Das zaristische Rußland hat gewußt: Solange es Tumulte und Widerstand gegen die Russifizierungspolitik der zaristischen Regierung geben werde, solange werde der katholische Glaube in Litauen nicht vernichtet und das nationale Bewußtsein im Volke nicht ausgetilgt sein. Um das zu erreichen, begann es die Klöster und die Kirchen zu schließen, die den tiefen Glauben des litauischen Volkes und die Liebe zu seinem Land pflegten. In der Diözese Niederlitauen (Schemaiten) wurden 46 Klöster und 23 Kapellen und Kirchen geschlossen.

Wie man sich in solchen Fällen verhalten solle, hat Bischof Motiejus Va­lančius in seinen in Tilsit herausgegebenen Broschüren ganz klar heraus­gestellt: »Wenn die Russen unsere Kirchen wegnehmen, dann dürfen die Katholiken nicht nur einfach die Regierung bitten, dies nicht zu tun, sondern es müssen sich auch alle Menschen der Pfarrei, Männer und Frauen, mit ihrem Abendbrot versammeln. Sie müssen die Kirche füllen, sie belagern und dürfen die Russen nicht zum Haus Gottes lassen. Sie müssen selbst in der Kirche übernachten und unter Tränen sollen sie singen und den Herrn bitten, daß Er seine heilige Kirche rette...«

»Sollten die Russen einen Menschen schlagen, geißeln, auspeitschen, dann muß er das alles ertragen. So hielten es die Pfarrkinder von Tytuvėnai und so handelten auch die Katholiken von Minsk, als ihnen ihre Kirchen ge­raubt wurden. Einige Tage sind sie Tag und Nacht in der Kirche und auf dem Kirchhof gelegen, deswegen sage ich, daß man das Abendbrot mit­nehmen soll.«

»Eure Seelen sind so viel wert, daß ihr für ihre Rettung ein wenig leidet. Meine Kinder, macht euch keine Sorgen weder um eure Häuser, noch um eure Reichtümer, noch um euer Leben . . . Haltet aus, meine Kinder, haltet euch in eurem Glauben, wenn sie euch auch alle deswegen erschlagen wür­den. Und wenn die Russen einen auch in ihre Krallen nehmen, ihn schlagen, ihn prügeln, ihn zu Tode quälen würden, so soll der Katholik das alles ertragen. Wer um seines Glaubens willen leidet, dem wird der Herrgott Kraft und Ausdauer schenken...«

Die verfolgten Litauer nahmen sich diese Aufforderung des Bischofs M. Valančius sehr zu Herzen und sie wußten zur Zeit der Gefahr, wie man reagieren sollte.

Wir wollen an dieser Stelle die Geschichte der Verteidigung der Kirche von Kęstaičiai nach dem Buch von Petras Veblaitis »Kova su zaro valdžia už Kęstaičių bažnyčią« (»Der Kampf gegen die Regierung des Zaren um die Kirche von Kęstaičiai«) wiedergeben.

Schon im Frühjahr 1886 schickte sich die russische Regierung an, die Kirche und das Priester-Invalidenheim von Kęstaičiai zu schließen. Damals bereitete die Regierung einen Befehl zur Auflösung der Filialkirche von Kęstaičiai vor, die zu der Pfarrei Alsėdžiai gehörte. Der Zar Rußlands, Alexander III. (1881 —1894), unterschrieb den Befehl zu ihrer Schließung leichten Her­zens. Die Methode, Litauen durch Schließung der Kirchen und Auflösung der Klöster orthodox zu machen und zu russifizieren, hatte er schon von seinem Vater Alexander II. (1885 — 1881) und von seinem Großvater Ni­kolaus I. (1825 —1855) geerbt. Alexander III. war es wie auch seinen Vorgängern klar, daß man die Litauer »iskorenit« = entwurzeln, d. h. ihnen die Wurzel abhacken müsse.

Im Sommer 1886 bekam der Generalgouverneur von Vilnius und Kaunas, Iwan Koschanow, vom Vizeminister für die inneren Angelegenheiten dem Fürsten Gagarin, eine Mitteilung, daß am 10. Juli dieses Jahres »Der Herr Imperator selbst höchstens zu befehlen geruht hat, daß das Invalidenheim von Kęstaičiai leer zu machen und die neben dem Heim stehende Kirche zu schließen sei.«

Die Lage des Bischofs von Niederlitauen (Schemaiten) war schwer. Der Befehl des Zaren, die Kirche zu schließen, war höchster Befehl. Seine Ver­bindlichkeit war von der physischen Kraft Rußlands unterstützt, gegen die anzukämpfen der Bischof keine entsprechenden Waffen besaß. In solchen

Fällen mußte der Bischof sich dem physischen Zwang der Regierung beu­gen. Ein Kampf dagegen war nur mit der moralischen Kraft der Kirche und durch entsprechende passive Widerstandsweise möglich.

