Am 15. Dezember 1975 fand vor dem Obersten Gerichtshof der Litauischen SSR die Gerichtsverhandlung gegen den bekannten Biologen Sergej Kovaliov statt, der zugleich aktives Mitglied der Bewegung für Menschenrechte ist. Vorsitzender des Gerichtskollegiums war M. Ignotas, Mitglied des Obersten Gerichtshofes des Litauischen SSR. Beisitzer waren Frau Didžiulienė' und Terešin, Gerichtssekretär Frau Savinienė, staatlicher Ankläger Bakučionis, stellvertretender Staatsanwalt der Republik. Ein Pflichtverteidiger wurde vom Gericht gestellt.

S. A. Kovaliov wurde wegen des Verstoßes gegen Artikel 70 des Strafgesetz­buches der Russischen Föderation (RSFSR) angeklagt: wegen der Mitwir­kung in einer Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte, wegen der Unterzeichnung (seit 1969) vieler Erklärungen und eines Brief auf ruf es zur Verteidigung von Grigorenko, wegen einer Erklärung zum Jahrestag des Einmarsches in die Tschechoslowakei (1969), wegen der Verteidigung von Bukovskij (1971), von Jakir und Krasin (1973), wegen eines Aufrufes im Zusammenhang mit der Verbannung Solženicyns (1974), wegen eines Schreibens an die UNO bezüglich der Krimtataren (1974) und wegen eines Briefes an die Liga für Menschenrechte bezüglich Bukovskij (1974). S. A. Kovaliov wurde ferner der Teilnahme an einer Konferenz im Hause von A. D. Sacharov am Tage des „Politischen Gefangenen" und der Wei­tergabe von Material über sowjetische Arbeitslager ans Ausland beschuldigt. In der Schlußfolgerung der Anklage wurde dieses Material als „verleumde­rische Nachrichten" qualifiziert.

S. A. Kovaliov wurde beschuldigt, die Herausgabe der „Chronik der laufen­den Ereignisse" erneuert, dafür Material gesammelt, es redigiert und die Nummern 28 bis 34 der „Chronik" ins Ausland geleitet zu haben. Die Schlußfolgerung der Anklage stützt sich auf die Übereinstimmung des bei Kovaliov gefundenen Materials mit dem Material in der „Chronik" und auf die Anmerkungen Kovaliovs auf einigen Dokumenten. Der Anklagepunkt bezüglich der Weitergabe der „Chronik" ins Ausland be­gründete sich auf Erklärungen von Kovaliov, T. Velikanova und T. Chodo-rovis im Mai 1974, in denen die Absicht geäußert wurde, die „Chronik" zu verbreiten, und ferner auf die Tatsache, daß die Nummern 28 bis 34 der „Chronik" im New Yorker Verlag „Kronika-Press" erschienen sind. Kovaliov wurde beschuldigt, drei Nummern der „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche" aufbewahrt und für die „Chronik der laufenden Er­eignisse" ausgewertet zu haben.

Ferner wurde Kovaliov die Verbreitung des Buches Archipel Gulag von A. I. Solzenicyn zur Last gelegt. In seiner Wohnung wurden eine Xerox-Fotokopie und Teile einer weiteren Schreibmaschinenabschrift des Buches gefunden. Die diesen Anklagepunkt betreffende Beweisführung bezog sich auf das bei V. Meresin beim Versuch des Fotokopierens beschlagnahmte und den Sicherheitsorganen übergebene Buch sowie auf Kovaliovs Brief an An-drovpov (Oktober 1974), mit der Bitte, ihm sein Buch zurückzugeben. Zu den einzelnen Punkten der Anklage bekannte sich S. A. Kovaliov als nicht schuldig. Auf die Frage des Richters: „Erkennen Sie die faktischen Um­stände in den Schlußfolgerungen der Anklage an?" verweigerte er die Ant­wort.

Zu Beginn der Verhandlung bat S. Kovaliov um drei Dinge:

1.      Die Genehmigung zur Benutzung des Textes der Allgemeinen Dekla­ration der Menschenrechte.

2.     Die Vorladung einer Anzahl von Zeugen, darunter Krasin und Jakir.

3.     Die Ernennung von S. V. Kalistratov oder I. Kaminskaja als Verteidiger.

 

Bereits während der Voruntersuchung und nach ihrem Abschluß hatte Ko­valiov persönlich sowie auch seine Ehefrau, um den Beistand dieser Rechts­anwälte ersucht. Der Antrag war abgelehnt worden, unter anderem, weil diese beiden Rechtsanwälte keine „Genehmigung" besäßen. Außer der Vorladung Krasins wurden alle Anträge Kovaliovs vom Gericht abgelehnt.

 

Auf den vom Gericht gestellten Pflichtverteidiger verzichtete Kovaliov. Das Gericht forderte Kovaliov zunächst auf, sich zu äußern. Der Angeklagte er­klärte daraufhin, er habe während der Befragung nicht ausgesagt und die Beteiligung an der Untersuchung verweigert, da er sie als unrechtmäßig und verbrecherisch ansehe. Nur in Ausnahmefällen habe er seine Meinung wegen des Untersuchungsmodus objektiver Fakten geäußert.

 

Es wäre logisch, erklärte Kovaliov, in der Gerichtsverhandlung die gleiche Haltung einzunehmen, denn bei Prozessen wie diesem würden die Men­schen nicht wegen ihrer Vergehen, sondern wegen ihrer Uberzeugung verur­teilt. Er werde sich jedoch an dem Prozeßverlauf beteiligen, soweit es sich um die Feststellung handele, ob die Briefe und die „Chronik" wirklich lüg­nerische Aussagen enthielten. Nicht beantworten werde er jedoch die Fragen danach, wer das eine oder andere Dokument unterschrieben habe und wann. In der Darlegung seiner eigenen Meinung zu den Briefen und der „Chronik" bezeichnete Kovaliov beide als nützlich und nicht gesetzwidrig. Er erklärte, es sei zu bedauern, daß es in der „Chronik der laufenden Ereignisse" Fehler gebe, er sei bereit, sich an deren Analyse zu beteiligen und verfüge über Be­weise, daß es sich dabei eben um Fehler und nicht um bewußte Fälschungen handele.

 

Am zweiten Verhandlungstag (10. Dezember) wurden 22 Zeugen befragt. Die Ärztin L. A. Liubarskaja aus der Psychiatrischen Spezialklinik von Dnjepropetrovsk wurde über den Krankenhausaufenthalt und die Behand­lung des Patienten Plu<>¿ befragt. Der Richter formulierte die Fragen auf Grund der Berichte in der „Chronik" Nummer 34. Die Zeugin Liubarskaja antwortete darauf, daß man sich im Krankenhaus strikt an die Vorschriften gehalten habe.

