . .« Der Staatsanwalt bekräftigte: »Wie ihr seht, ist dieses eine deutliche Verleumdung, denn nichts der­gleichen geschah.« In dem Artikel »Angst anstatt Hoffnung« (»Chronik der LKK« Nr. 40) richtet man sich gegen die Priester und Bischöfe, die sich der So­wjetregierung loyal erweisen. In der »Chronik der LKK« Nr. 41 schreibt man: Das Jahr 1980 verspricht den Katholiken Litauens nichts Gutes. Das bestätigen auch die sowjetischen Panzer in Afghanistan! »Hier wird die Sowjetunion ein­deutig verleumdet«, entrüstete sich der Staatsanwalt. Weiter erklärte der Anklä­ger detailliert, welche Nummern der »Chronik der LKK« von G. Navickaitė ge­tippt worden waren und kam zu dem Schluß, daß die Festgenommene »fleißig die >Chroniken< vervielfältigt und verbreitet hat«, obwohl sie sich für nicht schuldig hält.

Der Ankläger Kyrijenko erklärte weiter: »Ona Vitkauskaitė hat von einer unbe­kannten Person eine Schreibmaschine erworben und fand angeblich in ihrem Briefkasten die Nr. 42 der >Chronik der LKK< vor. Sie begann zu tippen. Diese Tätigkeit setzte sie in der Pfarrei von Bagota fort, wo man sie festnahm. Das Ver­brechen ist eindeutig erwiesen, obwohl sich die Angeklagte nicht für schuldig hält.« Am Ende seiner Rede beantragte der Staatsanwalt 2,5 Jahre Lagerhaft für G. Navickaitė und 2 Jahre Lagerhaft für O. Vitkauskaitė. Das Abschlußwort und die Verteidigungsrede von G. Navickaitė (der Wortlaut der Rede ist aus dem Gedächtnis aufgeschrieben worden — Anmerkung der Red.). Die Angeklagte sagte: »Das Gericht beschuldigt mich, das Sowjetsystem verleumdet zu haben, indem ich die >Chronik der LKK< abgetippt habe. Ich habe das System nicht verleumdet, denn die >Chronik der LKK< ist religiösen Inhalts, die die Verfolgungsfakten der litauischen katholischen Kirche hervorhebt. Daß die Gläubigen verfolgt werden, weiß ich aus Erfahrung. Ich war 14 Jahre alt, als einer meiner Brüder (Priester Zenonas Navickas — Anmerkung der Red.) sich um einen Platz im Priesterseminar bewarb, seitdem wurde er von Regierungsmitar­beitern verfolgt. Die Sicherheitsbediensteten bemühten sich, ihm sein Vorhaben auszureden, man würde ihn im Seminar sowieso nicht aufnehmen. Bezirksvorsit­zender Diomkinas befahl unserem Vater, er möge seinem Sohn verbieten auf das Priesterseminar zu gehen. Er wollte unsere Eltern sogar verprügeln, aber unser Vetter konnte sie beschützen. Später wurde mein Bruder aus der Arbeit entlassen. Ich selber wurde in der Mittelschule eingeschüchtert. Man sagte mir, wenn mein Bruder in das Priesterseminar eintreten würde, dürfte ich die Mittelschule nicht beenden und könnte mich somit nicht weiterbilden. Obwohl das Priesterseminar meinem Bruder zugestimmt hatte, wurde er jedoch von der Regierung nicht aner­kannt und konnte letztendlich doch nicht ins Priesterseminar aufgenommen wer­den. Diese Ereignisse haben sehr auf mich eingewirkt. Ich habe verstanden, daß die Gläubigen tatsächlich verfolgt, erniedrigt und bestraft werden. Alle von der >Chronik der LKK< erfaßten Fakten sind richtig und keine Verleumdung. Ich bitte das Gericht, dieses zu berücksichtigen. Ich bekenne mich nicht schuldig.« G. Navickaitė setzte fort: »Obwohl ich von Seiten der Atheisten viele Ungerechtig­keiten in Kauf nehmen mußte, habe ich als Krankenschwester alle — Atheisten und Gläubige — sorgsam betreut und mich ihrer Gesundheit angenommen.«