Als der Bischof den Befehl erhielt, die Kirche von Kestaičiai zu schließen, schickte er ihn zur Ausführung an das Konsistorium der Diözese weiter, das nach seinen Anweisungen arbeitete. Das Konsistorium befahl nach einer Verzögerung von über zwei Wochen im August den Dekan von Alsėdžiai, dem Pfarrer der Pfarrei Seda, Pranciškus Mažeika, den Befehl des Gou­verneurs zu vollziehen. Möglicherweise beeilte sich das Konsistorium des­wegen nicht, die Unterlagen weiterzuschicken, damit die Einwohner der Umgebung von Kestaičiai, wenn sie erfahren würden, daß die Kirche ge­schlossen werde, genügend Zeit hätten, sich zu einigen, wie man sie ver­teidigen solle. Die Leute, die die entstandene Lage richtig einschätzten, be­schlossen, eine Delegation von fünf Mann zum Zaren nach Petersburg zu schicken mit einem Bittgesuch, die Kirche von Kustaičiai nicht zu schließen. Das Bittgesuch hatten dreihundert Niederlitauer unterschrieben.

Als Termin für die Schließung der Kirche war der 24. September vorge­sehen. Schon lange vor diesem Tag stellte die Polizei auf allen Wegen be­waffnete Männer auf, um zu verhindern, daß der Leiter des Invalidenheimes von Kestaičiai, Priester Juknevičius, die Habe des Invalidenheimes weg­schaffen könne. Durch die Nachricht von der Schließung der Kirche beein­flußt, versammelten sich die Einwohner der Umgebung scharenweise in der Kirche. Aus Angst, daß beim Verlassen der Kirche die Regierungsvertreter erscheinen und die Kirche schließen würden, wachten die Gläubigen in der Kirche durchgehend und wechselten sich gegenseitig ab. Sie sangen heilige Lieder und beteten. Schon am 23. September waren Scharen von Menschen in die Kirche von Kestaičiai gekommen, und eine volle Kirche wartete die ganze Nacht hindurch auf die Ankunft der Kommission. Die Kommission kam am 24. September und fand die Kirche voll von Menschen. Damit die eingetroffene Kommission die Tür der Kirche nicht abschließen könne, hoben die Frauen die Tür heraus und versteckten sie. Als die Regierungs­vertreter und die Priester bei der Kirche ankamen, fanden sie diese offen und ohne Tür vor. Die versammelten Menschen ließen die Kommission nur bis an die Öffnung der Tür herankommen und riefen: »Wir werden es nicht zulassen! Wir werden sie nicht hergeben!« Sie ließen die Kommission keinen Schritt weiter.

Damit die Kirche geschlossen werden konnte, mußte zuerst das Allerhei-ligste Sakrament herausgetragen werden. Dies befahl der Regierungsver­walter von Telšiai dem Pfarrer von Seda, Priester P. Mažeika. Der Pfarrer ging, um den Befehl zu erfüllen zum Altar. Alsbald umzingelten ihn die Frauen und baten ihn, das Allerheiligste Sakrament nicht zu berühren. Als der Pfarrer versuchte, noch einige Schritte dem Altar näher zukommen, klammerten sich die Frauen an ihn, küßten seine Hände und baten ihn wiederum, dem Altar nicht näher zu treten und das Allerheiligste Sakrament nicht herauszunehmen. Der Pfarrer der Pfarrei Seda, Priester P. Mažeika, drehte sich daraufhin um und ging aus der Kirche hinaus, vielleicht durch das Bitten der Frauen beeinflußt, vielleicht auch, weil sie ihn direkt ge­hindert hatten, zum Altar zu gelangen.

Der Regierungsverwalter Popow durfte nicht einmal mit einem Fuß die Kirche betreten. Kaum daß er es versuchte, umarmten schon die Menschen seine Füße und baten ihn unter Tränen, bei der Regierung darauf hinzu­wirken, daß die Kirche nicht geschlossen werde. Sie versprachen ihm, die Kirche zu verlassen und sich zu zerstreuen, wenn der Regierungsverwalter nach Versiegelung der Kirche nichts aus ihr entferne, sondern alles beim Alten belassen werde, bis man beim Zaren Gnade gefunden habe und ihnen die Kirche erhalten bleibe. Für den Fall, daß sie diese Gnade nicht erreich­ten, versprachen sie, sich dem obersten Willen zu beugen und die Kirche ohne Widerstand zu verlassen.

