Vilnius. Am 4. März 1989 ist der Sarg mit den Reliquien des hl. Casi­mir aus der Kirche der Apostel Peter und Paul wieder in die Kathedrale zurückgekehrt.

Eine ergreifende Feierlichkeit! Die Bürger der Stadt Vilnius und die Gäste bewegten sich an diesem Tag voll Ehrfurcht und Ernst nur in eine einzige Richtung - in Richtung Antakalnis. Noch vor 10 Uhr, wo die hl. Messe und der Abschied der Pfarrei von den Reliquien des Heiligen stattfinden soll­ten, war der Platz vor der Kirche voll mit Menschen. Nicht einmal zum Kirchhof zu gelangen war möglich. Die von Vertretern der Sąjūdis und der Kirche beaufsichtigte Menge besetzte jedoch den Hauptzugang nicht. Auf dem Kirchhof stellten sich die Fahnenträger mit ihren Fahnen und die Jugend auf. Nicht wenige Wallfahrer haben die eigene Fahne ihrer Pfarrei mitgebracht. Die Menschen, wie ein lebendes Spalier, standen in einer Reihe auf beiden Seiten der Antakalnis-, Kruglevskis-, Kostiuska-Straße bis zur Kathedrale. Jugendliche und Fotografen richteten sich auf den Dächern der Häuser ein.

Die hl. Messe in der St. Peter und Paul-Kirche feierte S. Exz. Bischof von Vilnius, Julijonas Steponavičius; der Pfarrer der Kirche, Priester Pranciškus Vaičekonis hielt die Predigt. Der Prediger erinnerte auch an das Jahr 1950, wo, nach der Schließung der Kathedrale, die Gefahr bestand, daß die Reli­quien des einzigen Heiligen Litauens vernichtet werden könnten. Durch die Bemühungen des Bischofs Paltarokas wurden sie am 9. Oktober 1952 aus der Kathedrale in die St. Peter- und Paul-Kirche überführt, wo sie sechsunddreißigeinhalb Jahre geblieben sind. Nach der hl. Messe bewegte sich eine feierliche Prozession: Mit einem Kreuz voran, Fahnen, Hunderte in Nationaltrachten gekleidete Jugendliche, die Alumnen des Priestersemi­nars von Kaunas, die Dozenten, die Bischöfe und die Verwalter der Diöze­sen Litauens, etwa 100 Priester und Tausende von Gläubigen bewegten sich betend in Richtung zur Kathedrale. Den Sarg mit den Reliquien des Für­sten St. Casimir, der etwa 500 kg wiegt, trugen die Alumnen des Interdiöze-sanpriesterseminars zu Kaunas abwechselnd. Der Alumnenchor sang wäh­rend der Gebetsprozession das vom hl. Casimir geliebte Lied „Omni die...", und als sich die Prozession der Kathedrale näherte, die Litanei zum hl. Casimir. Vor der Tür der Kathedrale sprach der Pfarrer der Kathe­drale, Priester Kazimieras Vasiliauskas, ein kurzes Willkommenswort. Die Fahnen, die Jugend mit Blumen und Palmenzweigen in den Händen auf beiden Seiten, empfingen wie ein Ehrenspalier den in die geliebte Kathe­drale zurückkehrenden heiligen Verbannten. Der Sarg des Heiligen wurde auf einer speziell vorbereiteten Erhöhung im Altarraum aufgestellt.

Allein die Jugend füllte schon das große Mittelschiff der Kathedrale, und nur ein kleiner Teil der Wallfahrer konnte noch in die Kathedrale gelangen; die anderen sammelten sich auf dem Gediminasplatz und verfolgten dort durch Lautsprecher den Verlauf des Gottesdienstes. Die hl. Messe feierten der Kardinal Litauens, Vincentas Sladkevičius, die Bischöfe Julijonas Ste­ponavičius, Antanas Vaičius, Juozas Preikšas, Vladas Michelevičius, der Verwalter der Diözese Panevėžys, Kazimieras Dulksnys, Priester Algirdas Gutauskas, der Rektor des Priesterseminars, Priester Viktoras Butkus, und der Gast aus Rom, Professor an der Päpstlichen Universität Gregoriana, Antanas Liuima, gemeinsam. Die hl. Messe leitete der Kardinal V. Sladke­vičius. Sie wurde nach einem speziell vom Hl. Stuhl für diese Feier zuge­lassenen Text gefeiert.