Kovaliov behauptete jedoch, in der Sowjetunion würden die psychiatrischen Kliniken zur Beseitigung Andersdenkender mißbraucht und erklärte, ihm selbst habe man eine Verteidigung mit den Argumenten seiner Zeugen nicht erlaubt. Das Gericht lehnte den Antrag von Kovaliov ab, die Frau von Piuse (Zitnikova) als Zeugin anzuhören.

 

Zum Krankenhausaufenthalt von P. G. Grigorenko wurde der stellvertre­tende Oberarzt des Psychiatrischen Krankenhauses im Rayon Cechov, Kreis Moskau, A. A. Kozeiachin, verhört. Das Gericht wies mehrere Fragen Kovaliovs an den Zeugen zurück. Unter anderem blieb die Frage unbeant­wortet: „In welcher Hinsicht hatte sich bei der Entlassung der Gesundheits­zustand Grigorenkos gebessert?"

 

Wegen des Berichtes über den Krankenhaus- und Gefängnisaufenthalt von Chans in der Nummer 32 der „Chronik" waren folgende Personen als Zeu­gen geladen: der Arzt B. V. Polkin des Zentralen Psychiatrischen Kranken­hauses des Gebietes Kirov und der Oberkontrolleur der Verwaltung des In­neren im selben Gebiet, I. P. Kaftaniuk. Der Richter verlas aus dem Ver­handlungsprotokoll die Aussagen von Chans: er sei während der Haft zum

Invaliden geschlagen worden, habe siebenmal im Karzer gesessen und sei in Einzelhaft gehalten worden. Der Aufseher Kaftaniuk erklärte dazu: „Im Gefängnis der Stadt Kirov gibt es keine Einzelzellen, siebenmal Karzer kann physisch niemand überstehen."

 

Es wurden noch weitere Episoden aus der Berichterstattung der „Chronik" untersucht. Der Zeuge Gudas, Buldozzerfahrer des Holzverarbeitungskom­binates im Rayon Kaunas, und die Zeugin Skvorzova aus Archangelsk be­stritten teilweise gewisse Behauptungen der „Chronik". Der Richter lehnte viele Fragen Kovaliovs an die Zeugen ab.

Eine Zeugengruppe (V. N. Cukina, V. A. Garbatov, J. L. Dobracev und V. M. Meresin) wurde im Zusammenhang mit dem Fotokopieren des Buches Archipel Gulag von Solzenicyn befragt. Nach den Aussagen habe Garba­tov die Genehmigung an Dobracev erteilt, im Laboratorium ein Buch von Schweizer zu fotografieren. Meresin habe Dobracev dabei geholfen, und als dieser sich entfernte, begann der Helfer mit dem Fotografieren des Ar­chipel Gulag. Von Frau Čikina darüber verständigt, erschien Garbatov, nahm das Buch und den Film an sich und übergab sie später den Sicherheits­behörden.

 

V. Mereska weigerte sich, die Frage zu beantworten, wessen Eigentum das fotografierte Exemplar des Archipel Gulag sei. Er erklärte, seine Weige­rung habe ausschließlich moralische Motive.

Zur Person der Zeugen vernommen, erklärte V. F. Turčin, er kenne Ko-valiov gut und seit langem und sei davon überzeugt, daß sich Kovaliov nie­mals mit der Verbreitung irgendwelcher verleumderischer Dokumente befas­sen würde.

Nachdem der letzte Zeuge, V. Turčin, befragt und beide Parteien angehört worden waren — der Staatsanwalt war mit der Entlassung der Zeugen ein­verstanden, während Kovaliov dem widersprach —, erklärte der Richter Ignotas, die Zeugen seien entlassen und ordnete eine Verhandlungspause an. Die Zeugen Boizova, Turčin, Litvinov, Jasinovskaja, Meresin und Misjakin verblieben jedoch auf ihren Plätzen und wurden daraufhin ausdrücklich auf­gefordert, den Saal zu verlassen, da der Raum gelüftet werden müsse. Der Hauptmann der Wache berief sich sogar auf einen entsprechenden Gerichts­beschluß ... Die Zeugen zeigten sich erstaunt darüber, wieso die richterliche Genehmigung, den Saal zu verlassen, als Befehl ausgelegt werde: ein ent­sprechendes Gerichtsurteil gar stünde im Widerspruch zu der Strafprozeß­ordnung. Die Einwände der Zeugen blieben fruchtlos, und man traf Vor­bereitungen, sie gewaltsam hinauszubefördern. V. Turčin gelang es schließ­lich, das Versprechen des Hauptmannes zu erwirken, sie nach der Pause wie­der in den Saal zu lassen, worauf die Zeugen den Raum verließen. Einige Minuten vor Ende der Pause verschwand dann der Hauptmann aus dem Gerichtsgebäude. Außer L. Boizova wurde nach der Pause kein Zeuge in den Saal gelassen.

 

Die uniformierten Wachen stießen die Zeugen gewaltsam von der Tür weg, mitten durch das in den Verhandlungsraum einströmende zugelassene „eigene Publikum", welches sich einmütig ob der „Unbotmäßigkeit dieser Moskowiter" ereiferte. Die Zeugen M. M. Litvinov und J. F. Orlov, die ver­sucht hatten, in den Saal zu gelangen, wurden in ein Sonderzimmer abgeführt und wegen „Widerstands gegen Staatsbeamte" mit Verhaftung bedroht. Erst nach einer Stunde wurden sie entlassen.

Bei seiner Abführung zu Beginn der Pause bemerkte Kovaliov, daß viele Zeugen auf ihren Plätzen verblieben waren. Als er dann am Ende der Pause den Lärm und Streit an der Eingangstür vernahm und im Saal nur die Zeugin Boizova vorfand, erklärte Kovaliov, er werde nicht im Saal bleiben, wenn nicht alle Zeugen eingelassen würden ... Er habe nicht die Absicht, weiter an der Verhandlung teilzunehmen und trete einen Hungerstreik an, bis die Zeugen und alle, die es sonst wünschten, der Verhandlung beiwoh­nen könnten. Jetzt verlange er, daß man ihn abführe. Der Richter vertagte die Verhandlung daraufhin auf den 11. Dezember, 10 Uhr. V. Turcin, V. Meresin, M. Litvinov, A. Misjakin und F. Jasinovskaja pro­testierten mit einer Eingabe beim Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes der Litauischen SSR wegen der unrechtmäßigen Entfernung von Zeugen aus dem Verhandlungsraum und verlangten, gestützt auf Artikel 313 des Straf­gesetzbuches der Litauischen SSR, den Verhandlungen bis zum Abschluß des Verfahrens beiwohnen zu dürfen. Allen Zeugen wurde daraufhin erlaubt, im Saal zu bleiben.

Zu Beginn der Verhandlung am 11. Dezember schilderte Kovaliov den Vor­fall mit den Zeugen vom Vortage und erklärte:

1.      Allen Zeugen sei die Anwesenheit im Verhandlungsraum zu gewährlei­sten, soweit sie dies wünschten, und ihm (Kovaliov) persönlich bzw. sei­ner Frau sei zu ermöglichen, sich davon zu überzeugen, daß die anderen wirklich nicht an der Verhandlung teilzunehmen wünschten.