Nachdem es der Kommission nicht gelungen war, die Kirche zu schließen, wurde der Priester Juknevičius hergerufen. Man befahl ihm, die aufge­brachte Menge zu beruhigen und zu überreden, andernfalls habe er die Ver­antwortung zu tragen. Die Polizei beschuldigte schon damals den Priester Juknevičius, er habe die Menschen aufgewiegelt, der Regierung nicht zu gehorchen. Priester Juknevičius versuchte zu den Menschen zu reden, aber diese hörten nicht auf ihn. Als er merkte, mit welch großer Leidenschaft­lichkeit die Menschen entschlossen waren, ihre Kirche zu verteidigen, zog sich der Priester Juknevičius voll Ergriffenheit zurück.

Der Dekan von Alsėdžiai, Priester Tamašauskas, bemühte sich, den Leuten klarzumachen, daß man sich den Anordnungen der Regierung beugen solle; er klärte sie auch über die Verantwortung auf, welche sie zu tragen hätten, wenn sie sich auch weiterhin widersetzen würden. Die Menschenmenge be­gann zu schreien: »Warum tut uns die Polizei nichts an und schaut nur ruhig zu, wenn wir beten?!«

Die Menschen reagierten darauf richtig: Die Regierungsvertreter selber er­griffen keine Sanktionen, sondern verlangten von den Priestern, ihre For­derungen durchzusetzen. Sie machten es deswegen so, weil sie den Eindruck erwecken wollten, daß nicht in erster Linie die Regierung, sondern die Priester selber die Kirche schließen würden.

Als er die Kirche nicht schließen konnte, beschlagnahmte der Regierungs­vertreter das Priester-Invalidenheim mit dem ganzen Hab und Gut, sogar die Bauten, die der Priester Juknevičius selbst auf eigene Kosten errichtet hatte, samt dem zusammengebrachten Baumaterial für Wirtschaftsgebäude, Brennholz, gedroschenem und ungedroschenem Getreide.

Nach dem 24. September verließen die Leute die Kirche überhaupt nicht mehr: sie bewachten sie Tag und Nacht. Die Niederlitauer zogen nach Kęstaičiai von allen Seiten. Nach einigen Wochen hatte sich die Zahl der Kirchenbesucher derart vergrößert, daß nicht nur allein die Kirche sie nicht mehr aufnehmen konnte, sondern sogar schon der Kirchhof nicht mehr reichte. Es gab so viele Menschen wie während der Ablaßfeierlichkeiten in Žemaičių Kalvarija. Die einen blieben in der Kirche, um dort zu wachen, die anderen sorgten für ihre Verpflegung, die dritten kehrten wieder nach Hause zurück, nachdem sie die Kirche besucht und dort gebetet hatten. Es gab in den Nachbarschaftspfarreien keinen Bauern, der den Bewachern der Kirche nicht auf irgendwelche Weise geholfen hätte.

Alle Einwohner der Umgebung waren dafür entbrannt, das Gotteshaus zu verteidigen und für ihren Glauben zu kämpfen. An der Gerechtigkeit ihres Kampfes zweifelten sie überhaupt nicht, denn sie waren davon überzeugt, daß die Regierung, die bestrebt war, ihre Kirche zu vernichten, eine gottlose, sakrilegische Tat begehe, und wer dagegen kämpfe, das ewige Leben ver­diene. Deswegen waren sich in der Frage der Verteidigung der Kirche alle Niederlitauer vollkommen einig — um so mehr deswegen, weil sie alle unter der Verfolgung der litauischen Presse und unter verschiedenen anderen Un­terdrückungen seitens der orthodoxen Regierung gelitten hatten.

Der Anführer der Kirchenbewacher war der Einwohner des Dorfes Žvirblai-čiai, Domininkas Daračius, ein Mann von großem Wuchs, wie der Samson aus der Bibel — größer und stärker als die anderen, etwa 40 Jahre alt. Er kannte die Leute aus der Umgebung gut und war auch selbst allen be­kannt, und zwar als guter, man könnte sagen: professioneller Brautwerber; er war gut orientiert, redegewandt, scharfsinnig, erfahren und populär. Wäh­rend der Zeit der Kirchenbewachung stellte er sogar in der Nacht die ge­sprochenen Gebete und die gesungenen Lieder selbst zusammen. Alle hörten auf Daračius und befolgten seine Anweisungen, und wenn er selbst irgendwo nicht hinkommen konnte, schickte er seine Vertreter.

