Während des Gerichtsprozesses gegen Priester Alf. Svarinskas wurde am 6. Mai 1983 in Vilnius, gemäß § 68, Teil I. des StGB der LSSR, ein Straf­prozeß gegen Priester Sigitas Tamkevičius eröffnet. Er wurde noch im Ge­richtssaal festgenommen und in die Isolationshaft des KGB abgeführt.

Noch vor seiner Festnahme, am 4. Mai, als Priester S. Tamkevičius als Zeuge beim Prozeß gegen Priester Alf. Svarinskas in das Oberste Gericht der LSSR zu Vilnius vorgeladen war, kamen viele Sicherheitsbeamte und viel Miliz nach Kybartai. Milizbeamte, die etwa gegen 13 Uhr in das Pfarr­haus kamen, verlangten nach dem Priester Jonas Boruta, der aber zu dieser Zeit nicht da war. Ganze drei Tage hindurch, bis zu der Festnahme des Pfarrers, bewachten die örtlichen und auch auswärtige Mitarbeiter des KGB wie auch der Miliz sorgfältig die Stadt Kybartai.

Der Milizbeamte A. Kazlauskas, der am Sonnabend den 7. Mai ins Pfarr­haus kam, fragte wieder nach dem Priester J. Boruta. Als er ihn wieder nicht traf, warnte er, daß ihn dasselbe Schicksal treffen werde wie den Prie­ster S. Tamkevičius, wenn er am Sonntag in der Kirche von Kybartai die Hl. Messe feiere.

Am Sonntag, den 8. Mai, konnte die Kirche von Kybartai kaum noch die zum Gottesdienst versammelten Gläubigen aufnehmen. Während der Hl. Messe um 10 Uhr sprach der Dekan von Vilkaviškis, Priester J. Preikšas, zu den mit Schmerz erfüllten Herzen der Gläubigen: »Ich weiß, daß heute Euer Schmerz so groß ist, daß alle Worte des Trostes leer erscheinen. Aber haltet Euch immer die in der Hl. Schrift beschriebene Begebenheit vor Augen, wo die Gebete der Gläubigen den Himmel erreichten und ein Engel ihren geliebten Lehrer, den hl. Apostel Petrus, aus dem Gefängnis befreite. So seid auch Ihr heute machtlos, gleichzeitig aber auch mächtig, denn Ihr habt Gott, Ihr habt das Gebet. Das Gebet ist unsere größte Waffe.« So ähnlich sprach Priester J. Preikšas.

Der Priester Jonas Boruta zelebrierte das Hochamt und hielt die Predigt. Nach der Hl. Messe bewegte sich eine tausendfache Prozession der Gläubigen von Kybartai auf den Knien rutschend und den Rosenkranz betend auf dem Kirchhof um die Kirche herum. Das war ein unwiederholbarer Anblick:

Mit Rosenkränzen in den Händen und mit Tränen in den Augen bewegten sich auf den Knien die kleinen Kinder, die Jugend, die Erwachsenen, Män­ner wie Frauen. Ein Jugendlicher trug der Prozession ein mit roter Stola umwundenes Kreuz voran — Sinnbild des Opfers und des Leidens. Als das Rosenkranzgebet zu Ende war, erhob sich das herzzerreißende Lied zum Himmel: »Marija, Marija... palengvink vergiją... Išgelbėk nuo priešo baisaus!« (»Maria, Maria... erleichtere die Knechtschaft... errette uns vor dem grausamen Feind!«).

Scharen von Sicherheitsbeamten, Milizbeamten, Vertretern der Kommunisti­schen Partei, die Lehrer der Mittelschule von Kybartai verfolgten aufmerk­sam die Fürbitteprozession. Ohne sich zu genieren, standen sie am Zaun des Kirchhofes, damit sie die Gesichter der Prozessionsteilnehmer besser erkennen und sich merken könnten.

