Am 15. Dezember 1975 fand vor dem Obersten Gerichtshof der Litauischen SSR die Gerichtsverhandlung gegen den bekannten Biologen Sergej Kovaliov statt, der zugleich aktives Mitglied der Bewegung für Menschenrechte ist. Vorsitzender des Gerichtskollegiums war M. Ignotas, Mitglied des Obersten Gerichtshofes des Litauischen SSR. Beisitzer waren Frau Didžiulienė' und Terešin, Gerichtssekretär Frau Savinienė, staatlicher Ankläger Bakučionis, stellvertretender Staatsanwalt der Republik. Ein Pflichtverteidiger wurde vom Gericht gestellt.

S. A. Kovaliov wurde wegen des Verstoßes gegen Artikel 70 des Strafgesetz­buches der Russischen Föderation (RSFSR) angeklagt: wegen der Mitwir­kung in einer Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte, wegen der Unterzeichnung (seit 1969) vieler Erklärungen und eines Brief auf ruf es zur Verteidigung von Grigorenko, wegen einer Erklärung zum Jahrestag des Einmarsches in die Tschechoslowakei (1969), wegen der Verteidigung von Bukovskij (1971), von Jakir und Krasin (1973), wegen eines Aufrufes im Zusammenhang mit der Verbannung Solženicyns (1974), wegen eines Schreibens an die UNO bezüglich der Krimtataren (1974) und wegen eines Briefes an die Liga für Menschenrechte bezüglich Bukovskij (1974). S. A. Kovaliov wurde ferner der Teilnahme an einer Konferenz im Hause von A. D. Sacharov am Tage des „Politischen Gefangenen" und der Wei­tergabe von Material über sowjetische Arbeitslager ans Ausland beschuldigt. In der Schlußfolgerung der Anklage wurde dieses Material als „verleumde­rische Nachrichten" qualifiziert.

An den Ministerrat der Litauischen SSR Abschriften an:

— den Bevollmächtigten des Rates für religiöse Angelegenheiten beim Mi­nisterrat der Litauischen SSR,

·         die Ordinariatsverwaltung der Bistümer Litauens,

·         Seine Exzellenz Bischof V. Sladkevičius,

·         Seine Exzellenz Bischof J. Stepanovičius.