An dem Gottesdienst nahmen teil die Gäste: Aus Rom Prof. A. Liuima und der ehemalige Leiter der Sendungen des Radio Vatikan in litauischer Sprache, Priester Vytautas Kazlauskas, aus dem benachbarten Lettland der Gesandte des Bischofs von Riga und Liepäja, J. Carcov, und eine Gruppe von Alumnen, der Erzbischof der Orthodoxen Kirche, Viktorin. Auch aus Estland, Lettland, Moldavien und Weißrußland sind Wallfahrer gekommen.

Die Predigt hielt Kardinal V. Sladkevičius. Ohne seine freudenvolle Gemütsbewegung zu verbergen, gratulierte der Kardinal allen zu dieser Feierlichkeit, überblickte kurz den Lebenslauf des hl. Casimir und die Bedingungen, die ihm geholfen haben, in so einem frühen Alter zu reifen um heilig zu werden, und forderte die Wallfahrer auf, dem Beispiel des hl. Casimir zu folgen. Wir geben einen Auszug aus dieser Predigt wieder:

»... Am 4. März stimmt zum ersten Mal in unserem Lande die Lerche ihr Lied an und verkündet damit die Auferstehung der Natur. Die kleine Ler­che trägt nicht die Federn eines Pfaues, mit denen sie jemand bezaubern könnte, und sie hat auch nicht die Größe oder die Schnelligkeit eines Straußes. Sie ist vielmehr einem kleinen, grauen Klümpchen Erde ver­gleichbar, das oben im Himmelsgewölbe singt; es genügt aber nur ein ein­ziges ihrer Lieder, damit das ganze Himmelsgewölbe vor Frühlingsfreuden zu beben beginnt. Unser kleines Volk müßte der Lerche vergleichbar sein. Auch wir tragen keine Feder eines Pfaues... Wir sind das graue Klümp-chen Erde unter den Völkern dieser Welt, aber auch wir können und müs­sen bedeutungsvoll sein. Die Lerche der Wiedergeburt unseres Volkes ruft uns zur Frühlingsarbeit - zur Erneuerung auf. Wir wollen die Fenster unseres Herzens dem Licht, der Sonne, der Luft und dem Lied der Lerche öffnen. Die letzten Zeiten haben vielleicht mehrere Fenster in unserem Herzen eingerichtet, sie alle aber mit einem Gitter versehen, damit das Leben lagerhaft, nicht frühlingsmäßig, nicht als Leben einer auferstande­nen Natur, sondern wie das Leben zwischen den Wänden eines Gefängnis­ses ausschaut. Wieviele Fenster hat diese Zeit in unserem Herzen einge­richtet und wieviele hat sie mit Gittern versehen! Wir dürfen aber nicht so weiter leben. Wir müssen uns freuen, daß die Gitter heute schon abgeris­sen werden. Wir brauchen keine finsteren, atheistischen oder anderen Fen­ster mehr. Wir wollen heute unsere Herzen der Gnade des Herrn und dem Lichte des Glaubens öffnen. Unsere geistige Erneuerung soll wie ein Früh­lingslied in der Welt erklingen, und sie wird uns hören, wenn wir auch, wie der heilige Casimir, in lebendigem Glauben, in Frömmigkeit, Unschuld und Nächstenliebe leben werden. Wir wollen uns gegenseitig zu einer edlen Arbeit, zu gegenseitiger Liebe, zur Eintracht und zu einem edleren Leben auffordern. Meine Rede möchte ich mit den Worten des Bischofs Zacharias Ferreri abschließen, mit denen er die Bedeutung des hl. Casimir für Litauen und die ganze Welt beschrieben hat: „Litauen soll sich freuen, von dessen König er abstammt. Vilnius soll sich freuen, wo sein heiliger Körper ruht. Mögen die Herrschenden aus seinem Beispiel lernen, der unbeständigen und kurzen Macht dieser Erde zu mißtrauen und vernünftig über höhere Dinge nachzudenken. Die Reichen mögen lernen, sich der Reichtümer zu entledigen, die wer weiß wozu gesammelt worden sind, und die geistigen Reichtümer zu lieben. Wer jung und schön ist, soll daran denken, daß der Körper nur wie ein verblassender Schatten und die Ehre wie das Gras des Feldes ist; er soll eher nach einer ewigen, unsterblichen Schönheit streben. Wer sich der Wissenschaft ergeben hat, möge die Wis­senschaft nicht für eine leere Demonstration, sondern für die Nachfolge Christi und Sein Reich anwenden."«

Das gemeinsame Gebet haben die Vertreter aller Schichten vorgelesen: Die Kinder, die Jugendlichen, die Familien, die Ordensleute, die ehemaligen politischen Gefangenen und Verbannten, die Alumnen des Priestersemi­nars. Alle beteten zu Gott dafür, daß unser Volk, durch die Fürbitte des hl. Casimir, zu seiner geistigen Wiedergeburt aufwacht: Daß die Familien stark und kinderreich bleiben, daß die Kinder in den Familien in der Liebe Gottes, der Heimat und des Nächsten erzogen werden, daß es an geist­liehen Berufen nicht mangelt, daß alle, aus dem Osten wie aus dem Westen, in die Heimat zurückkehren können, die sie voll Sehnsucht und Schmerzen zu verlassen gezwungen worden sind.