Auf den Vorschlag von Daračius wurden in der Kirche Barrikaden errichtet, damit die Regierungsvertreter und die Priester nicht etwa durch die Sakristei zum Hauptaltar gelangen könnten, auf dem das Allerheiligste Sakrament aufbewahrt war. So verrammelten sie die Sakristei mit Steinen, und quer durch die Kirche stellten sie lange Bänke zusammen, saßen die ganze Zeit darauf und ließen niemanden zum Altar gehen, damit die Priester das Allerheiligste nur ja nicht aus der Kirche hinaustragen könnten.

Anfangs wurde das Essen für die Bewacher der Kirche in der Klosterküche zubereitet. Dann befahl aber die Polizei, das Feuer ausgehen zu lassen, weil angeblich der Ofen durch das andauernde Heizen Tag und Nacht so heiß geworden war, daß man der Brandgefahr vorbeugen müsse. Die Köche ver­zweifelten aber nicht. Sie zogen an den Waldrand um. Dort richteten sie sich an einem steilen Flußufer in einer Senke zwischen dem Anwesen des Antanas Pocius und seinem Nachbarn Virkaitis eine Küche ein und be­festigten hier die vom Waldhüter Razmas zur Verfügung gestellten Kessel, unter denen Tag und Nacht das Feuer knisterte. Hier bereiteten sie Suppen und andere Speisen zu. In Trögen brachten sie das Essen in das Wohnhaus des Pocius und dort deckte man die Tische, zu denen die Kirchenbewacher kamen und unentgeltlich aßen. Der Herbst war sehr schön, deswegen speis­ten auch die Esser, die im Haus von Pocius keinen Platz mehr hatten, an neuerrichteten Tischen draußen.

Bei den Niederlitauern war es üblich, daß sie den Priestern und den Mön­chen von Kestaiciai Almosen, meistens Lämmer, brachten. Während die Kirche bewacht wurde, ergossen sich solche Almosen aus der ganzen Um­gebung und deswegen konnten sich alle satt essen, die nur wollten. Innerhalb von zwei Monaten der Bewachung haben die Köche mehr als vierhundert Lämmer geschlachtet, anderes Fleisch und andere Speise nicht dazugerechnet.

Die Polizei wurde wegen der Küche am Waldrand noch wütender und ver­suchte öfters, die Kessel umzuwerfen und das Feuer auszulöschen. Die Frauen aus der Küche verjagten sie mit glühenden Holzscheiten, die sie herumschleuderten. Und so mußte sich die Polizei wieder zurückziehen, ohne etwas erreicht zu haben.

Einmal fuhr ein Priester durch Kęstaičiai, hielt im Kirchhof an und ging in die Kirche, weil er beten wollte. Von den Leuten in der Kirche beteten die einen den Rosenkranz, die anderen gingen die Kreuzwegstationen, wieder andere sangen religiöse Lieder. Der Priester näherte sich dem Altar, weil er das Allerheiligste Sakrament anbeten wollte. Als die Leute ihn sahen, wurden sie unruhig und liefen auf ihn zu: Die Frauen umklammerten den Priester, küßten seine Hände und baten ihn, sich nicht dem Hauptaltar zu nähern und das Allerheiligste Sakrament nicht wegzutragen: »Geistlicher Vater, geh nicht zum Hauptaltar, denn du könntest uns das Allerheiligste Altarsakrament wegnehmen. Wir bitten dich, am Seitenaltar die hl. Messe zu feiern, und werden uns dort versammeln und dem Heiligsten Opfer bei­wohnen.«

Die von Daračius angeführten Niederlitauer sollen keinen unbekannten Menschen in die Kirche hineingelassen haben; sie hätten ihnen nur zuge­lassen, aus der Vorhalle der Kirche zu schauen, was in der Kirche los sei.

Sie selber sollen inzwischen »Gott, unsere Zuflucht und Stärke« angestimmt haben.