Am 10. Mai kam der Milizbeamte R. Kazlauskas und ein Inspektor für Brandverhütung, der seinen Namen nicht sagte, in das Pfarrhaus. Dieser wollte das Pfarrhaus und die Kirche kontrollieren, aber die hier wohnende Kirchenreinigerin O. Kavaliauskaitė sagte, daß der Pfarrer als Vorsitzender des Kirchenkomitees und Hausherr des Pfarrhauses verhaftet und ohne ihn eine Kontrolle unmöglich sei. A. Kazlauskas verlangte nach Priester J. Ma­tulionis, dem er eine Vorladung zu dem Stellvertreter des Staatsanwaltes des Rayons Vilkaviškis überreichen sollte. Er traf jedoch Matulionis im Pfarrhaus nicht an. Es wurde ihm gesagt, daß der Priester J. Matulionis erst um etwa 19.30 Uhr da sein werde.

Am Abend fand der Milizbeamte, der wieder im Pfarrhaus auftauchte, überhaupt niemand. Er ging zum Kirchhofstor, rief zwei gläubige Mädchen zu sich und versuchte sie zu überreden, die dem Priester J. Matulionis be­stimmte Vorladung zu unterzeichnen und ihm zu übergeben, was diese grundsätzlich verweigerten.

So blieb dem Bevollmächtigten A. Kazlauskas nichts anderes übrig, als in die Sakristei zu gehen und die Vorladung dem Priester J. Matulionis selbst zu übergeben. Sogleich kehrte eine kleine Schar Gläubiger in die Sakristei zurück, um zu fragen, was der Beamte wolle. Als sie erfuhren, daß dieser den Priester J. Matulionis suche, waren sie darüber sehr verärgert und er­klärten: »Einen Priester habt ihr uns schon genommen! Langt euch das noch nicht?! Jetzt ist es aber genug. Diesen bekommt ihr nicht! Der gehört uns! Den geben wir keinem!« Der Beamte versuchte noch etwas zu erklären, aber die Gläubigen öffneten breit die Türe und baten ihn, das Gotteshaus schleunigst zu verlassen.

Nach diesem Vorfall mit den Gläubigen ließen die Regierungsbeamten den Priester J. Matulionis in Ruhe.

Nach der Festnahme des Pfarrers von Kybartai, des Priesters Sigitas Tam-kevičius, wurden in einer ganzen Reihe von Behörden, Kolchosen und Fa­briken in Kybartai Vorträge abgehalten, wobei klargestellt wurde, wie grau­sam der Priester Alf. Svarinskas und der Priester Sig. Tamkevičius seien. Es wurde versucht, die Leute zu überzeugen, daß beide gerecht zur strafrecht­lichen Verantwortung gezogen wurden, und sie drohten dabei, daß sie der Pfarrei Kybartai einen Pfarrer geben würden, der alle Betschwestern und Gläubigen zur Räson bringen und »Ordnung« schaffen werde.

Am 18. Mai 1983 hielt in der Werkstatt für Handelseinrichtungen zu Ky­bartai der Vorsteher des KGB des Rayons Vilkaviškis, Vaišvila, einen Vor­trag. Er erklärte, daß Priester S. Tamkevičius die Lehrer verleumdet habe, indem er sie der Verfolgung der gläubigen Kinder beschuldigte. Nach dem Vortrag erhob sich im Saal die Frau Ona Griškaitienė. Sie erklärte, daß sie gläubig sei, drei Kinder habe, die, obwohl sie in der Schule gut gelernt hätten, in der Schule wegen ihrer religiösen Überzeugungen ständig diskri­miniert würden. Sie gab eine ganze Reihe konkreter Tatsachen der Diskrimi­nierung an und fragte dann: »Wer verleumdet also — der Pfarrer, oder Sie selber?«

Der Redner versuchte O. Griškaitienė zu unterbrechen und sie nicht weiter­reden zu lassen, die Frau aber erklärte: »Wenn ich soviel Geduld aufgebracht habe, Ihre Rede anzuhören, — dann sollten Sie sie ebenfalls aufbringen!« Dann schlug der Redner Frau Griškaitienė vor, das ganze zu zweit unter vier Augen zu klären, aber auch damit war die Frau nicht einverstanden: »Wenn Sie den Pfarrer verleumden, wo alle im Saal mithören, dann sollen auch alle die Wahrheit hören.«

Als der Sicherheitsbeamte schließlich nicht mehr weiter wußte, begann er die Frau zu beruhigen: »Ihr bekommt in Kürze einen neuen Pfarrer, und die Lage wird wieder normal.«

