Die „Chronik" hat den Text der Rede des Priesters Zdebskis in vollem Wortlaut veröffentlicht

Erklärung von Juozas Zdebskis, Pfarrer der Kirche in Šlavantai

An den Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes der Litauischen SSR

Abschriften: An Bischof Labukas

An den Vorsitzenden des Sicherheitskomitees

1974, beim Prozeß gegen Petronis u. a., wurde meine Rede, gehalten vor dem Gericht am 11. November 1971, als ein Beweis dafür herangezogen, daß die „Chronik der LKK" erfundene Fakten bringe, daß also diese meine Rede gar nicht so gelautet habe.

Am 29. April 1972 hat man einer Gruppe von Priestern und Regierungs­beamten die Tonbandaufnahme von meiner Gerichtsverhandlung vorge­führt als Beweis dafür, daß im Gerichtssaal nicht die Rede gehalten wurde, die in Nr. 1 der „Chronik der LKK" veröffentlicht sei. Außerdem wurde der Priester S. Tamkevičius öffentlich im Gerichtssaal beschuldigt, meine Rede erfunden und dazu noch ins Ausland geschickt zu haben. Zu diesen Tatbeständen muß ich wie folgt klarstellen: Nr. 1 der „Chronik der LKK" hat meine Rede genauso wiedergegeben, wie sie schriftlich nie­dergelegt war, in Vorbereitung für den Prozeß; nur ein Fehler ist unterlau­fen: Bei Wiedergabe des Kodex des kanonischen Rechtes wurde die Zahl „3" ausgelassen, so daß „129" statt „1329" und „130" statt „1330" sich ergab. Der Text der Kanones selbst war davon nicht berührt. Warum ent­spricht die Tonbandaufnahme nicht in allem.

Im Verlauf des Prozesses hat der Richter meine Rede durch Fragen und An­merkungen unterbrochen, und als ich die psychologischen Motive meines Handelns darlegte, hat er meine Ausführungen schließlich ganz abgebro­chen.

Die Frage zu untersuchen, wie meine Rede aus dem Gerichtssaal in die „Chronik der LKK" gelangt ist, dafür halte ich mich nicht für zuständig.

Šlavantai, d. 25. Februar 1975

Priester J. Zdebskis

Schutz der Bürgerrechte Erklärung

Von Vladas Lapienis, wohnhaft in Vilnius, Dauguviečiostr. 5—11, an den Vorsitzenden des Sicherheitskomitees, an den Staatsanwalt der Litauischen SSR und an den Justizminister der Litauischen SSR.

Beim Erörtern der Festigung der sozialistischen Gerechtigkeit habe ich zwei Seiten dieser Sache im Sinn: den strengsten Schutz der Bürgerrechte — d. h., daß niemandem, auch den Beamten nicht, willkürliches Vorgehen gestattet ist — und die strengste Beachtung der sowjetischen Gesetze — d. h., die Regeln der öffentlichen Ordnung — (L. Brežnev, „Alles zum Wohl des Vol­kes, zum Wohl des sowjetischen Menschen", 1974, 14). Aber einige Beamten des Sicherheitsdienstes denken anders über den Schutz der Bürgerrechte und verfahren auch entsprechend anders. Anbei einige Fakten.

Im Bürgerstrafkodex der Litauischen SSR § 192 heißt es: „Alle beschlag­nahmten Gegenstände und Dokumente müssen im Protokoll der Durchsu­chung oder in einer beigefügten Beschreibung aufgezählt werden, mit An­gabe von Zahl und Maß. Alle beschlagnahmten Gegenstände und Doku­mente müssen am Durchsuchungsort verpackt werden." Die Beamten des Sicherheitsdienstes, unter Leitung von Oberleutnant Gudas, haben am 30. November 1973 alle von mir eingebundenen religiösen Bücher, die mit der Schreibmaschine geschrieben waren, und darunter auch die foto­mechanisch mit dem Apparat „ERA" kopierten, sowie auch die Hand­schriften mitgenommen, ohne diese im Durchsuchungsprotokoll oder in einer beigefügten Beschreibung einzutragen, und haben alles abtransportiert, ohne die Säcke mit den Büchern zu versiegeln.