Die nach Petersburg abgereisten Gesandten von Kęstaičiai wurden nicht zum Zaren vorgelassen, weil die dreihundert Unterschriften nicht ausrei­chend waren. Als die versammelten Menschen in Kęstaičiai von den Zurück­gekehrten erfuhren, daß es zu wenig Unterschriften gegeben habe, schickten sie alsbald eilig Boten in alle Dörfer der benachbarten Amtsbezirke, um alle Männer einzuladen, unter dem Gesuch zu unterschreiben. Es kamen sehr viele Männer aus den Amtsbezirken der Umgebung, und einige Tau­sende von Gläubigen haben das Gesuch unterschrieben. Die fünf Gesandten reisten damit wieder nach Petersburg zurück, jetzt wirklich in der Hoffnung, zum Zaren vorgelassen zu werden. Das war am 25. Oktober.

Am 26. Oktober kam der Regierungsverwalter wieder nach Kęstaičiai. Da er die Kirche voll mit Menschen vorfand und nichts ausrichten konnte, gab er dem Dekan Anordnung: »Es sind sofort Schritte zu unternehmen, daß alle Sachen der Kirche von Kęstaičiai unverzüglich dem Pfarrer von Al­sėdžiai übereignet werden.« In Erfüllung dieser Anordnung fuhr der Dekan am 4. November nach Kęstaičiai und fand wie immer die Kirche voll mit Menschen. Diese weigerten sich, die Kirche zu verlassen, bis die Gesandten aus Petersburg zurückkämen und eine Meldung von der Gnade des »Kö­nigs«, ihnen die Kirche zu belassen, bringen würden, denn die glaubten ganz fest, daß die Kirche nicht geschlossen werde.

Am 11. November bekam Bischof Paliulionis vom Generalgouverneur ein strenges Aufforderungsschreiben.

Der Bischof sah, daß es notwendig war, die Priester zu verteidigen, die man wegen des Widerstandes der Menschen und weil sie das Allerheiligste Sakrament nicht weggebracht hatten, beschuldigte. So schickte er an den Generalgouverneur ein Schreiben, in dem er erklärte, daß der Pfarrer und die Priester alles getan hätten, was sie nur tun konnten: Die Schließung und Versiegelung der Kirche sei mit der Berufung eines Priesters unver­einbar und dürfe ihm nicht als Pflicht auferlegt werden.

Inzwischen haben die Gläubigen von Alsėdžiai und der benachbarten Pfar­reien — Telšiai, Lieplaukė, Gadunavas, Seda, Plungė und anderen Ort­schaften — alles unternommen, damit die Kirche nicht geschlossen werde. Außer den Gesandten, die nicht zum Zaren vorgelassen wurden, schickten sie noch Bittgesuche schriftlich per Post und noch ein Bittgesuch an irgend­einen General Richter. Als sie aber keine Antwort erhielten, schickten sie noch ein Telegramm an Graf Kantenkuzen und Fürst Speranski. Die Dele­gation besuchte außerdem am 6. November in Petersburg den Fürsten von Plungė, Mykolas Oginskis, der im Palast des Zaren Einfluß hatte, aber auch dieser konnte der Delegation nicht helfen. Auf dieses für alle so große und für das damalige Landvolk unseres Landes sehr mutige Unterfangen geruhte die Regierung Rußlands nicht zu reagieren.

Schließlich beschloß die Regierung, trotz des Widerstandes der Leute die Kirche von Kęstaičiai zu schließen.

Zuerst wollte der Gouverneur von Kaunas erfahren, wie die Stimmung der Bevölkerung von Kęstaičiai sei und ob es nicht nötig sein werde, die Streit­kräfte in Anspruch zu nehmen. Deswegen gab er sich mit Polizeiberichten nicht zufrieden, sondern schickte noch einen Beamten für besondere Auf­gaben, Grigorij Schtschirowski, um die Lage zu überprüfen; er gab ihm gleichzeitig die Vollmacht, die Kirche zu schließen, falls die Menschen mit sich reden ließen. Noch am selben Tag fuhren Schtschirowski, der Regie­rungsverwalter, einige Polizisten und der Dekan nach Kęstaičiai, um zu versuchen, die Kirche zu schließen. Sie fanden die Kirche wieder voll von Menschen, die kniend heilige Lieder sangen. Die Regierungsvertreter ver­langten vom Dekan, er solle das Singen der Menschen unterbrechen. Dieser versuchte zwar einige Male von der Tür aus, die Pilger zum Schweigen zu bringen, diese hörten aber nicht auf ihn und sangen weiter. Dann beschlossen der Regierungsvertreter und der Bevollmächtigte für besondere Aufgaben, zu den Menschen zu sprechen. Die Menschen aber sangen weiter. Die Vertre­ter der Regierung begannen noch lauter zu schreien, die Singenden beach­teten sie überhaupt nicht, sondern übertönten alles mit ihrem Gesang. Als die Regierungsvertreter begriffen hatten, daß ihre Bemühungen, die Singen­den zum Schweigen zu bringen und die Menschen aus der Kirche heraus­zubitten, vergeblich waren, verließen sie die Kirche.