Vor der Opferung brachten die Alumnen die Opfergaben der hl. Messe und Jugendliche in Nationaltrachten überreichten dem Kardinal ein Kreuz und einen Strauß weißer Blumen. Während der Messe sang der von dem Orga­nisten Pranas Sližys geleitete Chor der Kathedrale. Weitere Feierlichkeiten verliefen in der Kathedrale. Den ganzen Tag besuchten die Wallfahrer den Sarg des hl. Casimir. Nachmittags überprüften der Kardinal V. Sladkevičius, die Bischöfe, die Verwalter der Diözesen, der Pfarrer der Kirche der Apo­stel Peter und Paul, Priester P. Vaičekonis, und der Pfarrer der Kathedrale, Priester K. Vasiliauskas, die Reliquien des hl. Casimir. Den Sarg aus Holz zu öffnen war nicht nötig - die 1922 von dem seligen Erzbischof Jurgis Matulaitis und dem Kapitel während der Überprüfung angebrachten Siegel wurden unangetastet vorgefunden. Es wurde ein neues Überprüfungsdoku­ment aufgestellt und den dort beiliegenden zugefügt.

Nach der hl. Abendmesse wurde der Sarg mit den Reliquien des hl. Casi­mir auf seinem alten, speziell für ihn eingerichteten Platz - auf dem Altar in der königlichen Kapelle aufgestellt.

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Vilnius. Die Stellvertreterin des Vorsitzenden des Stadtexekutivkomi­tees der Stadt Vilnius, Frau Čeplėjienė, kam am 22. Februar 1989 in die Kurie der Erdiözese Vilnius und versuchte dem Prälaten Algirdas Gutaus­kas und den Kuriennotar Priester Medardas Čeponis einzureden, daß der Sarg des hl. Casimir in aller Stille, ohne Feierlichkeiten, in die Kathedrale zurückgebracht werden solle. Angeblich gelte noch das Gesetz, das verbie­tet, Prozessionen auf den Straßen der Stadt zu veranstalten. In Wirklichkeit verbietet das Statut der religiösen Gemeinschaften eine Vorbereitung der religiösen Prozessionen nicht, sondern weist nur darauf hin, daß für eine Prozession außerhalb des Kirchhofs eine Zustimmung des Exekutivkomi­tees benötigt wird; die Kurie der Erzdiözese Vilnius hat sich aber an das Exekutivkomitee gewandt, um eine Zustimmung zu bekommen.

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Zum ersten Mal seit dem Beginn der Besetzung hat Litauen dieses Jahr öffentlich seinen Unabhängigkeitstag - den 16. Februar - gefeiert. Die fei­erlichen Veranstaltungen, die für den Unabhängigkeitstag vorgesehen waren, sind schon im voraus durch Presse und Fernsehen angekündigt worden, wie die feierliche Sitzung des Rats der Sąjūdis und die Enthüllung des Freiheitsdenkmals in Kaunas oder die Enthüllung der Gedenktafel in Vilnius an dem Haus Pilies g-ve 26, in dem die Unabhängigkeit Litauens ausgerufen worden ist, usw.

Die Katholische Kirche Litauens hat aktiv zur Sinngebung dieser Feierlich­keit beigetragen. Am 16. Februar feierte um 8 Uhr morgens der Kardinal Litauens, Vincentas Sladkevičius, in der Basilika zu Kaunas für Litauen die hl. Messe und hielt eine Predigt. In der Kathedrale von Vilnius feierten am Vorabend dieses Festes die Priester Jonas-Kąstytis Matulionis, Jonas Boruta und Kazimieras Vasiliauskas gemeinsam eine hl. Messe für die für die Freiheit der Heimat Gefallenen. Während der hl. Messe wurde eine Flagge der Verbannten geweiht. Das Hochamt für Litauen und seine Unab­hängigkeit feierte am 16. Februar der Bischof von Vilnius, Julijonas Stepo­navičius. Er hielt auch die Predigt. Während die Gedenktafel an dem Haus Pilies g-ve 26 enthüllt wurde, läuteten 15 Minuten lang die Glocken aller Kirchen von Vilnius. Am Abend des 16. Februar feierten die hl. Messe für Litauen die Priester, die dem Rat der Sąjūdis angehören: Vaclovas Aliulis, Algimantas Keina, Kazimieras Vasiliauskas. Während des Gottesdienstes sang der Chor „Varpas". Beim hl. Meßopfer wurde Solidarität mit den in der ganzen Welt zerstreuten Landsleuten gezeigt. Bei der Konsekration wurde ein Meßgefäß emporgehoben, das die Litauer Kanadas aus Anlaß der Wiedereinweihung der Kathedrale und zum 16. Februar geschenkt haben.