Ich bin schon mehrmals wegen Herstellung, Aufbewahrung und Verbrei­tung religiöser Literatur sowie auch wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda angeklagt worden. Man hat mir verschiedene Strafen ange­droht: sieben Jahre Freiheitsentzug, später zwei Jahre, Verbannung aus Vilnius und andere Strafen. Wenn ich versuchte, die mir vorgeworfenen Be­schuldigungen zu entkräften, ließen die Untersuchungsrichter dies meist nicht zu, mit dem Hinweis, daß ich ja nicht als Angeklagter, sondern als Zeuge vernommen werde. Dadurch haben sie § 17 des Bürgerstrafkodex der Litauischen SSR verletzt, in dem dem Angeklagten das Recht zur Verteidi­gung zugesichert wird.

Im Bürgerstraf kodex der Litauischen SSR § 18 heißt es: „Es ist verboten, vom Angeklagten die Angaben durch Anwendung von Gewalt, Einschüchte­rung oder durch andere Mittel herauszubekommen." Aber ein Sicherheits­beamter (seinen Namen hat er nicht genannt) hat während des Verhörs ständig gedroht und geschimpft: „Du verdammter Jesuit! Wir werden es dir schon zeigen! Du verleumdest nur die Sowjetregierung! Mit dir werden wir noch fertig; wir werden auch mit ganz anderen fertig als du einer bist! Du Lügner! Willst du endlich aufhören, zu lügen! Du Lump! Du Erzver-brecher" usw.

Aus dem Verhörraum hat man telefonisch angerufen und befohlen, mir, als dem „Erzlump", im Halbkellergeschoß des Sicherheitsgebäudes den feuchtesten und kältesten Raum zu besorgen. Man hat mir angedroht, mich sieben Jahre ins Gefängnis einzusperren, später hat man mir mit Verban­nung aus Vilnius gedroht und weiter damit, die Rente nicht nur für mich, sondern auch für meine Frau zu streichen und mich von der Arbeit zu ent­lassen usw. Am 22. November 1973 sagte der Untersuchungsbeamte zum Oberleutnant Gudas: „Hast du ihm (d. h. mir) gestattet gehabt, nach Hause zu gehen? Gestern habe ich dir noch gesagt, daß man ihn nicht freilassen darf!" u. ä.

Als ich die von der Museumsdirektorin A. Jankevičiene, einer Kommunistin, mir ausgestellte Charakterbeurteilung vorgezeigt habe, hat er diese ge­lesen und daraufhin geschrien: „Ist das ein dummes Weib, daß es diesem Lump eine so gute Charakterbeurteilung ausgestellt hat!" Wer mag mich wohl besser kennen, Frau A. Jankevičiene, mit der ich siebzehn Jahre lang zusammenarbeiten durfte, oder dieser Beamte des Sicherheitsdienstes, mit dem ich lediglich einige Stunden zu tun hatte?

Der Untersuchungsbeamte zwingt zum Lügen

Der Untersuchungsbeamte Jankauskas wollte mich zum Lügen zwingen, d. h. zum Geständnis, daß ich die „Chroniken der LKK" vom Pfarrer

Buliauskas erhalten hätte, der schon verhaftet sei und darüber ein schrift­liches Geständnis abgelegt habe. In Wirklichkeit war Pfarrer Buliauskas weder verhaftet, noch hatte er so ausgesagt. Der Untersuchungsbeamte hat in diesem Fall Lug und Trug angewandt. Dabei erhebt sich die Frage, ob ein Untersuchungsbeamter, der die Tatbestände verfälscht und die Bürger zum Lügen verleitet, die Einzelheiten eines Prozesses überhaupt allseitig, voll­ständig und objektiv aufzudecken vermag. Durch solche Handlungsweise verstößt der Sicherheitsdienst gegen: 1. die Paragraphen des Grundgesetzes der Litauischen SSR 10, 19, 96 und 97; 2. die Paragraphen des Bürgerstraf­kodex der Litauischen SSR 17, 18 und 192; 3. die einschlägigen Paragra­phen der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte und die Konvention über politische und bürgerliche Menschenrechte.

Vom 20. bis 24. Mai 1974 wurde ich vom Untersuchungsbeamten über ver­schiedene Bücher, Broschüren und kleine Schriftchen befragt. Als ich nach dem Verhör ruhig und ernsthaft alles überlegt habe, kam ich zu dem Schluß, daß diese Broschüren und vielfach auch diese kleinen Schriftchen, über die ich befragt worden war, nicht unbedingt von mir sein mußten, weil sie im Durchsuchungsprotokoll überhaupt nicht aufgeführt waren.