Erklärung

von Priestern der Erzdiözese Vilnius

Seit Anbeginn der katholischen Kirche, seit den Zeiten der Apostel, leiten Bischöfe mit ihrem Oberhaupt, dem Heiligen Vater, das Leben der Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil hat diese Rolle der Bischöfe als Nachfolger der Apostel, als berufene Lehrer, Heilende und Ordner besonders herausge­stellt. In aller Welt, kürzlich gegründete afrikanische Staaten nicht ausge­schlossen, werden die Diözesen von Bischöfen geleitet, die vom Apostolischen Stuhl ernannt worden sind. Nur kurzfristig, nach Ableben oder Rücktritt eines alten bis zur Ernennung eines neuen Bischofes, sind vorläufige Admini­stratoren ohne volle bischöfliche Amtsgewalt vorgesehen. Die Bistümer Litauens wurden normalerweise stets von Bischöfen geleitet. Lediglich im 19. Jahrhundert, als der Zarismus beabsichtigte, den katholischen Glauben zu schwächen oder ganz auszurotten, waren die Bistümer von Vilnius und Žemaitija (Samogizia) längere Zeit ohne bischöflichen Oberhirten. Die Priesterschaft der Erzdiözese Vilnius, unsere Gläubigen und alle litau­ischen Katholiken bedrückt es schmerzlich, daß es seit 15 Jahren, d. h. seit Anfang des Jahres 1961, in Vilnius keinen katholischen Bischof mehr gibt. Der vom Apostolischen Stuhl eingesetzte Bischof Julijonas Stepanovičius wurde auf Anordnung der Staatsregierung in das entfernte Städtchen Žagare verbannt. Die Amtsausübung ist ihm verwehrt. Der Priesterschaft und den Gläubigen ist diese Entscheidung der Staatsorgane und die lange Dauer der Verbannung des Bischofs unbegreiflich. Wir kennen den Bischof Stepanovi­čius als ruhigen, gewissenhaften, fleißigen und loyalen Mitbürger. Weder zur bürgerlichen Zeit, noch während der Naziokkupation, noch unter der Sowjetmacht hat er jemals antisowjetische Erklärungen abgegeben oder sich sonst in antisowjetischem Sinne betätigt. Als Bischof sorgte er dafür, daß die Priester ihren kirchlichen Dienst ordnungsgemäß verrichteten. Es ist uns zwar bekannt, daß zwischen ihm und dem damaligen Beauftragten für religiöse Angelegenheiten das eine oder andere Mißverständnis auftrat, was aber auf die Kompetenzüberschreitung und die Einmischung in innerkirch­liche Belange seitens des Beauftragten zurückzuführen war, der versuchte, den Bischof dazu zu zwingen, Verfügungen zur Einschränkung des religiösen Lebens zu erlassen, die seine bischöfliche Autorität untergraben hätten. Man vernimmt, daß auch Gläubige anderer Länder empört sind über die Ver­bannung des Bischofs aus Vilnius ohne irgendein Verschulden seinerseits, nur wegen seiner Glaubenstreue und der Achtung vor seinem Amt. Man verweist darauf, daß der Apostolische Stuhl sich mit der Regierung über den inzwi­schen verstorbenen Bischof K. Paltarokas über die Kandidatur des Pfarrers Julijonas für das Bischofsamt geeinigt hätte, während die Außeramtsetzung ohne Konsultation oder Vorankündigung an den Heiligen Stuhl erfolgte. Die Sowjetpresse und der Rundfunk betonen in letzter Zeit mit Nachdruck, die Sowjetmacht beabsichtige keineswegs, sich in die inneren Angelegenheiten der Kirche einzumischen. Da wir selbst ebenfalls normale Beziehungen zwi­schen Staat und Kirche, Regierung und gläubigen Bürgern befürworten, er­suchen wir den Ministerrat der Sozialistischen Sowjetrepublik Litauen, dem Bischof Julijonas Stepanovičius die Rückkehr nach Vilnius und eine ord­nungsgemäße Ausübung seines bischöflichen Amtes zu gestatten.

An den Vorsitzenden des Komitees für Staatssicherheit der UdSSR, I. V. Andropov

Am 23. Dezember 1974 erschienen bei mir fünf Tschekisten und zwei Kom­somolaktivisten, um mir zum heiligen Weihnachtsfest zu „gratulieren". Als Weihnachtsgeschenk brachten sie einen Befehl zur Haussuchung mit. In ge­wissem Sinne war es auch ein Jubiläum, denn vor genau dreißig Jahren wurde in meinem Vaterhaus im Dorf Krivasalis, Rayon Ignalina, die erste Haussuchung durchgeführt.

In den Jahren 1944 bis 1947 wurden bei mir zahlreiche geheimdienstliche Durchsuchungen ohne Zustimmung der Staatsanwaltschaft durchgeführt. In den Jahren 1949 bis 1955 war die Tscheka mit anderen Dingen so sehr be­schäftigt, daß sie bei mir keine Haussuchungen vornehmen konnte. So wurde ich direkt aufs Militärkommissariat geladen und von dort zum MGB weiter­transportiert.

Nach dem XX. Parteikongreß fanden die Haussuchungen meist mit ord­nungsgemäßer Genehmigung der Staatsanwaltschaft statt, manchmal aller­dings auch geheim.