2.      Insbesondere lege er Wert auf die Anwesenheit von A. D. Sacharov, T. M. Velikanova, A. P. Ievut, M. N. Land, V. A. Rekubratisk, J. F. Or­lov, ferner von anderen seiner Freunde, die an diesem Prozeß teilneh­men wollten und deren Namen seine (Kovaliovs) Frau und die Zeugen angeben würden. Weiter machte er zur Bedingung: „Ich muß die Mög­lichkeit haben, nachzufragen, ob alle diejenigen, die teilnehmen wollen, auch wirklich eingelassen worden sind."

3.      Innerhalb des Verfahrens Fragen zu besprechen, die außerhalb der Ver­handlungsmaterie lägen, wie dies in ähnlichen Fällen oft planmäßig be­trieben werde, sei ein Verstoß gegen das Prinzip der Öffentlichkeit der Verhandlung. Ferner verlange er, alle von ihm benannten Personen als

Zeugen zu vernehmen, einschließlich derjenigen, die zur Verhandlung er­schienen seien; wenn er ihre Namen zur Zeit noch nicht kenne, möchten die Zeugen diese nennen.

4.        Schließlich verlange er die Aufnahme dieser Erklärung in die Prozeß-
akten.

„Meinerseits bedaure ich die gefallenen literarischen' (wiederzugebenden), aber doch beleidigenden Äußerungen. Ich bin bereit, mich vor Gericht und in Gegenwart aller Beteiligten zu entschuldigen und meine Gedanken in weniger scharfen Worten auszudrücken. Die folgende Version scheint mir dabei angebracht:

,Ihrer zynischen Eigenmächtigkeit ist eine Grenze zu setzen. Ich bin weder willens noch bereit, unter Menschen zu verbleiben, die bewußt gegen die Ge­setze verstoßen oder dazu Hilfestellung geben.' Natürlich verstehe ich, daß eine Entschuldigung die strafrechtliche Verantwortung wegen Beleidigung nicht aufhebt. Für den Fall aber, daß meine bescheidenen, nicht übertriebe­nen Forderungen unerfüllt bleiben, werde ich meinen Hungerstreik bis zum Abschluß der Verhandlung nicht abbrechen und selbstverständlich nicht mehr in diese Verhandlung zurückkehren.

 

Wenn das Gericht so leicht ohne einen Verteidiger auskommt, so wird es den Fall sicher auch ohne den Angeklagten beenden können. Ich darf noch hinzufügen, daß ich midi sehr getroffen fühlen würde, wenn meine Forderungen nicht erfüllt würden. Ich war darauf vorbereitet, dem Gericht gewichtige Beweise meiner Unschuld zu erbringen, ohne daß ich da­von etwa ein gerechtes Urteil erwarten würde. Trotzdem täte es mir sehr leid, wenn mir durch die Ablehnung meiner Forderungen diese Möglichkeit genommen würde. Doch was kann man tun?!"

 

Der Richter erklärte daraufhin, daß die Zeugen, die heute erschienen seien und um Einlaß gebeten hätten, im Saal seien. Andere seien nach Hause ge­fahren. Die Zulassung anderer Personen sei keine Verfahrensfrage, sondern und vielmehr vom Gerichtskommandanten zu entscheiden. Das Richterkol­legium habe die in der Erklärung des Angeklagten Kovaliov enthaltenen Anträge abgelehnt.

5.        Kovaliov erklärte dann kategorisch, die Öffentlichkeit der Verhandlung
sei ein prozedurales Prinzip und die Abwälzung auf den Gerichtskommandanten entbehre jeder Grundlage. Er verlangte Erfüllung seiner Forderungen oder sofortiges Abführen aus dem Verhandlungsraum. Beim Hinausgehen unter Bewachung sagte Kovaliov den Zeugen in der ersten Bankreiheim Vorübergehen: „Alle meine Liebe mit euch, denen hinter der Tür und in Moskau! Heiße Grüße an Andrej Dimitrijewitsch."

Nach einer Besprechung beschloß das Richterkollegium den Ausschluß Ko-valiovs und die Weiterführung der Verhandlung in dessen Abwesenheit.

Der Gerichtshof begann mit der Beweisführung. Verlesen wurden die dienst­lichen Charakterzeugnisse über S. Kovaliov aus der Universität, an der er bis 1969 tätig war, und der Moskauer Experimentierstation für Fischzucht und Melioration (1970—1974). In den Charakterreferenzen war von den Resultaten seiner wissenschaftlichen Arbeit die Rede.

 

Der Richter nannte Dokumente: von Kovaliov unterzeichnete Erklärungen und Briefe; Prozeßprotokolle der Verfahren gegen Jakir und Krasin, wo in bezug auf die Initiativgruppe neben anderen auch Kovaliov genannt wurde; einen offenen Brief, in dem die Ziele und Aufgaben der Initiativgruppe er­läutert wurden; den Appell an den 5. Kongreß für Psychiatrie, mit dem Hin­weis, daß die Medizin zu Zwecken politischer Unterdrückung mißbraucht werde; ein Sichtungsprotokoll über die bei der Haussuchung beschlagnahm­ten Dokumente, darunter verschiedene Briefe und Material aus Haftanstal­ten, Unterlagen über Verhaftungen und Gerichtsverhandlungen, eine Liste von Verurteilten, Briefe aus Lagern; Einzelnummern der „Chronik der lau­fenden Ereignisse" und der „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche"; verschiedenes Material über die Lage der orthodoxen Kirche Georgiens; den „Moskauer Aufruf" anläßlich der Verbannung Solženicyns; eine Aufforde­rung: „Wir bitten diese Nachrichten an internationale Organisationen wei­terzuleiten, deren Ziel die Verteidigung der Persönlichkeitsrechte gemäß der .Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte' ist"; ferner Adressen an das Komitee und die Internationale Liga zur Verteidigung der Menschenrechte und an Amnesty International.

Es folgte ein graphologisches Gutachten, nach dem die Anmerkungen, die auf den Dokumenten in Maschinenschrift angebracht waren, der Handschrift S. Kovaliovs entsprächen.

 

Der Staatsanwalt ersuchte ferner um die Bekanntgabe einiger Dokumente von möglicher Beweiskraft, nämlich Vergleiche verschiedenen Materials aus der „Chronik" mit Unterlagen, die bei Kovaliov und Korolev gefunden worden seien.

Auf Beschluß des Richterkollegiums wurde Kovaliovs Antrag auf Vorladung weiterer Zeugen abgelehnt. Aus der Voruntersuchung verlesen wurde da­gegen die Aussage der Ärztin Botschkovskaja vom Psychiatrischen Kranken­haus Dnjepropetrovsk. Es ergaben sich einige Unterschiede zur gerichtlichen Aussage der Ärztin Liubarskaja.