Im Abschlußwort brachte Navickaitė ihre Überzeugung zum Ausdruck, das Ge­richt werde sie für nicht schuldig befinden. Und wenn sie verurteilt werden würde, dann würde sie die Ungerechtigkeit noch besser spüren können, die sie in früher Jugend erleben mußte. Und wenn sie aus dem Lager zurückkehren werde, würde sie die Gläubigen und Nichtgläubigen wieder gleich herzlich betreuen. Die Abschluß- und Verteidigungsrede von Ona Vitkauskaitė (der Wortlaut dieser Rede ist aus dem Gedächtnis aufgeschrieben worden — Anmerkung der Red.). Die Angeklagte sagte, daß die Konstitution der Litauischen SSR die Gewissens-, Glaubens- und Pressefreiheit garantiere, aber vielen Jugendlichen Litauens, die das Priesterseminar besuchen möchten, wird der Zugang von der Regierung ver­weigert, deswegen sind viele Gemeinden priesterlos. Es ist schmerzlich anzusehen, wie Kinder in der Schule gefordert werden, indem man ihnen den Atheismus mit Gewalt aufzwingt. Die Eltern beklagen sich, daß die Kinder gegen ihre Überzeu­gungen erzogen werden. Auch in den anderen Sowjetrepubliken ist die Lage der Gläubigen schlimm. »Herr Richter, seien Sie für eine Minute ein Gläubiger, und Sie werden verstehen, ob dies möglich ist . . .« Der Richter unterbricht die Rede von Vitkauskaitė, indem er sie dazu ermahnt, sich nur an den Stoff des Prozesses zu halten. »Herr Richter«, setzte die Angeklagte fort, »was ich rede, hat unmittel­bar mit dem Prozeß zu tun, denn daraus ist zu ersehen, daß die Kirche in Litauen verfolgt wird und die >Chronik< die Regierung nicht verleumdet, sondern die Wahrheit schreibt. Die >Chronik der LKK< verteidigt die Rechte der Gläubigen. Wegen ihrer Vervielfältigung sollte man nicht urteilen. Vielmehr sollte man be­sondere Beachtung dem Benehmen etlicher Bediensteter gegenüber schenken. Die in der >Chronik< hervorgehobenen Fakten sind richtig, deshalb sollte sich die Re­gierung bemühen, daß sich ähnliches nicht wiederholt.« Zum Schluß ihrer Vertei­digungsrede unterstrich O. Vitkauskaitė, daß sie sich für nicht schuldig hält und sie das Gericht um keine Gnade bittet. Ebenso brachte sie ihre Kränkung zum Ausdruck, weil das Gericht sie als Verleumderin dargestellt hat, obwohl sie im Le­ben niemanden verleumdet und sich stets bemüht hat, gewissenhaft zu sein. »Auch Christus hat unschuldig am Kreuz gelitten und war von allen verschmäht und verleumdet worden. Freiheit ist sicherlich allen kostbar, aber wenn ich verur­teilt werde, so werde ich mein Leid der Zukunft und der Jugend Litauens opfern, damit die Jugend aufrichtig wird, damit alle einander lieben und daß jeder frei le­ben und glauben kann.«

Nach einer langen Pause wurde das Urteil verlesen: »Das Gericht hat die Schuld völlig bewiesen, aber in Anbetracht der guten Charakteristiken der Arbeitsplätze hat das Gericht die Strafe gemildert.« Genovaitė Navickaitė wurde zu zwei Jahren Lagerhaft des allgemeinen Regimes und Ona Vitkauskaitė zu eineinhalb Jahren Lagerhaft des allgemeinen Regimes verurteilt.

Die Verwandten und Zeugen, die während des Urteilsspruches im Saale waren, bedankten sich bei den Verurteilten für ihr Opfer und überreichten Blumen. Die KGB-Bediensteten verließen den Saal eigenartig bedrückt, mit dem Anschein, ganz deutlich verstanden zu haben, daß das Verbrechen nicht in der Vervielfälti­gung der »Chronik der LKK« begangen worden ist, sondern hier im Gerichtssaal. Die Verwandten und Bekannten der Verurteilten trennten sich mit Freudenträ­nen: solch ein Gericht ist der Triumph der Kirche und ein Schritt der Tyrannei in den Abgrund.