»Dann sieht es also so aus, daß Sie sogar die Pfarrer ernennen?!« — nahm Griškaitienė daran Anstoß. — »Wir, die Gläubigen, wissen noch nicht, wer unser Pfarrer wird, Sie aber wissen es schon?«

Nervös, ohne zu wissen, was er weiter sagen solle, hob der Vorsteher des KGB Vaišvila das Büchlein der sowjetischen Gesetze vom Tisch und begann zu erklären: »Das sind die Gesetze, und sie muß man einhalten!«

Die Frau erwiderte scharf: »Die Gesetze kenne ich nicht schlechter als Sic selbst, und dieses Büchlein habe ich schon öfters gesehen; Sie halten die Gesetze aber nicht ein! Zeigen Sie mir lieber das Büchlein der »Ungesetz­lichkeiten«, nach dem Sie arbeiten!«

In Verbindung mit der Festnahme des Priesters Sigitas Tamkevičius wurden am Pfingstsonntag in vielen Pfarreien Litauens Fürbittgottesdienste für die verhafteten Priester abgehalten: Es wurden Hl. Messen gefeiert, Anbetungen vorbereitet, ein spezielles gemeinsames Gebet vorgelesen, der Hl. Rosen­kranz gebetet und andere Praktiken der Frömmigkeit ausgeübt. Außerdem begann das gläubige Volk, ungeachtet aller Drohungen, Unterschriften unter neuen Protesterklärungen zu sammeln.

In Mažeikiai        wurden        672 Unterschriften zusammengebracht,

in Ieckava        wurden        31 Unterschriften zusammengebracht,

in Telšiai        wurden        1007 Unterschriften zusammengebracht,

in Viešvienai        wurden        89 Unterschriften zusammengebracht,

in Virbalis        wurden        127 Unterschriften zusammengebracht.

 