 

Die richterliche Beweisführung war damit abgeschlossen und das Gericht schritt zur Anhörung der Parteien.

S. Kovaliov übergab dem Gericht eine Erklärung, daß er nicht einen Schritt von seinen Forderungen abweiche. Unter anderem heißt es darin: „Meine Teilnahme an der Verhandlung erscheint mir nach wie vor allein schon des­halb wichtig, weil ich mich sorgfältig darauf vorbereitet habe. Wie gesagt, glaube ich mit untauglichen Mitteln vorgegangen zu sein. Das Gericht selbst hat mich durch die Saalverweisung der Zeugen dazu provoziert. Sonst hätte ich solche Forderungen nicht gestellt. Diese Art Rechtsbruch ist in Verhand­lungen analoger Sachverhalte so sehr gang und gäbe geworden, daß bereits eine Tendenz zur .Notwendigkeit' erkennbar ist. Vielleicht hätte ich auch das wegen der Wichtigkeit der Teilnahme an dem Verfahren in Kauf genom­men. Doch ist Bedauern nach dem erfolgten Konflikt jetzt fehl am Platze. Ich werde meine Forderungen nicht abändern, habe meinen Hungerstreik nicht unterbrochen und werde ihn auch nicht unterbrechen." In Abwesenheit des Angeklagten und des Verteidigers hatte der Staats­anwalt das Wort.

 

Der Ankläger zählte erneut die von Kovaliov unterzeichneten Briefe und Erklärungen auf und belegte die Authentizität der Unterschriften in aus­schließlich dokumentarischer Beweisführung mit Zitaten aus der „Chronik", sogar mit Auszügen aus den Programmen ausländischer Rundfunkanstalten, wie „Radio Svoboda", BBC und „Stimme Amerikas". Auf den Inhalt der Dokumente selbst ging man nicht ein. Der Staatsanwalt Bakučionis erklärte schließlich: „Die persönliche Uberzeugung eines Menschen ist der Sowjet­macht gleichgültig; wichtig ist, daß er sie für sich behält und keine Ver­brechen damit begeht. Aus der Dokumentation über Freiheit, die Kovaliov unterzeichnet hat, ergibt sich folgendes eindeutig: Es handelt sich hier um den Versuch, dem sowjetischen Menschen den bürgerlichen Freiheitsbegriff aufzunötigen und Freiheit als Unabhängigkeit von der Gesellschaft darzu­stellen."

 

Der Staatsanwalt sprach von einer vergrößerten Gefahr, die von einer Tätigkeit ausgehe, wie sie Kovaliov betrieben habe. Daher sehe er keine strafmildernden Umstände und beantragte als Strafe sieben Jahre Haft bei strengem Regime, zusätzlich eine dreijährige Verbannung. (Der Staatsanwalt verwies auch auf die Haltung des Zeugen Meresin vor Gericht und seine Aussageverweigerung zu der Frage, wem das Buch Archipel Gulag gehört habe.)

 

Nach diesen Ausführungen der Anklage erklärte der Vorsitzende, das Ge­richt trete in die Urteilsberatung ein. Sie dauerte nahezu 24 Stunden. Etwa eine Stunde vor Abschluß der Beratungen wandte sich das Gericht mit dem Vorschlag an den im Gefängnis befindlichen Angeklagten, auf ein Schluß­wort zu verzichten. Kovaliov verzichtete. Der Verzicht wurde vom Gericht vor Verlesung des Urteils am 12. Dezember 1975 bekanntgegeben. Das Urteil erklärt die Schuld des Angeklagten in allen Punkten der Anklage für erwiesen. Im subjektiven Sinne, gestützt auf den Inhalt der Beweisdoku­mente selbst und angesichts deren Verwendung durch die ausländische Pro­paganda, wird erkannt, daß S. A. Kovaliov die Absicht hatte (was er selbst bestreitet), die Sowjetmacht zu stürzen oder zumindest zu schwächen. Das Strafmaß: Sieben Jahre Haft in Lagern mit strengem Regime und drei­jährige Verbannung.

 

Das Urteil ist endgültig und keine Berufung möglich. In einem Teilurteil wird das Material über die Aussageverweigerung des Zeugen Meserin zur weiteren Untersuchung an die Staatsanwaltschaft übergeben.

 

Vilnius zur Zeit der Verhandlung gegen Kovaliov

Obwohl die Voruntersuchung und die Verhandlung im Falle S. A. Kovaliov in Vilnius durchgeführt wurden, stützte sich die Anklage auf den Artikel 30 des Strafgesetzbuches der Russischen Förderation (RSFSR). Die Staatsge­walt wollte in dieser Sache möglichst wenig „Publicity" haben. Schließlich ist S. A. Kovaliov ein weltbekannter Streiter für die Menschenrechte und ein mutiger Verteidiger verfolgter Sowjetbürger, darunter auch der katholischen Literatur.

 

In Litauen konnte der Prozeß gegen einen Mann, der für die Menschenrechte und die Freiheit des Wortes, der Presse und des Gewissens eintritt, nieman­den gleichgültig lassen, besonders keinen gläubigen Christen im Sinne des Evangeliums: „Ich war nackt und ihr habt mich gekleidet, ich war krank, doch ihr pflegtet mich, ich war gefangen und ihr habt mich besucht". So waren viele Menschen aus allen Teilen Litauens gekommen, um mit eigenen Augen den Mann zu sehen, der es wagte, zur Verteidigung der Verfolgten „wider die Mächtigen der Welt" aufzustehen. Und beim Herannahen der Verhandlung beteten viele um Gottes Beistand für ihren Wohltäter. Doch auch der Oberste Gerichtshof und das Komitee für Staatssicherheit (KGB) trafen sorgfältige Vorbereitungen für den Prozeß. Es war klar, daß Verwandte und Freunde von S. Kovaliov nach Vilnius kommen würden und der Prozeß Widerhall in aller Welt finden würde. Die Rolle eines Richters in solchen Prozessen ist keinesfalls beneidenswert. Einerseits muß unbedingt eine Verurteilung erfolgen, andererseits muß der Richter trotzdem den Schein der Objektivität wahren, sich an die vorgesehene Prozedur halten und dem Angeklagten alle gesetzlich eingeräumten Rechte zubilligen. Doch wie, wenn es zu einer Kompromittierung der Sicherheitsorgane kommt, die S. Kovaliov schließlich während eines Jahres in Untersuchungs- und Gefäng­nishaft gehalten hatten? Daher bemühten sich alle Richter des Obersten Ge­richtshofes nach Kräften, nicht mit diesem Prozeß betraut zu werden. Nach langem Hin und Her wurde schließlich dem Leiter der Parteizelle beim Obersten Gerichtshof, Ignotas, diese heikle Aufgabe übertragen. Bereits zwei bis drei Wochen vor Prozeßbeginn wurden oppositionelle Dis­sidenten von den Militär- und Milizbehörden vorgeladen, wo sie von Sicher­heitsbeamten erwartet wurden. Mit Überredungskünsten und Drohungen versuchten die Tschekisten, von den Vorgeladenen das Versprechen zu er­pressen, der Verhandlung fernzubleiben. Der Leiter einer wissenschaftlichen Forschungsgruppe für Thermo-Isolation, Juozas Prapiestes, wurde im No­vember ins Militärkommissariat von Vilnius geladen und dort von einem

Geheimdienstler gewarnt, nicht an der Verhandlung gegen S. Kovaliov teil­zunehmen. Freunde von J. Prapiestis hatten ebenfalls Unterredungen mit Sicherheitsbeamten.