Aussagen werden durch Drohungen und Unwahrhaftigkeit erzwungen

Im Zusammenhang damit, daß die Sicherheitsbeamten bei meinen Verhören die Paragraphen 17 und 18 des Bürgerstraf kodex der Litauischen SSR ver­letzten, weil sie meine Aussagen durch Drohungen und rechtswidrige Maß­nahmen erzwungen haben, widerrufe ich alle meine Aussagen, mündliche und schriftliche, die ich vom 20. November 1973 bis zum 28. Juni 1974 gemacht habe. Wenn ich mich zu meinen Aussagen, zu denen ich durch rechtswidrige Maßnahmen verleitet wurde, bekennen würde, dann wäre ich wie alle in dieser Erklärung genannten Sicherheitsbeamten am Begehen einer Straftat gemäß § 18 des Bürgerstraf kodex der Litauischen SSR betei­ligt, und zwar bewußt. Unter Hinweis auf § 17 des Bürgerstrafkodex der Litauischen SSR widerrufe ich deshalb freiwillig mein Mitwirken am Be­gehen der Straftat.

Obwohl § 125 des Grundgesetzes der Litauischen SSR den Bürgern die Rede- und Pressefreiheit garantiert, ist es faktisch verboten, besonders den Katholiken, irgendwelche religiösen Bücher, Katechismen, Zeitungen und Zeitschriften zu drucken. Die Auflage der mit Erlaubnis gedruckten Maldy-nas (Gebetbuch) und Sventasis Rastas(Heilige Schrift; nur NT) ist so ge­ring, daß in Litauen nur wenige Exemplare den Gläubigen zur Verfügung waren.

In Litauen herrscht ein großes Bedürfnis nach religiöser Literatur

Die Gläubigen sind mangels religiöser Literatur gezwungen, die von Touri­sten mitgebrachten religiösen Bücher mit der Schreibmaschine oder mit der Hand abzuschreiben, oder mit „ERA" zu kopieren. Bei den häufigen Durch­suchungen von Priestern und Gläubigen wird alle religiöse Literatur vom Sicherheitsdienst beschlagnahmt, die Besitzer werden verhört, mit Gefäng­nis und anderen Strafen bedroht und einige sogar festgenommen. Wenn die Diskriminierung religiösen Schrifttums aufhörte, wäre der Man­gel an religiöser Literatur von selbst beseitigt.

Bei meinen Verhören wurde ich öfters über die „Chronik der LKK" be­fragt, die ihren Ursprung in der Verletzung der Rechte gläubiger Men­schen, in der Beschneidung der Gewissensfreiheit und in der Verfolgung der katholischen Kirche hat.

Nicht diejenigen, die Verletzungen sowjetischer Gesetze und internationaler Vereinbarungen öffentlich den Gläubigen bekanntmachen, sind verantwort­lich für die Diskriminierung, sondern diejenigen, die diese Verletzungen be­gehen. Kann man es als Staatsverbrechen, als Vergehen gegen die Würde und Freiheit der Person oder als Auflehnung gegen die bestehende Staatsord­nung bezeichnen, wenn die Ungerechtigkeiten, die man den Gläubigen zu­fügt, angeprangert werden? Kann man Informationen ohne Lüge und Ver­leumdung als antisowjetisch bezeichnen?

Wenn die Atheisten und ihre Helfershelfer, die sich mit dem Namen der Regierung decken, aufhören, den Gläubigen Unrecht zuzufügen, dann wür­den Veröffentlichungen darüber überflüssig und hinfällig. Solange Sicherheitsdienst, Staatsanwaltschaft und Gericht die Verletzung der gesetzmäßigen Ordnung zwar verkündigen und Maßnahmen dagegen zwar bestimmen, in der Praxis jedoch die Regierungsbeamten selbst diese sowjetischen Gesetze nicht einhalten, solange kann eine sozialistische Gerech­tigkeit nicht verwirklicht sein.