 

Offener Brief an den Richter Repša

Herr Richter, am 24. und 25. November dieses Jahres, haben Sie meine Schwester Genovaitė Navickaitė und Ona Vitkauskaitė verurteilt. Ich durfte als Bruder der Angeklagten den Gerichtssaal betreten, aber allen anderen, außer den KGB-Mitarbeitern, wurde der Eintritt in den Saal verwehrt, denn am Eingang standen zwei Sicherheitsbeamte und ließen niemanden in den Gerichtssaal. Sie beschuldig­ten meine Schwester und Ona Vitkauskaitė, sich auf das Strafgesetz, Artikel 199, Absatz 1, berufend, in dem es heißt: »Die Verbreitung absichtlich lügenhafter Erdichtungen, die das sowjetische, staatliche und gesellschaftliche System erniedrigt.« Diesen Artikel können Sie den Angeklagten nicht zugrunde legen, denn ihr einziges Verbrechen, nämlich die Vervielfältigung der »Chronik der LKK«, in der wirkliche Fakten aufgeführt werden, sind keine lügenhaften Erdich­tungen. Wenn Ihnen die Wahrheit und die Gerechtigkeit wichtig gewesen wären, hätten Sie das gesehen, was alle Gläubigen Litauens sehen. Sie hätten meine Schwester und Ona Vitkauskaitė freigesprochen. Außerdem hätten Sie ihnen eine materielle und moralische Entschädigung zugesprochen. Nach den sowjetischen Gesetzen hat jeder Mensch das freie Meinungsrecht, d. h. die Möglichkeit,das auszusprechen, was er denkt; er hat das Recht, die offensichtlichen Mängel zu kri­tisieren, was die Angeklagten auch getan haben. Sie vervielfältigten die »Chronik der LKK« und waren davon überzeugt, daß sie die Mängel des sowjetischen Le­bens zu Recht kritisierten. Wenn sie sich geirrt hätten und wenn die in der »Chro­nik« beschriebenen Fakten nicht der Realität entsprochen hätten, dann hätte das Gericht diese beschriebenen Fakten in ihren Einzelheiten untersuchen müssen, und das hätte eine Menge Zeugen bedurft, die bestätigt hätten, daß diese Fakten angeblich erfunden wären. Das Gericht hätte meiner Schwester und Ona Vitkaus­kaitė die Möglichkeit einräumen müssen, sich selbst verteidigen zu können; mit den dazu notwendigen Zeugen und ernst zu nehmenden Rechtsanwälten. Und was haben Sie, Herr Richter, getan? Erst während der Prozeßverhandlung haben Sie Rechtsanwälte vorgeschlagen. Die Angeklagten haben sich richtig verhalten, indem sie diese ablehnten, denn diese Rechtsanwälte wären nur Artisten in einer schlecht inszenierten Gerichtskomödie gewesen. Die Anwälte hätten sich lange vorher mit der Anklage vertraut machen müssen und hätten sich ebenso mit den in der »Chronik« beschriebenen gekränkten Menschen unterhalten müssen, um die Wahrheit bezeugen zu können. Schade, dies ist nur ein unrealer Traum. Wenn ein wirklich aufrichtiger Anwalt die Verteidigung der Angeklagten ehrlich und aufrichtig hätte übernehmen wollen, so wäre er sehr schnell disqualifiziert wor­den. Und das wäre nur deshalb, weil die in der »Chronik der LKK« beschriebenen Verbrechen gegen die Gläubigen Litauens von der kommunistischen Partei und dem KGB genehmigt sind. Diese Verbrechen zu demaskieren, wird als Staatsver­brechen traktiert. Die Schuld meiner Schwester Genovaitė Navickaitė und Ona Vitkauskaitė besteht darin, daß sie es gewagt haben zu sagen, der »König ist nackt«.

Sie, Herr Richter, werden sich im Innern Ihres Herzens rechtfertigen, daß nicht Sie es waren, der dieses Prozeß-Spektakel inszeniert hat und daß Sie machtlos sind, etwas zu ändern. Wenn ja, dann nehmen Sie sich die beiden Mädchen zum Vorbild, für ihre Wahrheit und Gerechtigkeit haben sie ruhigen Herzens ihr unge­rechtes Urteil anhören müssen und völlig unschuldig werden sie im Lager, zusam­men mit den größten Verbrecherinnen, leben müssen.

Während der Gerichtsverhandlung wurden einige Male zwei wirkliche Verbrecher — Mörder, Gewalttäter — durch den Saal geführt. Diese beiden sind ohne Glau­ben aufgewachsen. Wir wollen so nicht sein. Die »Chronik der LKK« ist der Hil­feruf der Gläubigen Litauens, damit sie nach ihren Überzeugungen leben können und damit sie eine feste moralische Basis haben. Sie, Herr Richter, haben sich an der Zerrüttung der Moral unseres Volkes und an der Heranzüchtung solcher wie diese schrecklichen Verbrecher beteiligt, indem Sie zwei unschuldige Mädchen verurteilt haben, die es wagten, die Rechte der Gläubigen zu verteidigen. Wenn Sie das Gericht Gottes nicht fürchten, so vergessen Sie bitte nicht das bevorstehen­de Gericht des Volkes und der Geschichte.