 

Vor Prozeßbeginn wurde in verschiedenen Betrieben angerufen, um sicher­zustellen, daß gewisse Leute der ersten Arbeitsschicht zugeteilt würden. Am Morgen des 9. Dezember kamen mehrere Dissidenten und Verwandte von S. Kovaliov mit der Eisenbahn aus Moskau nach Vilnius, darunter seine Frau, sein Sohn und sein Bruder. Ferner war das Akademiemitglied Sacharov angereist, der Leiter der Moskauer Sektion von Amnesty International, Turcin, das Akademiemitglied Orlov und dessen Frau aus Armenien, Litvinov samt Gemahlin und schließlich — mit Sondergenehmigung! — der Korrespondent der kanadischen Zeitung Toronto Star, M. Levi, mit seiner Frau u. a., zusammen etwa 20 Personen. Anderen war es nicht gelungen, Moskau zu verlassen.

 

T. Velikanova, T. Chodrovič und M. Land wurden von Mitarbeitern des (Moskauer) KGB bereits auf dem Weg zum Weißrussischen Bahnhof abge­fangen und stundenlang wegen lächerlicher Anschuldigungen, die später nie wieder erwähnt wurden, in Milizrevieren festgehalten. Nach eindringlicher Ermahnung, die beabsichtigte Reise nicht anzutreten, wurden sie nach Ab­fahrt des Zuges nach Vilnius freigelassen.

 

Am Tag vor Prozeßbeginn erhielten mehrere jüdische Bürger, denen eine Ausreise bisher verweigert worden war, die Mitteilung, ihre Anträge seien zwecks Revision weitergeleitet worden. In fünf Fällen wurde sogar die Aus­reisegenehmigung erteilt, unter der Bedingung, an dem Verfahren gegen Ko­valiov nicht teilzunehmen. Auch der Empfang der Moskauer Gäste durch Oppositionelle in Vilnius wurde vereitelt. So wurden A. Terleckas, V. Pet-kus und V. Smolkinas auf dem Bahnsteig von Geheimdienstlern verhaftet und ins KGB gebracht. Die für Frau Kovaliov und A. Sacharov bestimm­ten Blumen verwelkten in den Papierkörben des Komitees für Staatssicher­heit.

 

Die Festnahme wurde übrigens ohne das Vorweisen eines Befehls vorgenom­men. Als die Festgenommenen nach dem Grund der Festnahme und der Haftanweisung fragten, redeten sich die Tschekisten damit heraus, das alles werde sich im Amt der Sicherheitsbehörde aufklären, denn dort befänden sich alle einschlägigen Dokumente. Natürlich war dies unzutreffend, denn auch dort waren schriftliche Unterlagen zur Legitimierung der Festnahme nicht aufzutreiben.

Die arretierten Bürger von Vilnius verleugneten keinesfalls Zweck und Ziel ihres Erscheinens am Bahnhof. Sie wurden daher von den Tschekabeamten einzeln vorgenommen, wegen ihres ungebührlichen Benehmens getadelt und mit Repressalien, sogar mit Gerichtsverfahren bedroht, falls sie es wagen sollten, an der Verhandlung gegen Kovaliov teilzunehmen. Die Obersten Kruglov, Baltin und Česnavičius versuchten ihnen einzureden, das Aka­demiemitglied Sacharov sei ein psychisch kranker Mann und die Moskauer Dissidenten Menschen ohne Moral. Die Dissidenten aus Litauen seien dem Ausland unbekannt, daher werde die Welt schweigen, wenn man sie ver­hafte. Sie drohten, daß in der Psychiatrischen Klinik von Vilnius bereits ein Platz für A. Terleckas reserviert sei, übrigens auch für V. Petkus. Man fragte sie, ob sie nicht lieber in den Westen auswandern wollten? Der aus Vilnius stammende V. Smolkinas verfaßte, kaum beim KGB einge­liefert, eine Beschwerde an die Staatsanwaltschaft, die beinhaltet, daß irgendwelche Unbekannten ihn gewaltsam in einen „Wolga"-Pkw gezerrt und zum KGB gebracht hätten, ohne einen Befehl der Staatsanwaltschaft vorzuweisen. Bis zur Uberprüfung seiner Angaben verweigerte er die Aus­sage, und man unterhielt sich mit ihm über Jagen und Fischen. Am Nachmittag desselben Tages wurden die drei Dissidenten aus Vilnius einer nach dem anderen entlassen. Der Zeitpunkt fiel mit dem Abschluß der Verhandlung zusammen.

 

So demonstrierten die Tschekisten schon vor Prozeßbeginn ihre Verhöhnung der Menschenrechte und zeigten, daß Gesetze zum Schutz der persönlichen Freiheit für sie nicht existieren.

Da niemand die aus Moskau anreisenden Dissidenten empfing, wurden A. Sacharov und sein Schwiegersohn J. Jankelevis in die Privatwohnung des aus Moskau nach Vilnius zurückgekehrten Etanas Finkelsteinas eingeladen, eines Absolventen der Gorki-Universität, der seit fünf Jahren um eine Aus­reisegenehmigung nach Israel kämpft. A. Sacharov blieb dann in dieser Pri­vatwohnung, während andere bei Bekannten in Vilnius, deren Adressen sie von früher kannten, Unterkunft fanden.

In den Verhandlungsraum zu gelangen war fast aussichtslos. An allen Ein­gängen waren Geheimdienstbeamten postiert, die nur Gerichtsbedienstete einließen. Unter den Geheimdienstbeamten, die die Gerichtsgebäude und deren Umgebung in Scharen bevölkerten, befand sich auch Major J. Traki-mas, „Chef und Schützer" aller früheren und jetzigen Politgefangenen, so­wie andere hohe Beamten des Staatlichen Sicherheitsdienstes. Bereits vor 10 Uhr erschien im Gerichtsgebäude auch das Akademiemitglied A. Sacharov mit seinen Freunden. Die Hilfspolizisten ließen ihn nicht in den Saal. Wegen dieser Behinderung wandte sich A. Sacharov mit einer Eingabe an den Gerichtsvorsitzenden, in der es unter anderem heißt: „Als langjähriger Bekannter von S. Kovaliov bin ich in der Lage, vor Ge­richt dessen außerordentliche Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit zu bezeu­gen, über seine Führung unter Gesetz und Gerechtigkeit und seinen Einsatz für die Verteidigung der Menschenrechte und der Informationsfreiheit aus­zusagen. Meine tiefe Verehrung für S. Kovaliov zeigt meine Einladung an ihn, als Ehrengast an der Verleihungszeremonie des Nobelpreises am 10. De­zember 1975 in Oslo teilzunehmen.