Durch Anweisungen für den Sicherheitsdienst müßten Verletzungen der so­wjetischen Gesetze geahndet werden können. Dadurch würde willkürliches Vorgehen unterbunden und damit der Schutz der Bürgerrechte, von dem der Generalsekretär der KPdSU, L. Brežnev, spricht, garantiert sein.

den 15. Oktober 1974

Vladas Lapienis

(Die Erklärung wurde gekürzt. — Red.)

Wir bringen gekürzt einen Brief des Ingenieurs Vytautas Vaičiūnas an das Präsidium des Obersten Sowjets der Litauischen SSR und an die Redaktio­nen von Tiesa und Kauno Tiesa.

Gesetz und Gewissen des gläubigen Menschen

Am 30. November 1973 steht in Tiesa geschrieben: „Eine der bewunderns­wertesten Erscheinungen des Triumphes unserer sowjetischen Demokratie — das sichere Recht auf Gewissensfreiheit" . . . „Jegliche Unterschiede unter den Bürgern in bezug auf ihre Rechte sind gänzlich unzulässig" (Lenin). Nach Aufzählung grundlegender Gesetze, in denen die Gewissensfreiheit garantiert wird, steht im Artikel „Das Gesetz und die religiösen Kulte" ge­schrieben: „Religiöse Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft von gläubigen Bürgern, die ihr 18. Lebensjahr vollendet haben." Wohin aber mit den Per­sonen, die noch keine 18 Jahre alt sind, da sie ja keine Mitglieder der Ge­meinschaft sind? Wem soll man ihre Erziehung anvertrauen? Etwa den Atheisten? Und wie ist das mit dem § 124 des Grundgesetzes der UdSSR zu vereinbaren?

Wem sollen die Priester gehorchen: der Kirche oder dem Staat?

In Fortführung einer Liste von Verboten behauptet Tiesa: „Sie (die Gläubi­gen — Red.) haben kein Recht, Kassen für gegenseitige Unterstützung zu gründen und Wohltätigkeitsarbeit zu leisten; spezielle Andachten für Kin­der, Jugendliche und Frauen zu organisieren, ebenso bibelerklärende, litera­rische, arbeitstechnische, in Religion unterweisende oder ähnliche Versamm­lungen abzuhalten, Gruppen oder Zirkel zu organisieren." Wer triumphiert hier! Die Atheisten haben das Recht, frei in Presse und Rundfunk aufzutre­ten, Gruppen zu organisieren, Büchereien zu eröffnen ... Wir aber erfüllen unsere religiösen Pflichten wie Stiefkinder, insgeheim. Den Atheisten wird das Recht durch Gesetz garantiert. Für uns aber bleiben nur Pflichten übrig, wie den aufgezäumten Arbeitspferden.

(...) Unter Verletzung der Gesetze über die Trennung der Kirche vom Staat und die Trennung der Schule von der Kirche, die die strafbare Ver­antwortlichkeit gemäß § 143 des Bürgerstrafkodex zur Folge hat, versteht man — unter Verletzung der durch das Gesetz festgelegten Regeln — die Organisierung religiöser Unterweisung der Minderjährigen und deren syste­matische Durchführung. (Kommentar des Bürgerstrafkodex der Litauischen SSR, Vilnius, 1974, S. 225.)

„Unter Verletzung der durch die Gesetze festgelegten Regeln muß man jede Form religiöser Unterweisung der Minderjährigen verstehen" (o.cit, S. 226). Nirgendwo wird deutlich gesagt, was für Regeln welcher Gesetze verletzt werden; es wird nur gesagt „Man versteht" und „muß man ver­stehen". Warum diese künstliche Unklarheit in fundamentalen Fragen, die das Verhältnis von Kirche und Staat regeln! Wären die Jagdbestimmungen so nebulös abgefaßt, dann müßten unsere Jäger bald damit anfangen, von Elefanten zu träumen ...

„Die reaktionären Priester versuchen, sich der angeblich sklavischen Lage der Kirche entgegenzustellen"; natürlich werden die gegebenen Verhältnisse zwischen Kirche und Staat dadurch gestört. Dieser Widerstand entbehrt der realen Grundlage. . . Zur Sicherung der Ansprüche der Priester und Gläu­bigen wurden herausgegeben:Apeigynas (Zeremonienbuch), Maldynas (Ge­betbuch), Vatikano Susirinkimo Nutarimai (Beschlüsse des Vatikanischen Konzils), Sventasis Raštas (Die Heilige Schrift, nur NT: Anm. d. U.). Darin ist u. a. festgelegt: (...) „Die Pfarrer sollen Familien und Schulen besuchen, sofern es die Hirtenpflicht verlangt"; sie sollen sich mit Hingabe um die Jugend kümmern, VSN — Vatikano Susirinkimo Nutarimai (Beschlüsse des Vatikanischen Konzils, S. 219). „Es ist wichtig, daß alle Priester ... sich gegenseitig aushelfen" (VSN, S. 236).