Am 16. Oktober 1964 wurde meine Schwiegermutter, Ursula Keraitiene, aufgesucht. Man nahm sie zur Sicherheitsbehörde mit, um sich mit ihr über den Schwiegersohn zu unterhalten, der, wie man sagte, zwar nur selten die Kirche besuche, sich aber in seinem Kampf gegen die Sowjetmacht Freunde unter Russen und sogar unter Juden suche! Zur selben Zeit durchsuchten an­dere Tschekisten meine Bücher und Notizen. Warum werde ich eigentlich seit 30 Jahren vom KGB terrorisiert? Meine Eltern hatten kaum drei Hektar Land und arbeiteten oft als Schar-werker auf einem Gutshof. Im Jahre 1940 erhielten sie drei Hektar Land

Die Kirche „St. Peter und Paul" in Vilnius wird jetzt restauriert. Sie soll später ein „Museum des progressiven Geistes" werden.

Außenansicht der St.-Anna-Kirche.

 

von der Sowjetmacht, 1944 sieben Hektar. Ein Onkel versuchte, meinem Vater in den Jahren 1940/41 immer einzureden, nur dank Väterchen Stalin sei unsere Sippe vor Not bewahrt worden. Doch am 14. Juni 1941 wurde er mit seiner Frau und den kleinen Kindern nach Sibirien geschickt. Unter­wegs trennte man ihn von seiner Familie und brachte ihn in ein Lager, wo er nach einigen Monaten umkam. Seine Frau dagegen verhungerte. Die Nacht vom 14. zum 15. Juni 1941 wird mir ewig im Gedächtnis bleiben. Die Eltern waren unterwegs, um sich von den Nachbarn, die deportiert werden sollten, zu verabschieden. Ich war damals 13 Jahre alt, und beim Warten auf die Rückkehr der Eltern bin ich, glaube ich, erwachsen geworden. In jener Nacht ward in meinem Herzen der unauslöschliche Haß auf Stalin geboren ... Als ich während meiner Studienzeit später Vorlesungen über die uneigennützige Liebe des Genossen Stalin für das Volk der Litauer anhören mußte, begann ich auch die Verbreiter dieser Lügen zu hassen.

Vilnius

Am 1. Juni 1975 wurde die Ingenieurin Bronė Kibickaitė von ihrem Ar­beitsplatz beim Rechenzentrum der Staatsuniversität Vilnius entlassen. Bereits Anfang September 1974 hatte ihr der Dekan der Mathematischen Naturwissenschaftlichen Fakultät, Merkys, erklärt, daß man sie von der Arbeit entlassen müsse und ihr einen Bogen Papier in die Hand gedrückt, mit der Aufforderung, eine „Entlassung auf eigenen Wunsch" zu beantragen. „Wozu brauchen Sie mein Gesuch? Erlassen Sie doch selbst eine entspre­chende Anordnung", entgegnete B. Kibickaitė.

„Wir haben keinen Grund ... Verstehen Sie uns doch bitte. Schreiben Sie ein Gesuch, es ist das Beste für Sie und uns. Wir werden Ihnen auch eine gute Charakteristik ausstellen", erklärte der Dekan.

„Ich bitte nicht um Gnade. Wenn ich aber etwas verschuldet habe, so entlas­sen Sie mich bitte." „Verstehen Sie doch", bat der Dekan.

Ähnliche Unterhaltungen gab es nicht nur im Dekanat, sondern auch am Ar­beitsplatz und im Zimmer ihres Chefs. Auf die Frage von Fräulein B. Ki­bickaitė, warum sie entlassen werde, wußte niemand eine Antwort. „Wir wissen von nichts, verstehen Sie uns bitte."