 

Ferner bin ich Mitverfasser des in den Gerichtsakten erwähnten Briefes an den KGB-Vorsitzenden Andropov, in dem um die Rückgabe des Kovaliov gehörenden Buches Archipel Gulag ersucht wird.

Ich bin mitbeteiligt an der Abfassung vieler Aufrufe, deren angeblich ver­leumderischer Charakter S. Kovaliov in der Anklage angelastet wird. Eine derartige Einstufung der von uns gemeinsam verfaßten Aufrufe erscheint mir ungerechtfertigt, und ich will diese meine Ansicht vor Gericht darlegen und beweisen."

Auch der kanadische Zeitungskorrespondent M. Levi wurde nicht in den Saal eingelassen. Selbst Angestellten des Obersten Gerichtshofes wurde erst nach Vorweisen von Dienstausweisen mit Lichtbild, die am Vorabend des Ver­handlungstages ausgegeben worden waren, Einlaß gewährt. Eine Gerichts­angestellte, die ihren Ausweis vergessen hatte, wurde einer Leibesvisitation unterzogen und erst nach der Bestätigung, daß sie wirklich bei diesem Ge­richt arbeite, eingelassen. Andere, die Einlaß begehrten, wurden von den Tschekawachen einfach davongetrieben oder ins KGB abstransportiert. Besser erging es denjenigen, die den Geheimdienstlern und deren Spitzeln persönlich unbekannt waren. Sie gelangten wenigstens ins Vestibül des Ver­handlungsraumes und konnten sich den Litauern und Moskauern zugesellen, die an den Eingangstüren zum Gerichtssaal warteten. Natürlich nur unter den bösen Blicken der Geheimdienstler. Aber die Menschen fürchteten sich nicht und harrten geduldig in den Korridoren des Gerichtshofes aus. Eine unbekannte Frau brachte einen wohlverborgenen Blumenstrauß ins Vestibül, wickelte das Bouquet aus und übergab es dem Friedensnobelpreis­träger A. Sacharov, der dankend erklärte: „Diese Blumen sind eher für meinen Freund Sergej bestimmt. Denn er hat mehr um eure Rechte gekämpft und gelitten." In sichtlicher Rührung entfernte sich die Frau, und der warme Blick des Nobelpreisträgers, der dastand, das Blumengeschenk der Litauerin an seine Brust gedrückt, um es dann Kovaliovs Frau zu übergeben, wird allen unvergeßlich bleiben.

Nach einiger Zeit erschien eine Gruppe von Bürgern aus Šiauliai (Nordwest­litauen) samt zwei „Lehrern aus Jonava" und einem „Seemann aus Klai­pėda" im Gerichtsgebäude. Sie wurde von den Tschekaposten ungehindert durchgelassen. Die beiden „Lehrer" bemühten sich heftigst darum, mit Sacha­rov und den anderen Moskauer Gästen in Kontakt zu kommen, spielten gönnerhafte Beschützer und versuchten sogar, sich zusammen mit ihnen zu fotografieren. Noch vor Ende der Verhandlung wurden jedoch diese beiden „Lehrer" entlarvt. Bei dem einen handelte es sich um den Sicherheitsbeamten Zajančauskas aus dem Mineralbad Druskininkai, zur Zeit tätig für das KGB in Vilnius.

 

Am ersten Verhandlungstag wurde nur der Bruder Kovaliovs in den Saal gelassen. Während der vier Verhandlungstage erschienen A. Sacharov und seine Freunde täglich im Gerichtsgebäude, doch durften sie den Verhand­lungsraum nicht betreten.

 

Bereits am zweiten Verhandlungstag versuchten die Wachen alle Litauer ab­zudrängen, von denen angenommen wurde, daß sie in den Saal hineingehen wollten. Wem es trotzdem gelang, der wurde hinausgewiesen. Im Vestibül und in den Korridoren lungerten gut zwanzig Sicherheitsagenten herum, teils in Zivil, teils uniformiert. Dieses Unternehmen wurde von den fast ständig anwesenden Obersten Kruglov und Baltin organisiert. Als sich am zweiten Verhandlungstag der aus Šiauliai stammende Mečislovas Jurevičius dem Gerichtsgebäude näherte, wurde er von einem Sicherheitsbe­amten angehalten und aufgefordert, zusammen mit ihm „von der Tür weg um die Ecke" zu gehen, damit die im Vestibül befindlichen Menschen, da­runter die Moskauer Gäste, nicht zusehen konnten. Als Jurevičius sich wei­gerte mitzugehen, begann man ihm zu drohen. Sofort erschienen zwei wei­tere Geheimdienstler, und er wurde mit vereinten Kräften in ein Auto gezerrt.

Man brachte Jurevičius ins KGB (Lenin Prospekt 40), nahm ihm den Perso­nalausweis ab und begann mit der Vernehmung: Mit welcher Absicht er nach Vilnius gekommen sei? Vielleicht, um Material für die „Chronik der Litau­ischen Katholischen Kirche" zu sammeln? Wer außerdem aus Šiauliai bzw. Kuršėnai (Ort in der Nähe von Šiauliai) mitgekommen sei? Woher er über­haupt von dem Kovaliov-Prozeß wisse? Wo er gestern zu Mittag gegessen und ob er gar mit Sacharov gesprochen habe? Jurevičius antwortete darauf, das seien Privatangelegenheiten. Die Geheimdienstbeamten begannen dann mit Erziehungsversuchen: „Was haben Sie nur alle mit dem Prozeß?" S. Kovaliov und A. Sacharov seien doch gar keine Gläubigen usw. Es wurde gedroht, Jurevičius gehöre wegen der zahlreichen Beiträge zur „Chronik", in der er vermutlich auch dieses Gesprächs veröffentlichen wolle, überhaupt vor Gericht gestellt.

 

Jurevičius entgegnete, er beabsichtigte keineswegs, diese Verhaftung bzw. dieses Gespräch mit den Geheimdienstbeamten zu verheimlichen. Er könne daher nicht ausschließen, daß auch ohne sein Zutun eine Information dar­über in der „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche" erscheinen werde. Der Geheimdienstler Urbanevičius erklärte, er habe die „Chronik der Litau­ischen Katholischen Kirche" zwar gelesen, doch hätten ihm die Erklärungen mancher Priester und die Artikel über N. Sadūnaitė" u. a. nicht gefallen. Am Ende des Verhörs erklärte man Jurevičius, das KGB werde ihm Arbeit besorgen (Jurevičius war wegen seiner religiösen Überzeugung und wegen Arbeitsverweigerung an kirchlichen Feiertagen entlassen worden). Weih­nachten möge er noch feiern, doch zum Dreikönigsfest werde er bereits wieder arbeiten.