In den Kirchen Litauens, in Stadt und Land, wurde am 16. Februar für Litauen gebetet, zum Gedenken an die Gefallenen für die Unabhängigkeit Litauens gingen die Gläubigen die Kreuzwegstationen und sangen „Der Engel des Herrn", hörten eigens für diesen Tag vorbereitete Predigten. Beim Gedenken der Unabhängigkeit Litauens bat die Katholische Kirche Litauens Gott um seinen Segen für die begonnene Wiedergeburt des Volkes.

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Vilnius. Am 12. November 1988 fand um 15 Uhr in der Kathedrale zu Vilnius eine Konferenz statt, die dem Gedenken des 130. Jahrestages der Nüchternheitsaktion des Bischofs Motiejus Valančius gewidmet war.

Um 12 Uhr nahmen seine Eminenz Kardinal Vincentas Sladkevičius, die Bischöfe, Priester und eine Menge Gläubige an einem Gottesdienst für ein nüchternes Litauen vor den geschlossenen Türen der Kathedrale teil. Die Predigt während der Messe hielt der Bischof von Telšiai, Antanas Vaičius.

Während der Konferenz wurde eine Bewegung der Antialkoholiker, LPS Motiejus Valančius, gegründet. Es handelt sich um eine freiwillige, unab­hängige, demokratische Bewegung für Nüchternheit, Sittlichkeit und die

Wiedergeburt des Volkes und ganz Litauens. Im Laufe der Konferenz wurden die Richtlinien der Tätigkeit dieser Bewegung besprochen und vorgesehen.

Am 16. Februar, zum Gedenken der Unabhängigkeit Litauens, hat ein nicht geringer Teil der Bürger Litauens, auf Initiative der Antialkoholikerbewe­gung, sinngemäß ein Versprechen abgegeben, einige Zeit oder ein ganzes Leben keine alkoholischen Getränke zu sich zu nehmen und auf das Rauchen zu verzichten. Ihre Entschlüsse widmeten sie der Wiedergeburt Litauens und dem großen Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit.

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Kapsukas. Am 27. Januar 1989 um 12 Uhr wurde in der Kirche von Kapsukas nach langjähriger Tradition, aus Anlaß des Todestages des seligen Erzbischofs Jurgis Matulaitis, gebetet. Die hl. Messe feierten der Bischof von Kaunas und Vilkaviškis, Juozas Preikšas und einige Dutzend Priester gemeinsam. Die Predigt zum Thema „Der selige Erzbischof und die Pro­bleme der Wiedergeburt Litauens heute", hielt der Pfarrer der Pfarrei Kybartai, Priester Sigitas Tamkevičius. Auf Grund der Beispiele des Seligen und Gedanken aus seinem Tagebuch wies der Prediger alle darauf hin, was man tun muß, damit die begonnene Wiedergeburt des Volkes die nötigen Früchte tragen kann: Der Christ muß ein Mensch des Gebetes und der Aufopferung sein, Gott und Sein Wille muß zum Zentrum seines Lebens werden; man dürfe keine Kräfte sparen, um sich zu vervollkommnen und, im Vertrauen auf Gott, mutig die Liebe zu Gott und zur Heimat durch konkrete Taten zeigen.

Am Abend des 28. Januar versammelte sich die Jugend Litauens am Sarge des seligen Jurgis Matulaitis. Die hl. Messe feierte und die Predigt hielt Priester Sigitas Tamkevičius. Während der Predigt wurde die Jugend aufge­fordert, sich den religiösen Vereinen, die humanistischen Ziele anstreben, wie „Ateitininkai" oder Pfadfinder, anzuschließen und sich aktiv an der Arbeit der nationalen Erneuerung zu beteiligen.