Was hier niedergelegt ist, ist mit dem Artikel von P. Misutis Tarybiniai in-statymai ir religija (Die sowjetischen Gesetze und die Religion) schwer zu vereinbaren. In Kauno Tiesa (Die Wahrheit von Kaunas), 6. 1. 1974, steht geschrieben: „Für die Kirche und ihre Priester ist es verboten, den Kindern Katechismusunterricht zu erteilen, die Minderjährigen bei religiösen Zere­monien einzusetzen, Gruppen, Versammlungen und Gruppengespräche zu organisieren. Ein Priester hat kein Recht, wirtschaftlich-finanzielle Angele­genheiten zu ordnen."

Wem sollen bei solchem Widerspruch die Priester gehorchen: der Kirche oder dem Staat?

„Die Laien dürfen und müssen die so wichtige Tätigkeit der Evangelisation der Welt betreiben ... die Mitarbeit der Laien ist so wichtig, daß ohne sie ein wirksames Apostolat der Hirten nicht zu erreichen ist... die Katholiken... sind verpflichtet, das wirkliche Wohl der Gemeinschaft zu suchen und müssen nach Kräften anstreben, daß die Zivilregierung gerecht vorgeht und ihre Gesetze den moralischen Gesetzen und dem Wohl der Gemeinschaft entsprechen" (VSN, SS. 58, 359, 362).

Diese Direktiven des Vatikanischen Konzils bedeuten für den religiösen Laien eine moralische Verpflichtung. In welche Konflikt-Situation ist der gläubige Litauer unter den sich widersprechenden Anordnungen von Staat und Kirche gestellt! Es will mir scheinen, daß diese anormale Lage deshalb entsteht, weil die sowjetischen Gesetzeserklärer den Glauben und die Gläu­bigen durch die Brille von Ammenmärchen über Hexen und verwunschene Schlösser sehen ...

P. Mišutis behauptet in seinem Artikel: „Es ist zweckmäßig, auch weiterhin die Forschungen über Religiosität zu verbessern und die Lage des Zere­monienvollzugs zu beobachten ..." Die Katholiken Litauens könnten diese Art Aufmerksamkeit als eine grobe Einmischung in die internen Anliegen der getrennten Kirchen empfinden, als Entsendung von Spionen in das Inne­re der Religionsgemeinschaften, und mit Recht fragen:

— Für wen haltet ihr uns! Für minderjährige Verbrecher?! Und deshalb habt ihr die Rolle eines mächtigen Beschützers und Beobachters übernom­men! Wie lange soll diese Lage noch dauern?!

Wenn unsere Gesetzeserklärer die religiöse Uberzeugung achteten, könnten sie es nicht verantworten, ein Verbot zu geben, das dem christlichen Haupt­gebot, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, widerspricht: „Sie haben kein Recht, Kassen für gegenseitige Unterstützung zu gründen und Wohltätig­keitsarbeit zu leisten."

Immer ist ein Gläubiger in Litauen, bei Wahrung seiner religiösen Überzeu­gung, in die schmerzliche Alternative gestellt, sich gegen das Gesetz des Staa­tes zu vergehen oder sein christliches Gewissen zu vergewaltigen. Was ist zu tun? Grundsätzlich bleibt das christliche Gewissen das Verpflich­tende. Die Gläubigen Litauens sind buchstäblich auf einen Kreuzweg ge­stellt. Die Entscheidung zwischen zwei gegensätzlichen Polen ist gefordert und muß von jedem einzelnen persönlich vollzogen werden. Die Situation würde zur Tragik, wenn die Eigenständigkeit der Moral des litauischen Vol­kes dabei nicht überlebt.

den 9. Februar 1975

Vytautas Vaičiūnas

Meine Adresse: Kaunas, Hipodromostr. 46—35.