 

Jurevičius erwiderte, er könne auch selbst eine Arbeit finden, doch man ver­biete ihm, als Arbeiter tätig zu sein, während er die Stelle eines Direktors gar nicht übernehmen wolle. Der Sicherheitsbeamte Baltrušaitis bemerkte dazu, daß Jurevičius wegen „politischer Unreife" als Direktor ungeeignet sei.

 

Nach Abschluß der Vernehmung erklärten die Sicherheitsbeamten, sie würden Jurevičius jetzt in den Zug nach Šiauliai setzen und er solle sich innerhalb einer Woche nicht wieder in Vilnius blicken lassen, sonst werde er streng bestraft. Als Jurevičius sagte, er werde trotzdem wieder nach Vilnius kommen, meinten die Beamten: „dann geben wir dir einen Begleiter mit", und er wurde tatsächlich von einem Begleitkommando zur Bahn eskortiert und in den Zug Richtung Šiauliai gesetzt.

Noch vor Verhandlungsbeginn wurde der Arbeiter A. Terleckas aus den Diensten des Staatlichen Opern- und Ballett-Theaters in Vilnius entlassen, wo er als Feuerwehrmann tätig war. Als Arbeitsloser bemühte er sich um die Dissidenten. Obwohl die Tschekisten drohten und verlangten, er solle dem Gerichtsgebäude fernbleiben, verweigerte er den Gehorsam. Die Gäste aus Moskau und der kanadische Journalist schützten ihn vor Provokationen und Repressalien, indem sie nicht von seiner Seite wichen.

 

Oberst Baltin bemühte sich persönlich um den Bürger Kęstutis Jakubynas, von dem er verlangte, er möge das Gerichtsgebäude verlassen. K. Jakubynas weigerte sich jedoch, und in Gegenwart der Moskauer Dissidenten und des ausländischen Korrespondenten wagte die Tscheka nicht, Gewalt anzuwen­den.

Auch der Bürger Virgilijus Jaugelis versuchte in den Saal zu gelangen, wurde aber von einem der Wachhabenden aufgehalten und zum Hinausgehen auf­gefordert. V. Jaugelis blieb jedoch bei der Tür stehen. Daraufhin wurde er hinausgeführt und wegen „Gehorsamsverweigerung und Beleidigung eines Milizionärs" mit 15 Tagen Arrest bestraft. Während der Vernehmung erhielt Jaugelis wiederholt Faustschläge gegen den Hals, so daß er kaum noch sprechen konnte. Er schrieb darüber eine Beschwerde an den Staatsan­walt. Eine Kommission setzte ein Befundprotokoll auf, wonach „keine Spur von Schlägen" feststellbar war, nur habe er sehr „leise gesprochen". Einige Tage später mußte man V. Jaugelis wegen seines Gesundheitszustandes aus dem Arrest entlassen.

 

Während der Verhandlung erfolgte in Norwegen die Verleihung des Frie­densnobelpreises. Da die Sowjetregierung dem Preisträger die Ausreise ver­weigert hatte, nahm Frau Sacharov an der Zeremonie teil. An zwei Tagen versuchte A. Sacharov, abends aus Vilnius seine Frau in Oslo telefonisch zu erreichen, doch ohne Erfolg. Das Zentralpostamt Vilnius nahm den Auftrag zwar entgegen, jedoch kam ein Gespräch nie zustande.

Eines späten Abends wurden Sacharov, sein Schwiegersohn, A. Terleckas und ein weiterer Gast aus Moskau auf dem Weg zum Postamt von Rabauken („Chuligani") überfallen.

 

Terleckas wurde mehrmals ins Gesicht geschlagen, die Moskauer Gäste nur beschimpft. Die Privatwohnung, in der sich die Dissidenten abends zu tref­fen pflegten, wurde besonders streng überwacht. Während der gesamten Pro­zeßdauer schlichen verdächtige Gestalten um das Haus. Personen, die das

Haus betraten, wurden fotografiert, in den Nebenstraßen waren Autos postiert, außerdem fanden sich prompt „Privatautos" ein, die denjenigen, die das Haus verließen, die Mitfahrt anboten. Der Organist der Peter-und-Pauls-Kathedrale wurde von einem angeblichen Freund Sacharovs ange­rufen, der seine guten Dienste anbot, falls der Musiker irgend etwas nach Moskau durchzugeben habe.

 

Die Urteilsverkündung sollte am 12. Dezember um 14 Uhr erfolgen, doch wurde mit der Verlesung des Urteils bereits um 13.30 Uhr begonnen, wer später kam, wurde nicht eingelassen. Die Dissidenten hielten sich im Foyer des Gerichtsgebäudes auf. Sie äußerten sich dem kanadischen Journalisten gegenüber empört über die Härte des Urteils. Das mit Sondergenehmigung zugelassene Publikum umringte nach Verlassen des Saales die Gruppe der Dissidenten, um sie zu verhöhnen und zu beschimpfen. Dabei taten sich neben den Tschekisten Oberst Kruglov und anderen, besonders der „Poet" Keidošius hervor. Die litauischen Dissidenten protestierten dagegen, daß das Urteil im Namen des litauischen Volkes erging.

 

Keidosius und die Tscheka-Genossen brüllten daraufhin, sie seien die wahren Vertreter des litauischen Volkes.

Nach Verlassen des Gerichtsgebäudes ging Sacharov auf das Gefängnisauto zu (Die „Krähe" — s. v. w. „Blaue Minna") und klopfte an die Blech-karosserie, mit den Worten: „Bravo Serjoscha." Auf eine Bemerkung des Milizionärs antwortete Sacharov: „Stabil wie Ihre Regierung!" Abends fand sich eine Gruppe Bürger aus Vilnius zur Verabschiedung des Akademiemitglieds Sacharov und einer Gruppe der Dissidenten auf dem Bahnhof ein. Am Tag darauf erschienen litauische Frauen bei Frau Kovaliov und überbrachten ihr Blumen.

 

Am 14. Dezember durfte Frau Kovaliov ihren Mann besuchen. Sie erzählte ihm von den Blumengrüßen und den Dankesworten der Bürger von Vilnius. Sergej Kovaliov schien gesund und in guter Stimmung zu sein. Das Urteil bedrückte ihn nicht. Er bedauerte lediglich, daß er nun einige Jahre hindurch am Kampf für die Menschenrechte nicht mehr werde teilnehmen können. In solch einer Atmosphäre also ging in Vilnius das „öffentliche" Gerichtsver­fahren gegen S. Kovaliov über die Bühne.