Nach dem Gottesdienst gratulierten die Jungateitininkai von Marijampolė und Vertreter der Jugend von Panevėžys, Ukmergė, Zarasai, und anderen Städten dem ehemaligen Gewissensgefangenen Priester S. Tamkevičius und dankten ihm für seine Opferbereitschaft.

Švenčionėliai (Rayon Švenčionys). Am 26. November 1988 erklärte sich die Verwaltung bereit, den testamentarischen Wunsch des verstorbe­nen Priesters Br. Laurinavičius (Mitglied der Helsinkigruppe) zu erfüllen, nämlich ihn in Švenčionėliai zu beerdigen.

Unter zahlreicher Teilnahme der Gläubigen Litauens wurden die irdischen Überreste Priesters Br. Laurinavičius aus Adutiškis auf den Kirchhof der Kirche von Švenčionėliei überführt.

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Širvintos. Anfang Dezember 1988 fand in Širvintos eine Begegnung der Einwohner des Rayons mit den ehemaligen Verbannten statt. Diese Begegnung wurde von der Initiativgruppe der Umgestaltungsbewegung des Rayons organisiert. Den Vorsitz hatten der Vikar der Pfarrei Kiaukliai, Priester Robertas Grigas, und der pensionierte Lehrer V. Alekna inne. Es sprachen die ehemaligen politischen Gefangenen, Verbannten und ihre Angehörigen. In einem Ausstellungsraum wurde eine Ausstellung veran­staltet, in der mit Bildmaterial das Leben der Verbannten, der den Repres­salien ausgesetzten Menschen und ihr Schicksal veranschaulicht wurde. Während einer Versammlung wurde ein Rat des Clubs der Verbannten des Rayons gewählt, der zu seinem Vorsitzenden den ehemaligen Lehrer V. Alekna wählte.

In der Rayonzeitschrift „Lenino vėliava" („Fahne des Lenins") erschienen am 17. Dezember die Artikel „Auch ich war eine Verbannte" und „Ein Priester oder ein erzürnter Politiker?" von J. Barbaravičienė und R. Tatolis / J. Marcinkevičius. Die genannten Verfasser sind darüber empört, daß ein Bild des Gekreuzigten während dieser Begegnung die Bühne des Kultur­hauses geschmückt hat. „... dem Rat wurden die Ehrengäste N. Sadūnaitė, J. Bieliauskienė, J. Šilinis hinzugefügt. (...) Mir scheint, daß den Rat des Verbanntenclubs unseres Rayons nur Leute aus unserem Rayon bilden müßten," - schreibt J. Barbaravičienė. Die Verfasserin ist entsetzt darüber, daß Priester R. Grigas in seiner Aussage die Partei und ihre Ideologie wegen der Repressalien und massenhaften Verbannungen beschuldigt hat. R. Tatolis/J. Marcinkevičius nennen Priester R. Grigas in ihrem Artikel einen erzürnten Politiker und Antisowjetler und verurteilte ihn wegen sei­ner Rede als Priester. J. Barbaravičienė schreibt am Schluß ihres Artikels: „Man möchte gerne, daß auch Sie, wer Sie auch sein möchten - Atheisten oder Katholiken, Parteimitglieder, oder Parteilose - Ihre Meinung darlegen und auf den Seiten unserer Zeitschrift diskutieren."

Auf die erwähnte Aufforderung antwortete Priester R. Grigas mit einem Brief in der Hoffnung, daß nach solcher Aufforderung sein Brief wirklich gedruckt und nicht verschwiegen oder verdreht wird, wie es 1987 geschah.

Leider, die Zeitschrift „Lenino vėliava" veröffentlichte diesen Brief nicht. Wir geben einige Auszüge aus diesem Brief an die Redaktion wieder:

»J. Barbaravičienė wirft dieser Veranstaltung zu viel Katholizität, die ande­ren Verfasser wiederum werfen ihr zu viel Politisches vor. Das sind uralte Anschuldigungen nicht nur gegen einzelne Katholiken, sondern auch gegen die von Christus errichtete Kirche. Wenn die Kirche auffordert, sich mehr um das geistige Leben, um die Ordnung unseres inneren Lebens zu sorgen, wird ihr vorgeworfen, daß sie sich von den Interessen des arbeiten­den Volkes, von ihren sozialen Problemen abkehre. Wenn sie aber auch auf diesem Gebiet des Lebens sich aktiv zeigt, ihre Position behauptet, wird die Haltung der Katholiken reglementiert - man schreit, sie sei zu „kleri­kal", sie mische sich in die Politik ein, was nicht ihre eigene Arbeit sei. Mit einem Wort, es wiederholt sich auf eine wundersame Weise die Geschichte aus der Heiligen Schrift: „Johannes ist gekommen, aß und trank nicht, und sie sagen: Er hat einen Dämon. Der Menschensohn ist gekommen, ißt und trinkt, und sie sagen: Seht dieser Mensch ist ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder." (Mt. 11, 18 -19). Oder, wie das Volk so schön sagt, wenn man prügeln will, findet man auch einen Knüppel. (...) Was die Vorbereitung des Saals betrifft, darüber habe ich mich mit den Ver­bannten beraten. Wenn in der litauischen Fersehsendung „Veidrodis" („Der Spiegel") ein „Sorgenvoller" gezeigt wird und niemand dabei Bedenken hat, daß eine Gefahr besteht, das Fernsehstudio in eine Kirche zu verwan­deln, umsoweniger besteht diese Gefahr für das Kulturhaus von Širvintos. Der Gekreuzigte begleitete unsere Leute genauso in den Jahren der Freu­den, wie auf dem Weg durch den GULAG, und deswegen wurde er nicht nur zum religiösen Symbol, sondern auch zu einem kulturell-nationalen. Könnten wir uns überhaupt unsere Volkskunst und Poesie ohne dieses Motiv vorstellen?

Alle meine drei Gegner sind am meisten darüber entsetzt, daß ich die Partei und die marxistische Doktrin als Schuldige an allen Massenmorden und an der geistigen Unterdrückung betrachte. Ihrer Meinung nach sei eine solche Beschuldigung ungerecht und unpriesterlich, nicht der Position der Obrigkeit der Kirche entsprechend. Nun ja, der politische Terror in der Sowjetunion hat in den 70 Jahren ihrer Existenz nach unvollkommenen Angaben 60 Millionen Menschen das Leben gekostet, unvergleichbar mehr also, als das Naziregime, das im Nürnberger Prozeß als Verbrechen gegen die Menschheit bezeichnet wurde. Wenn meine Kritiker der Meinung sind, daß die 60 Millionen (ich zitiere) von „... einzelnen Ideologen, einzelnen Mitgliedern der Sowjetunion" vernichtet wurden, dann ist auch diese ihre Meinung, als Bürger der Sowjetunion, eine Angelegenheit ihres Gewissens. Wir, die Christen, beurteilen solche Erscheinungen der Gesellschaft nach dem Kriterium, das uns Christus zurückgelassen hat: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen."

Während der ereignisreichen Tage in Polen schrieb Papst Johannes-Paul II. an seine Landsleute: „Widersetzt euch allem, was die Würde des Men­schen verletzt." Auch das Verbot, sich frei in Organisationen und Parteien zu vereinen, die anders als die Regierenden sind und die die letzteren kon­trollieren und kritisieren könnten, ist eine Verletzung der Würde des Men­schen. Da eine unkontrollierte, alleinregierende Partei unvermeidbar zu einer Tyrranei wird (wie Hitlers Deutschland, die Sowjetunion oder Kam­bodscha), warnt die Kirche, als Lehrerin der Sittlichkeit, die Gesellschaft vor solchem Übel, und das ist ihre moralische, ich unterstreiche, mora­lische, aber nicht politische Aufgabe. (...)

Sehr exakt hat der Priester V. Aliulis dies bei der Gründungsversammlung der „Sąjūdis" ausgesagt: „Wir wundern uns, daß gelehrte Köpfe sagen, sie könnten nicht verstehen, wie die stalinistische Willkür zustande kommen konnte, wo ihre Quellen zu suchen sind. Die Quelle ist genau dieselbe, wie die der Willkür Hitlers. Eine einzige Partei, sogar ohne Fraktionen (Applaus), das garantiert niemals eine Demokratie." („Atgimimas", Nr. 8 Seite 8).

(...) Übrigens, zu Ehrenmitgliedern des Verbanntenclubs wurden Nijolė Sadūnaitė, Jadvyga Bieliauskienė und Justinas Šilinis auf demokratische Weise gewählt - so hat die Mehrheit der Versammelten und der Mitglieder des Clubs entschieden - 13 von 21 waren dafür. Der Wohnort ist hier nicht entscheidend - auch Wissenschaftler der Sowjetunion sind Ehrenmitglieder der Akademien der USA.«