Wegen Einhaltens religiöser Feiertage und Nichterscheinens am Arbeitsplatz am 10. November, 8. und 25. Dezember 1974 und 6. Januar 1975 wurde der Anstreicher Mečislovas Jurevičius am 10. Januar 1975 von seiner Arbeits­stelle beim Produktionslehrkombinat der LAD Šiauliai entlassen. M. Jurevičius legte beim Volksgericht Šiauliai Berufung wegen unrechtmäßi­ger Arbeitsentlassung ein, jedoch wurde sein Antrag abgewiesen. Um Rechts­beistand ersucht, verweigerten die Rechtsanwälte in Šiauliai die Übernahme des Falles. Auch der am Prozeß teilnehmende Staatsanwalt J. Pivaras ver­teidigte nicht M. Jurevičius' Recht auf Arbeit, das durch die Bestätigung der Entlassung auch durch das Gericht offenkundig verletzt wurde. Die Juristin des Betriebes, M. Čepuliene, war nicht in der Lage, dem Gericht auseinander­zusetzen, daß die internen Arbeitsbestimmungen des Produktions- und Lehr­kombinats beim LAD Šiauliai dem Artikel 124 der Verfassung der UdSSR sowie dem Artikel 96 der Verfassung der Litauischen SSR widersprechen, und daß der Artikel 143 des Strafgesetzbuches der Litauischen SSR dafür strafrechtliche Maßnahmen vorsieht. Außerdem wurde bei der öffentlichen Verhandlung die Bekanntgabe der nachstehenden Erklärung des M. Jurevi­čius unterlassen.

Im Juni 1975 wurde der Lehrer am Polytechnischen Institut Kaunas, R. Pa­tašius, zum Militärkommissariat bestellt, wo ihn der KGB-Mitarbeiter Rusteika erwartete. Letzterer stellte sich als Beauftragter für das Polytech­nische Institut vor und lud R. Patašius zu einer „Unterhaltung" ins KGB ein, die vier Stunden andauerte.

Von Anfang an wurde R. Patašius als finsterer Verbreiter antisowjetischer Ressentiments und auch sonst als schlechter Mensch behandelt... „Wissen Sie, man kann Sie jeder Zeit von ihrer Arbeit entlassen", erklärte Rusteika. „Entlassen Sie, wenn Sie können", antwortete R. Patašius mutig, „je eher, desto besser."

Rusteika warf R. Patašius vor, als Leiter des Amateur-Filmstudios „KIP-Film" zeichne er sich durch antisowjetische Haltung aus und in Privat­gesprächen schmähe er die Sowjetgesellschaft.

Man verlangte von R. Patašius, er möge ausführlich Einzelheiten über die Ansichten und Gefühle der anderen Mitglieder des Studios berichten. Pata­šius ließ diese Aufforderung unbeantwortet.

Šiauliai

Am 16. September 1975 fand eine Versammlung der Abteilung Metalldreher der Technischen Berufschule Šiauliai statt, während der man eine ganze Schülergruppen als Komsomolmitglieder eintragen wollte. Jeder Schüler wurde einzeln vorgeladen und vor versammelter Klasse gefragt: „Willst du selber nicht in die Komsomolorganisation eintreten, oder verbieten es deine Eltern?" Wer dem Komsomol nicht beitreten wollte, mußte die Klasse ver­lassen und die Eltern mitbringen. Der Schüler Urbutis erklärte, er werde dem Komsomol auch nicht unter Druck beitreten.

„Ich werde auch der Gewalt nicht weichen. Weder ich noch meine Eltern wol­len, daß ich dem Verband der Jungkommunisten beitrete." Befragt, ob seine Eltern womöglich religiös seien und in die Kirche gehen, antwortete der Schüler:

„Wir sind alle religiöse Gläubige und gehen alle zur Kirche." Man begann, sich über den Jungen lustig zu machen. Der Meister Gylys und Milius befahlen den Beitrittsverweigerern eine halbe Stunde lang mit erhobe­nen Händen dazustehen.

„Alle Diebe, Rabauken und Faschisten sind Nichtkomsomolzen", brüllte Milius. „Wer den Fragebogen ausfüllt, braucht nicht mehr mit erhobenen Händen dazustehen — wer den Fragebogen nicht ausfüllt, wird aus der Schule ausgestoßen."

Trotz des eine ganze Stunde andauernden Terrors, kapitulierten die Schüler nicht. Dann wurden die Eintrittsverweigerer zu den schwersten Arbeiten eingeteilt. Die Hälfte der Klasse verweigerte weiter den Beitritt zum Kom­munistischen Jugendverband.