In Erwartung des Urteils im Kovaliov-Prozeß verfaßten einige Freunde des Angeklagten (A. Sacharov, V. Turcin, I. Orlov u. a.) am 12. Dezember eine detaillierte Erklärung über den Ablauf des Verfahrens unter Schilderung der Umstände und konkreten Abweichungen von den vorgeschriebenen Pro­zeßnormen. Dort heißt es unter anderem:

„Wir erklären hiermit, daß das Gerichtsverfahren gegen S. Kovaliov nichts anderes ist, als ein Racheakt an einem ehrbaren und mutigen Mann, der im Kampf für Gesetzlichkeit und das Recht auf freie Information allen Men­schen in der Welt große Opfer gebracht hat."

Nach Abschluß des Kovaliov-Prozesses unterzeichneten 174 Dissidenten aus

15 Städten eine Forderung auf Freilassung des Verurteilten:

„Am 12. Dezember 1975 wurde der bekannte Wissenschaftler, Biologe und aktive Teilnehmer an der allgemeinen Bewegung für Menschenrechte, Sergej Kovaliov, mit sieben Jahren verschärfter Haft und dreijähriger Verbannung bestraft.

 

In seinem öffentlichen Wirken, dessentwegen er verurteilt wurde, hat S. Kovaliov gegen Willkür und Rechtlosigkeit angekämpft und sich schützend vor Menschen gestellt, die ihrer Überzeugung wegen verfolgt wurden. Als konsequenter Feind jeder Gewaltanwendung kämpfte er mit der Waffe des Wortes, in Form von öffentlichen Protesten und durch Verbreitung zuver­lässiger Informationen. Er gehört zu denen, die für die Verbreitung der ,Chronik der laufenden Ereignisse' öffentlich die Verantwortung übernom­men haben. Deshalb wurde er als ,besonders gefährlicher Verbrecher' abge­urteilt.

 

Im Prozeßverlauf versuchte S. Kovaliov, die Anschuldigung zu widerlegen, daß die ,Chronik' und der Kampf für die Menschenrechte verleumderisch und staatswidrig seien. Durch grobe Verletzung bestehender Bestimmungen und Verstöße gegen das Prinzip der Öffentlichkeit des Verfahrens zwang das Gericht S. Kovaliov, auf die weitere Teilnahme an der Verhandlung zu verzichten.

 

Die überdeutliche Tendenz, den Prozeß vor der Öffentlichkeit zu verheim­lichen, macht das Verfahren dem tatsächlichen Ablauf entsprechend zum Ge­heimprozeß. Zweck und Ziel solcher Prozesse sind deutlich: Man will uns die bürgerliche Verantwortung abgewöhnen, mit tätigem Mitleid helfend für die Menschen einzutreten, deren Rechte mißachtet werden. Man will uns in die Zeiten zurückversetzen, als ähnliche Prozesse mit organisierter Zustimmung bestätigt' wurden und kein Protest zu hören war.

 

Wir glauben, jene schändliche Epoche selbstmörderischen Schweigens darf sich in unserem Land nie mehr wiederholen. Wir verlangen Aufhebung der Unterdrückung und freien Austausch von Meinungen und Ideen. Wir ver­langen, daß die Verfolgung aller Verteidiger der Menschenrechte und derer, die für die Opfer politischen Zwangs eintreten, aufhört. Wir fordern Widerruf des Gerichtsurteils gegen S. Kovaliov!" Unterzeichnet ist die Erklärung von vielen, auch in Litauen bekannten Per­sönlichkeiten: A. Sacharov, A. Amalrik, E. Boner-Sacharova, N. Bukovskij, T. Velikanova, Grigorenko, Pfarrer D. Dudko, R. Medvedjev, I. Orlov, V. Turcin, T. Chodrovis, L. Tsukovaskaja, A. Terleckas, V. Petkus u. a. Auf einer Pressekonferenz am 18. Dezember 1975 erklärte das Akademie­mitglied Nobelpreisträger A. Sacharov vor ausländischen Journalisten: „Zu Beginn dieser Pressekonferenz möchte ich zunächst feststellen, daß S. Kovaliov verurteilt wurde, weil er sich, der Stimme seines Gewissens fol­gend, für die Verteidigung von Menschen einsetzte, die seiner tiefen Über­zeugung nach Ungerechtigkeiten zum Opfer gefallen waren. Die Anklage hat ihm weder die Absicht einer Schwächung der Sowjetmacht noch ver­leumderische Taten nachweisen können. Das Verfahren selbst war in pro­vozierender Weise ungesetzlich, die Öffentlichkeit wurde nicht zugelassen, die Parteien einander nicht gegenübergestellt, der Verteidiger und der Ange­klagte waren abwesend und letzterer sprach kein Schlußwort. Fast ein ,Troika'-Verfahren der Stalinzeit, oder in der Terminologie der Zeit, wie ein ,Lagerverfahren'...

 

Im Verfahren sollte anhand von sieben Zitaten der verleumderische Cha­rakter der .Chronik' bewiesen werden. Als wir am 12. Dezember unsere Er­klärung verfaßten, waren uns die vom Gericht polemisch beanstandeten Textstellen aus der ,Chronik' noch unbekannt. Heute können wir sagen, daß es bestenfalls in einem oder zwei Fällen von geringfügiger Bedeutung dem Gericht gelungen ist, Zweifel an der Information der ,Chronik' zu erwecken. Die Verhaftung und Verurteilung von S. Kovaliov ist eine Herausforderung der sowjetischen sowie der Weltöffentlichkeit. Die Sowjetregierung wollte deutlich demonstrieren, daß sie trotz Helsinki und der Verleihung des No­belpreises gewillt und in der Lage ist, jederzeit ihre eigenen Gesetze zu miß­achten.

 

Diese Herausforderung nicht zu beantworten, bedeutet den Verrat nicht nur eines prächtigen Menschen, sondern auch der Grundprinzipien, von denen so vieles abhängt. Unsere einzige Antwort kann nur lauten: Wir fordern die Aufhebung des Urteils gegen S. Kovaliov."

Mit diesen seinen Opfern hat S. Kovaliov auch Litauen einen großen Dienst erwiesen.

Der Ablauf des Prozesses und die Verfolgungsmaßnahmen haben gezeigt, daß die Untaten des Geheimdienstes Litauer und Russen einander durchaus näherbringen.

Die Katholiken Litauens danken S. Kovaliov für seinen Edelmut und seine herzliche Menschlichkeit. Sie flehen zu Gott, er möge ihn segnen, ihm Ge­sundheit und Ausdauer verleihen. Das Opfer der russischen Dissidenten hat die Litauer veranlaßt, das russische Volk mit anderen Augen zu sehen. Bei seiner Haftentlassung werden wir den russischen Wissenschaftler S. Ko­valiov aufnehmen wie unseren Bruder und besten Freund.