Žibalai (Rayon Širvintai). Am 28. Dezember 1988 schickten die Katholi­ken der Pfarrei Zibalai eine Erklärung an die Rayonverwaltung folgenden Inhalts: »Bei der Verwirklichung der groben und, wie es erst jetzt zugege­ben wird, widerrechtlichen Politik der Verfolgung der Gläubigen durch die Verwaltung verlor unsere Gemeinschaft alle zu der Kirche gehörenden Hilfsbauten. Im Jahre 1950 wurden das Pfarrhaus und die Wirtschaftsge­bäude - Getreidesspeicher, die Stallungen und die Scheune - enteignet. Im Jahre 1972 nahm uns der Ortsvorsitzende Kriaučiūnas mit Unterstützung der Miliz auch das letzte Gebäude der Pfarrei, das sogenannte „Spital", weg. Da alle erwähnten Bauten von gläubigem Volk, durch Arbeit und Zuwendungen unserer Eltern errichtet und ausschließlich für die Bedürf­nisse der katholischen Gemeinschaft von Žibalai bestimmt worden sind, ist ihre Enteignung ein mit nichts begründeter Raub und ein Akt der Willkür gewesen. Die Bauten werden von uns, den Katholiken von Žibalai und von den uns versorgenden Priester benötigt. Aus diesem Grunde verlangen wir, nach der Überprüfung der gesetzwidrigen Art der Enteignung, die noch gebliebenen Bauten dem rechtmäßigen Eigentümer - den Gläubigen ­zurückzugeben und für die nicht mehr bestehenden den entstandenen Schaden zu begleichen. Ihre Entscheidung wird uns helfen zu verstehen, daß die Katholiken nicht mehr als Menschen zweiter Klasse betrachtet werden.«

Unter der Erklärung unterschrieben der Priester Robertas Grigas und 53 Pfarrangehörige. Am 19. Januar kam eine von der Vorsitzenden des Exeku­tivkomitees, Frau M. Sabaliauskienė, unterschriebene Antwort:

„Auf Anordnung des Präsidiums des Obersten Sowjets der LSSR vom 19. Juli 1948, sind alle Gebetshäuser, Klöster, wie auch alle den religiösen Gemeinschaften gehörenden Wohnhäuser und zu ihnen gehörende Wirt­schafts- und Hilfsbauten, ungeachtet ihrer Größe, verstaatlicht worden.

Die Gebetshäuser wurden durch dieselbe Anordnung den religiösen Gemeinschaften zu ihrer kostenlosen und unbefristeten Benutzung über­lassen, die Klöster und die Wohnhäuser jedoch dem Kommunalfond zuge­führt.

Durch den Beschluß des Präsidiums des Obersten Rates der LSSR vom 27. September 1958 wurde klargestellt, daß die Anordnung vom 19. Juli 1948 keine Anwendung bei jenen Wohnhäusern, Wirtschafts- und Hilfsbauten der religiösen Gemeinschaften finden darf, die zum Bedarf der religiösen Gemeinschaften nach dem 22. August 1945 mit der Erlaubnis des Bevoll­mächtigten des Rates für Religionsangelegenheiten errichtet worden sind. Da die genannten Bauten der religiösen Gemeinschaft von Zibalai vor dem 22. August 1945 errichtet worden sind, ist ihre Verstaatlichung rechtmäßig und das Rayonexekutivkomitee hat keine rechtliche Grundlage, sie zurück­zugeben."

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Kaišiadorys. Am 20. Dezember 1988 veröffentlichte die Rayonzeit­schrift von Kaišiadorys den Artikel „Tegul saulė tamsumus prašalina" („Möge die Sonne die Finsternis verjagen") von dem Direktor des Kultur­hauses des Städtchens Darsūniškis, in dem berichtet wird, wie die Stadttore des Städtchens Darsūniškis vernichtet wurden, von denen die ersten, wie man annimmt, zur Zeit der Regierung von Vytautas dem Großen errichtet worden sind. „Zu der Zeit war Darsūniškis eine Sommerresidenz der Für­sten Litauens (...) Im Jahre 1818 entstand ein Brand im Städtchen. Das Städtchen brannte fast völlig nieder. Auch die Stadttore wurden in Mitlei­denschaft gezogen, wurden jedoch später wiederaufgebaut. Das nördliche Tor wurde Tor der hl. Agatha, Schutzheilige gegen Feuerbrunst, und das südliche - Tor des hl. Casimir (...) das östliche Tor wurde zu Ehren des hl. Georg errichtet. Hier wurde das allen bekannte Bild angebracht: Der hl. Georg auf seinem Pferd tötet den Drachen. Diese Allegorie wurde ver­schiedenartig gedeutet, so aus religiösem wie auch nationalem Aspekt.