Schtschirowski, der zum ersten Mal gesehen hatte, mit welcher Begeisterung die Menschen ihre Kirche bewachen, sagte, ohne seine Bewunderung zu verbergen, vorwurfsvoll zum Regierungsverwalter: »Sie sollten es in Ihrem Herzen als große Sünde betrachten, so viele unschuldige Menschen dem Verderben preiszugeben.« Der Regierungsverwalter antwortete darauf mür­risch: »Nicht ich bin daran schuld, sondern die Priester!« Er war offen­sichtlich der Ansicht, daß die Priester am Widerstand der Menschen schuld seien; die von ihnen abfgewiegelten Menschen müßten die Verantwortung tragen.

Nach der Rückkehr der Regierungsvertreter nach Telšiai schickte Schtschi­rowski ein Telegramm an den Gouverneur mit einem Bericht über die Lage in Kęstaičiai. Der Gouverneur antwortete darauf, daß er selbst sofort nach Telšiai kommen werde und befahl dem Regierungsverwalter, den Kosaken mitzuteilen, drei Schwadronen (300 berittene Kosaken) sollten sich bereit­halten, am nächsten Tag nach Kęstaičiai zu reiten. Er solle seine eigene Polizei hinschicken, daß sie dafür sorgten, daß der Dekan von Alsėdžiai, ein Priester aus Telšiai und der ehemalige Moderator des Priesterheimes, Priester Juknevičius an diesem Tag dort anwesend seien.

Am 19. November ritten Schwadronen von Kosaken aus Telšiai nach Kęstaičiai. Hinter ihnen klapperten einige Pferdewägen, beladen mit Äxten, Sägen, Schaufeln, Leitern, Stricken, mit Werkzeug zum Einreißen von Holz­wänden und anderem Gerät. Dahinter fuhr man noch für irgendwelche Zwecke Wasserfässer der Feuerwehr heran, aus denen Wasser spritzte. Die Kosaken ritten schnell, und die Pferdewägen rumpelten hinter ihnen mit großem Getöse. Unterwegs begegneten sie einem Juden, der mit Milch­kannen nach Telšiai fuhr. Die Kosaken warfen ihn samt dem Wagen in den Straßengraben. Auch die anderen entgegenkommenden Reisenden landeten im Straßengraben. Als die Kosaken das Kirchdorf Kęstaičiai erreicht hatten, zogen sie ihre Säbel aus den Scheiden und beeilten sich, so schnell die Pferde tragen konnten, mit großem Geschrei zum Haupteingang der Kirche zu galoppieren, vor dem eine Menge Menschen stand.

Bei der Menschenmenge angekommen, steckten die Kosaken ihre Säbel wieder in die Scheiden zurück, griffen nach ihren ledernen Peitschen und schlugen damit vom Pferd aus auf die Rücken der Menschen ein. Die an­gegriffene Menschenmenge wich nach beiden Seiten auseinander und machte für die Kosaken einen Durchgang bis zur Kirchentür frei. Dann stiegen die Kosaken von ihren Pferden ab, stellten sich in Reih und Glied bis zur Kirchentür, schlugen alle kurz mit ihren Absätzen zusammen und erstarrten, wie in den Boden eingeschlagene Holzklötze.

Wir würden uns irren, wenn wir jetzt denken würden, daß die Menge jetzt schon bereit war, vor den Kosaken zu kapitulieren. Keineswegs! Wenn die Kosaken gewagt hätten, in die Kirche einzudringen, dann wären ihnen die Niederlitauer mit Steinen begegnet, aber die Kosaken standen ruhig in Reih und Glied.

Die Menschen beruhigten sich und sangen in der Kirche, auf dem Kirchhof und sogar rings um den Kirchhof herum auf den Knien weiter ihre heiligen Lieder. Die in Aufwallung geratenen Niederlitauer wollten schon nicht ganz christlich vorgehen, aber auf Bitten der Priester, den Kosaken nichts zu tun, hielten sie sich zurück.