1. Dezember 1980        Der Pfarrer von Užuguosčiai, Priester Zenonas Navickas

Das Katholische Komitee zur Verteidigung der Rechte Gläubiger schrieb am 1. Dezember 1980 das Dokument Nr. 41 an das Zentralkomitee der Kommunisti­schen Partei in der Sowjetunion. Darin heißt es:

Am 24. und 25. November 1980 fand im Höchsten Gericht Vilnius die Prozeßver­handlung von Ona Vitkauskaitė und Genovaitė Navickaitė statt, und am 24. bis 26. November wurde im Höchsten Gericht der Litauischen SSR in Kaišiadorys die Prozeßverhandlung von Povilas Buzas und Anastazas Janulis eröffnet. Alle vier wurden der Verleumdung des Sowjetsystems bezichtigt, denn sie vervielfältigten und verbreiteten die »Chronik der LKK«. Ona Vitkauskaitė wurde zu eineinhalb Jahren und Genovaitė Navickaitė zu zwei Jahren Lagerhaft mit gewöhnlichem Regime verurteilt. Povilas Buzas verurteilte man zu eineinhalb Jahren und Ana­stazas Janulis zu dreieinhalb Jahren Lagerhaft mit strengem Regime. Aus diesem Anlaß erklären wir, daß man während dieser erwähnten Prozesse die sowjetrecht­lichen Normen verletzt hat. Der 16. Artikel des Strafgesetzbuches der UdSSR be­sagt, »daß Prozesse in allen Gerichten öffentlich verhandelt werden müssen . . . Die Gerichtsurteile sind in sämtlichen Fällen zu veröffentlichen« (Strafgesetzbuch der Litauischen SSR, 1971).

Aber man unterrichtete nicht einmal die engsten Verwandten der Angeklagten über die bevorstehenden Gerichtsverhandlungen. Obwohl beide Prozesse als öf­fentlich galten, wurden außer den engsten Verwandten nur die Sicherheitsbedien­steten und einige von ihnen erwählte Leute in den Gerichtssaal gelassen. Die Urteilssprüche wurden ebenfalls hinter verriegelten Türen, die von KGB-Mit-arbeitern bewacht wurden, verkündet. Es ist zu bemerken, daß zur selben Zeit, im Nebensaal des Höchsten Gerichts, ein Mörder verurteilt wurde, aber hier wurde der Eingang nicht von Sicherheitsbediensteten bewacht und jeder konnte frei ein und aus gehen.

Am 25. November verhafteten Milizbeamte in der Vorhalle des Höchsten Ge­richts, ohne jegliche Erklärung, Jonas Vailionis, der sich ruhig mit dem Priester Antanas Gražulis unterhielt, und führten ihn grob an den Armen zerrend fort. War diese Grobheit der Miliz an einem völlig unschuldigen Menschen nötig gewe­sen? In der Allgemeinen Menschenrechtsdeklaration heißt es: »Niemand kann willkürlich verhaftet, aufgehalten oder verbannt werden« (Artikel 9). Das Höchste Gericht der Litauischen SSR war nicht imstande zu beweisen, daß die Angeklagten das Sowjetsystem verleumdet haben. Um diese Beschuldigung zu bestärken, konnte das Gericht dafür keinen einzigen Zeugen finden. Die ganze Schuld war durch unbegründete Behauptungen des Staatsanwaltes und des Rich­ters versucht worden zu beweisen, nämlich, daß die in der »Chronik der LKK« aufgeführten Fakten verleumderisch seien.

Das Höchste Gericht verurteilte völlig unschuldige Menschen und demonstrierte nochmals, daß das sowjetische Regime nicht imstande ist, mit ideologischen Mit­teln gegen die katholische Kirche zu kämpfen und sie deswegen von Zeit zu Zeit auf administrative und rechtliche Mittel zurückgreift.

Die Gläubigen Litauens erwarten, daß man die sowjetischen Gesetze, die Allge­meine Menschenrechtsdeklaration und die von der Sowjetunion unterzeichneten internationalen Verpflichtungen beachtet.

Die Mitglieder des Katholischen Komitees zur Verteidigung der Rechte Gläubiger, die Priester: Leonas Kalinauskas, Jonas Kauneckas, Algimantas Keina, Vaclovas Stakėnas, Alfonsas Svarinskas, Sigitas Tamkevičius, Vincac Vėlavičius.