Der Boom der Vernichtung der Kreuze und der Stätten geistiger Stützen des Volkes erreichte im Jahre 1963 auch Darsūniškis. In einer Augustnacht dieses Jahres, als alle in tiefem Schlaf lagen, wurde ein barbarischer Akt vollbracht. Die Stadttore des Städtchens Darsūniškis wurden dem Erdboden gleich gemacht. Durch das Einstürzen verursachten diese Riesen der Geschichte einen unauslöschlichen Widerhall im Herzen aller Einwoh­ner. Als man die Umgebung säubern wollte, mußte man die Miliz und die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes aus Kašiadorys anfordern.

Der Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, Wolkow, drohte persönlich allen mit fünfzehn Jahren wegen Ungehorsam, und auf die berechtigten Vor­würfe der Bevölkerung wurde mit Warnschüssen geantwortet.

Lange noch wuchsen an diesen Stätten Bäume und brannten Gedenkker­zen, die den Glauben und die Hoffnung lebendig hielten, daß die Wahrheit ein Bauen, aber nicht Vernichten ist."

Am 1. November 1988 schrieben die Bürger von Darsūniškis eine Erklärung mit der Forderung, die vernichteten Stadttore wiederaufzubauen, die Ini­tiatoren dieser barbarischen Aktion in der Presse zu veröffentlichen, die inhumanen und rechtswidrigen Taten öffentlich zu verurteilen. Diese Erklärung trägt 191 Unterschriften.

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Vilnius. Am 28. Mai 1987 schrieb der Onkel der Nijolė Sadūnaitė, Kazi­mieras Rimkus, der in Chicago, USA, lebt: „Gestern haben wir ein Paket auf deinen Namen an die Adresse Architektų 27-2 abgeschickt. Du müßtest es bekommen und wir hoffen, daß du es bekommst".

Am 30. Oktober schrieb K. Rimkus: „Du hättest das Paket schon lange bekommen müssen. Mir wurde es noch nicht zurückgeschickt, ich ver­mute, daß es irgendwo in Vilnius in einem Regal liegt, und man wartet immer noch auf eine Anordnung, ob man es dir aushändigen oder mir zu­rückschicken soll..."

N. Sadūnaitė bekam das erwähnte Paket nicht, obwohl zugelassene Le­bensmittel geschickt worden sind. Auch dem Absender wurde das Paket nicht zurückgeschickt.

Am 1. September 1988 schrieb K. Rimkus wieder an N. Sadūnaitė: „Bei uns wird viel über eure Glasnost und Perestroika geschrieben, deswegen haben wir gestern ein Paket auf den Namen Marytė Sadūnaitė (Frau des Bruders von N. Sadūnaitė) abgeschickt. Ihr müßtet es Ende Oktober bekommen."

Die Sendung erreichte den Adressaten nicht und wurde dem Absender K. Rimkus ebenfalls nicht zurückgeschickt.

K. Rimkus hat versucht, an die Adressen der Freundin von N. Sadūnaitė, Kibickaitė und der Verwandten Danutė Kalinauskaitė Päckchen zu schicken, sie wurden aber alle gestohlen.

Am 10. Januar 1989 erreichte ein Päckchen N. Sadūnaitė von Bischof Anta­nas Deksnys aus Westdeutschland. Das Päckchen wog beim Wegschicken 550 g, als es ankam nur mehr 200 g.Von den abgeschickten Büchern wurden nur die Enzyklika des Hl. Vaters Johannes-Paul II. und ein kleiner Kalen­der in deutscher Sprache ausgehändigt. Welche Bücher beschlagnahmt wurden, weiß man nicht, denn im Päckchen war weder eine Akte der weg­genommenen Bücher, noch eine Aufstellung der abgeschickten Bücher.

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Žygaičiai (Rayon Tauragė). In den Nachkriegsjahren nahm die Regie­rung das Pfarrhaus der katholischen Pfarrei von Žygaičiai weg, in dem spä­ter eine Ambulanz eingerichtet wurde. Zur Zeit wird eine neue Ambulanz bald fertig. Der Pfarrer der Pfarrei Žygaičiai, Priester V. Šlevas, haust in einem baufälligen Haus, die Rayonverwaltung weigerte sich jedoch, das ungerecht der Pfarrei weggenommene Pfarrhaus der Pfarrei zurückzuge­ben, weil sie vorgesehen hatte, in dem alten Pfarrhaus einen Frisörsalon einzurichten.

Nach einer erneuten Überlegung gab die Rayonverwaltung am 5. Dezem­ber das alte Pfarrhaus der Pfarrei nun doch zurück.

 

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Litauen, am 19. März 1989

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