Endlich kam in einem mit vier Rössern bespannten Karosse der Gouverneur selbst, begleitet von einigen Kosaken auf weißen Rössern mit Blasorchester. Er schaute die Kirche von außen an und sah, daß darin viele Menschen waren. Auf allen Altären brannten viele Kerzen. Die Menschen sangen. Der Gouverneur befahl dem Dekan, die Leute zum Schweigen zu bringen; diese aber sangen weiter, ohne ihn zu beachten. Der Gouverneur und die Polizei dachten, es sei von der Orgelempore aus leichter, auf die Menschen einzu­wirken. Sie stiegen hinauf und forderten den Dekan auf, zu versuchen, die Singenden zur Ruhe zu bringen. Nach dem Dekan schrie der Beamte für besondere Angelegenheiten, der Regierungsbevollmächtigte und schließlich auch der Gouverneur selbst zu den Menschen, aber die unnachgiebigen Nie­derlitauer übertönten sie alle mit ihren Liedern und hörten nicht auf sie. Der Gouverneur kam wieder aus der Kirche heraus und befahl der Polizei und den Kosaken, in die Kirche hineinzugehen und die Menschen aus der Kirche hinauszudrängen. Als die Gläubigen merkten, daß man sie aus der Kirche hinauszudrängen versuchte, hakten sie sich kniend mit den Armen unter und klammerten sich aneinander fest, ohne aufzuhören zu singen. Die Polizei mußte einsehen, daß es so nicht gehen werde, und wandte eine an­dere Methode an. Einige Beamten umfaßten einzelne Menschen mit ihren Händen, stemmten sich mit den Füßen an die anderen, rissen sie so einzeln von den anderen weg, trugen sie hinaus und übergaben sie den dort stehen­den Kosaken. In der Kirche entstand ein Tumult, ein Geschrei, man hörte dumpfe Schläge, denn die unbewaffneten Männer veranstalteten Ringkämpfe mit den Beamten und Polizisten, um sich nicht ergeben zu müssen. Um ihren Widerstand zu unterdrücken, zogen die Polizisten ihre Lederknuten heraus; bald gab es blutende Menschen. Nicht selten gab es solche, die sich beim Hinausführen aus der Kirche mit ganzer Kraft wehrten, um nicht hinausgeführt zu werden und nicht in die Hände der Kosaken zu geraten. Draußen aber entschlüpften sie den Polizisten und rannten in die Kirche zurück, denn alle Hinausgeführten wurden von mehreren Kosaken gepackt und festgenommen. Um sie von der ganzen Menge zu trennen, führte man sie in die Räume des Klosters, mit der Drohung, sie nicht so bald von dort wieder herauszulassen. Als man schließlich die Mutigsten aus der Kirche herausgetragen hatte, nahmen sie die Kosaken in ihre »Obhut« und schlugen sie mit ihren Peitschen, wo sie nur treffen konnten — über den Kopf, über das Gesicht, über den Rücken, über die Schulter. Wenn sie mit der Leder­peitsche über den Kopf oder über das Gesicht schlugen, floß das Blut in Strömen, wenn sie über den Rücken oder über die Schulter prügelten, platzten die Pelzjacken entzwei. Nach einer solchen Exekution wurden sie von den Kosaken gefesselt und unter Fußtritten zum sogenannten »Kamin« geschleppt und als Verhaftete dort eingesperrt. Insgesamt gab es 43 gefes­selte Personen, darunter Blutende und Schwerverletzte. Die Polizei hätte noch mehr gefesselt, aber der Gouverneur hielt sie davon ab und schrie: »So wenig wie möglich fesseln!«

Der Hauptaltar war an der Kommunionsbank verbarrikadiert und wurde von Frauen bewacht. Nachdem sie die Männer alle aus der Kirche hinaus­geworfen hatten, griffen die Polizei und die Kosaken die Frauen an: Sie zogen sie an den Haaren, schlugen mit den Lederpeitschen zu und stießen sie herum. Die Frauen begannen laut zu schreien, zu kreischen und zu weinen. Alle, die noch in der Kirche geblieben waren, fingen an, den größte: Ra^au zu machen, denn der Hauptaltar war die größte und die wichtigste Position der Verteidigung; sollte das Allerheiligste Sakrament hinausge­tragen werden, dann wäre der Kampf um die Kirche verloren. Die Frauen wurden selbstverständlich bald überwunden und aus der Kirche hinausge­worfen, die Barrikade umgelegt und der Weg zum Hauptaltar frei...