Sigitas Tamkevičius wurde am 7. November 1938 im Kreis Alytus, Dorf Gudonys geboren. 1955 schloß er die Mittelschule zu Seirijai ab und trat in das Priesterseminar zu Kaunas ein. Auf die Formung seines Priesterberufes hatten religiöse Bücher und die Freundschaft mit dem heiligmäßigen Priester Antanas Skeltys einen großen Einfluß. 1957 wurde Tamkevičius aus dem III. Kursus zum Militärdienst einberufen. »Wenn Du drei Jahre beim Mi­litär gedient hast, dann wirst Du kein Priesterseminar mehr brauchen«, sagte der Kriegskommissar. Nach der Erfüllung des Militärdienstes kehrt Tamkevičius 1960 wieder in das Priesterseminar zurück und schließt es mit der Priesterweihe aus den Händen S. Exz. P. Maželis ab. Im Jahre 1961 hatten die Beamten des KGB zweimal ohne Erfolg versucht, ihn als Agenten anzuwerben; sie drohten, ihn aus dem Priesterseminar hinauszuwerfen. Nach der Priesterweihe 1962 versuchten sie wieder, Tamkevičius in die Reihen der Kollaborateure des KGB anzuwerben, aber wieder erfolglos. Nach dem Abschluß des Priesterseminars arbeitet Priester S. Tamkevičius als Vikar in Alytus. Im Jahre 1963 spricht das KGB zum letzten Mal den Priester Tamkevičius an und bittet um seine Hilfe — sie versprechen ihm eine gute Pfarrei, ihn zum Studium nach Rom zu lassen und ähnliches. Auf seine negative Antwort hin nennen sie ihn einen Fanatiker und versprechen, einige Jahre zu warten, bis er sich geändert habe. Während seiner Vikar­tätigkeit in Lazdijai maßregelt ihn der Bevollmächtigte des Rates für Re­ligionsangelegenheiten Rugienis wegen seiner Predigten und der Kinder­katechese streng und droht ihm, ihm den Anmeldungsschein zu entziehen. Der Verwalter der Diözese wird gezwungen, den Priester Tamkevičius in eine andere Pfarrei zu versetzen. In Kudirkos Naumiestis und Prienai bleibt er nur kurze Zeit als Vikar, weil der Vorsteher des Sicherheitsdienstes von Šakiai schimpft, daß der Priester Tamkevičius die sowjetischen Gesetze ver­letze. In Prienai verbietet ihm der Bevollmächtigte des Rates für Religions­angelegenheiten zu predigen; er droht, ihm den Anmeldungsschein wegzu­nehmen und die Ausübung seines priesterlichen Amtes zu verbieten. Es wird ihm zur Last gelegt, daß er in seiner Predigt gesagt hatte, Johnson, der Präsident der USA, sei ein Gläubiger und bete. Rugienis macht ihm Vor­würfe, daß er in seinen Predigten Kossygin oder andere sowjetische Regie­rungschefs nicht lobe. 1969 kommt Priester Tamkevičius als Vikar nach Vilkaviškis. Zusammen mit anderen Priestern bereitet er eine Petition vor, in der gebeten wird, die Begrenzung der Studentenzahl am Priesterseminar aufzuheben. Er sammelt dafür die Unterschriften der Priester der Diözese Vilkaviškis. Wegen dieses »Vergehens« wird Priester S. Tamkevičius einige Male von den Tschekisten verhört und auf Befehl des Oberleutnants des KGB, Kolgow, untersagt ihm der Bevollmächtigte des RfR, Rugienis, die Ausübung seines priesterlichen Amtes. Danach arbeitet Priester Tamke­vičius in einem Metallverarbeitungswerk in Vilkaviškis und später, zusam­men mit dem Priester Juozas Zdebskis, in der Flurbereinigung von Prienai. In ihrer Freizeit leiten sie im Untergrund Exerzitien und verrichten andere priesterliche Tätigkeiten. Als der Bevollmächtigte Rugienis 1970 endlich erkennt, daß die Strafe den Priester Tamkevičius nicht gebrochen hat, und daß das KGB seine Tätigkeit nicht mehr nachkontrollieren kann, erlaubt er ihm wieder offiziell, in einer Pfarrei zu arbeiten: er arbeitet als Vikar in Simnas. Nach der Verhaftung von Nijolė Sadūnaitė im Jahre 1974 wird bei Priester Tamkevičius eine Durchsuchung gemacht. Er wird zu einem Verhör nach Vilnius vorgeladen, wo ihn die Tschekisten des Redigierens und der Verbreitung der »Chronik der LKK« beschuldigen wollen. Der Bevoll­mächtigte des Rates für Religionsangelegenheiten, Tumėnas, befiehlt Bischof Labukas im Jahre 1975, den Priester S. Tamkevičius in eine größere Pfarrei zu versetzen, damit er genügend Arbeit habe, denn sonst drohe ihm eine Verhaftung. Der Bischof ernennt den Priester Tamkevičius zum Pfarrer von Kybartai. Hier terrorisiert ihn andauernd der Stellvertreter des Vor­sitzenden des Rayonexekutivkomitees von Vilkaviškis, Urbonas, und das KGB versucht, ihm wegen eines Autounfalls einen Prozeß zu fabrizieren. Am 13. November 1978 gründet Priester Tamkevičius zusammen mit noch vier anderen Priestern das Komitee der Katholiken zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen und nimmt an seiner Tätigkeit teil bis zum Tag seiner Verhaftung. Am 17. April 1980 suchte eine Gruppe Tschekisten den ganzen Tag fleißig die Wohnung des Priesters Tamkevičius durch, wobei sie sich am meisten in verschiedene Manuskripte vertieften und sich mit Verviel­fältigungseinrichtungen — Papier, Kohlepapier und ähnlichen Dingen be­faßten. Nach dieser Durchsuchung wurden noch intensiver Gerüchte ver­breitet, daß Priester Tamkevičius verhaftet werde. Personen, die an solchem Klatsch interessiert waren, schwatzten schon seit etwa 10 Jahren davon.

Der Tschekist Baltinas, der ihn zum Verhör wegen des Priesters Alf. Sva­rinskas in den Sicherheitsdienst von Vilnius vorgeladen hatte, übergoß den Priester S. Tamkevičius mit verschiedenen nie dagewesenen Anschuldigun­gen: Er beschütze jene, die aus den Gefängnissen zurückkommen, er redi­giere die »Chronik der LKK«, er agitiere in seinen Predigten gegen die sowjetische Regierung usw., und man hätte ihn noch vor dem Priester A. Svarinskas verhaften sollen.