Die aus der Kirche hinausgeworfene Magd des Klosters, Klara Drobaitė, rannte von dem ganzen Gerangel sehr aufgeregt zu dem Gouverneur selbst hin und klammerte sich mit beiden Händen an seinen roten Bart. Als die Kosaken den Gouverneur in einer so tragischen Lage erblickten, rannten sie schnell zu ihm, rissen sie nach einem russischen Fluch von dem Gouverneur weg und steckten sie in den »Kamin« zu den Verhafteten. Als sie das Mäd­chen vom Gouverneur weggerissen hatten, hatte das Mädchen in den Hän­den ganze Büschel ausgerissenen Bartes.

In der Kirche war nur ein einziger Verteidiger geblieben — es war der Anführer Domininkas Daračius selbst. Mit seiner riesigen Gestalt über den Altar gebeugt, hielt er in seinen ausgebreiteten riesigen Armen das Sakra­mentshäuschen umklammert, in dem sich das Allerheiligste Sakrament be­fand und schrie den ihn angreifenden Kosaken zu: »Ich gebe es nicht her! Ich gebe es nicht her!« Dann griff einer der Kosaken einen starken Kerzen­ständer vom Altar, schlug damit Daračius über die Hände — und er ließ das Sakramentshäuschen frei... Die Kosaken nahmen ihn an Ort und Stelle fest, traktierten ihn mit Fußtritten und Fäusten und schleppten ihn in den »Kamin«.

Wie stark die Leute gegen die Polizei und gegen die Kosaken gekämpft hatten, zeigt die Tatsache, daß die Kirche durch das Gerangel grausam mit Blut bespritzt worden ist. So schreibt ein Zeuge, der das gesehen hatte: »Es wäre schwer, das alles zu glauben und alles anderen zu erzählen, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte . .. wie der Eingang dieser Kirche, die Wände, der Fußboden mit dem Blut der Menschen Übergossen waren, so daß nur ein kräftiger Herbstregen oder der Winterschnee beim Tauen im Frühjahr die Spuren davon hätte wegwaschen können.«

Als die Menschen endlich aus der Kirche verjagt waren und das Aller­heiligste Sakrament hinausgetragen worden war, löschten die Kosaken alle Lichter und alle Kerzen aus, die zwei Monate lang ununterbrochen ge­brannt hatten, und fingen auf Geheiß des Gouverneurs an, die Kirche ab­zureißen. Die Kosaken vernichteten alles: Sie zerlegten die Altäre, hackten die Kreuze entzwei, rissen die Orgel auseinander, zerschmetterten die Statuen und stießen sie mit Füßen. Bald blieb von der Kirche nur ein Trümmerhaufen. Nachdem sie das Innere der Kirche vernichtet hatten, trugen sie das Dach ab und rissen die Wände um. Nur der Glockenturm, den die Kosaken auf keine Weise überwältigen konnten, blieb stehen. Auch das Invalidenheim haben sie nicht vernichtet.

Der Priester Juknevičius wurde sehr schwer bestraft: Er wurde wegen der Aufwiegelung der Menschen für fünf Jahre in das Gouvernement Wologda in die Stadt Jerensk verbannt.

Alle Verhafteten wurden im Gefängnis von Telšiai eingesperrt. Es wurden Gerüchte verbreitet, daß sie alle erschossen würden, sie wurden aber nach einiger Zeit entlassen. Zusammen mit ihnen wurde auch Klara Drobaitė entlassen. Es wurde gesprochen, daß sich Fürst Orginskis und Graf Tschaps-kis für die Gefangenen eingesetzt hätten.

Wieviel Not die Niederlitauer während dieses Kampfes gesehen, wieviel sie gelitten haben, bezeugen sie selber, wenn sie ihrem Bischof schreiben:

»Erleuchteter Bischof, wir verbeugen uns als erstes vor Ihnen wegen Ihrer heiligsten und kostbarsten Güte, mit der Sie zu uns kleinen Geschöpfen und unwürdigen Menschen gesprochen und uns Trost gespendet haben . . . Zwei Monate lang wußten wir nicht, wann es Tag und wann es Nacht ist, und waren in größter Bedrängnis .. . Erleuchteter Bischof, Sie dürfen mit Ihren Schäfchen in aller Güte völlig zufrieden sein. Sie waren bereit, bis ans Ende geduldig zu leiden. Es war ein trauriger Tag, als uns der Gouverneur mit Militär angegriffen hat, und wir sind trotzdem nicht davongelaufen. Erleuchteter Bischof, hat es einmal gegeben, daß die Heiligen größere Lei­den ertragen mußten, als wir . ..?«

Jetzt türmen sich nur mehr Berge von Steinen an der Stelle der ehemaligen Kirche von Kęstaičiai...