Im Juni 1975 wurde der Lehrer am Polytechnischen Institut Kaunas, R. Pa­tašius, zum Militärkommissariat bestellt, wo ihn der KGB-Mitarbeiter Rusteika erwartete. Letzterer stellte sich als Beauftragter für das Polytech­nische Institut vor und lud R. Patašius zu einer „Unterhaltung" ins KGB ein, die vier Stunden andauerte.

Von Anfang an wurde R. Patašius als finsterer Verbreiter antisowjetischer Ressentiments und auch sonst als schlechter Mensch behandelt... „Wissen Sie, man kann Sie jeder Zeit von ihrer Arbeit entlassen", erklärte Rusteika. „Entlassen Sie, wenn Sie können", antwortete R. Patašius mutig, „je eher, desto besser."

Rusteika warf R. Patašius vor, als Leiter des Amateur-Filmstudios „KIP-Film" zeichne er sich durch antisowjetische Haltung aus und in Privat­gesprächen schmähe er die Sowjetgesellschaft.

Man verlangte von R. Patašius, er möge ausführlich Einzelheiten über die Ansichten und Gefühle der anderen Mitglieder des Studios berichten. Pata­šius ließ diese Aufforderung unbeantwortet.

 

„Was ich selber früher einmal gesagt haben soll, bin ich bereit zu wiederholen und zu bekräftigen, doch beabsichtige ich nicht, Informator oder Denunziant zu werden. Machen Sie Ihre eigenen Recherchen, wenn Sie es für nötig hal­ten."

Rusteika zeigte sich besonders an den Beziehungen des R. Patašius zu P. Kimbrys interessiert und fragte, über welche Themen sie sich unterhalten, ob sie vielleicht über Religion diskutiert hätten.

„Wir haben über alles gesprochen, was junge Menschen interessiert und be­rührt, darunter auch über Religion. Sogar über Politik." „Was wollen Sie damit erreichen?" Rusteika wurde nervös. „Sagen wir — gar nichts. Aber das heißt doch wohl nicht, daß ein Mensch keine persönliche Meinung haben darf in Fragen, die ihn bewegen?" „Gefällt Ihnen etwa die Sowjetgesellschaft nicht?"

 

„Die Gesellschaft ist eines, doch daneben gibt es durchaus andere Dinge, die mir keineswegs gefallen", antwortete Patašius.

Als Beispiel verwies R. Patašius darauf, daß er im Jahre 1969 seine Vor­diplomarbeit nur deshalb nicht ableisten konnte, weil er nicht nur die „Spec­form" nicht zurückbekam (das Loyalitätszeugnis, das vor Arbeitsantritt denjenigen Betrieben vorgelegt werden muß, die Militäraufgaben haben; — Redaktion), sondern auch keine negative Antwort erhielt. Wegen dieser Um­stände konnte er seine Diplomarbeit nicht verteidigen. Zum Abschluß der „Unterhaltung" erklärte Rusteika, wahrscheinlich wolle R. Patašius dieses Zusammentreffen geheimhalten. „Nein", sagte Patašius, „mir gereichen solche Zusammentreffen gewiß nicht zur Unehre, und Ihret­wegen werde ich mich weder zum Schweigen, noch zu Ausflüchten ver­pflichten."

 

Am 1. September 1975 wurde P. Kimbrys vom Geheimdienst vorgeladen. Er ist ehemaliger Mitarbeiter des Kinolabors im KIP (Polytechnischen Institut Kaunas) und Mitglied des „KIP-Film"-Studios. Er wurde von demselben Rusteika vernommen, der ihm eröffnete, daß der Geheimdienst bereits ge­nügend Material gesammelt habe, um ihn, P. Kimbrys, abzuurteilen. „Doch jetzt ist nicht das Jahr 1950", erklärte der Geheimdienstmann. „Damals hätten wir anders mit Ihnen geredet, jetzt stellt man auch an uns andere Anforderungen. Viel wird von Ihrer eigenen Offenheit in diesem Ge­spräch abhängen."

 

Im weiteren detaillierte Rusteika die gegen Kimbrys erhobenen Anschuldi­gungen: er habe sich durch antirussische, antisowjetische und antikommunisti­sche Ansichten hervorgetan; in seinem Zimmer hänge eine Landkarte des Großfürstentums Litauen im 16. Jahrhundert („von Meer zu Meer"); zu Hause habe er das „Litauen-Archiv", sei an der Herausgabe der „Chronik der LKK" beteiligt usw. Als Kimbrys wissen wollte, worauf sich diese Vor­würfe eigentlich stützten, antwortete Rusteika, die Untersuchung des Falles sei noch nicht abgeschlossen, daher könne er noch nicht alle Fakten nennen. Seinerseits erklärte Kimbrys, er meine, es sei doch kein Verbrechen, eine Landkarte an die Wand zu hängen, die in jedem Schulbuch über die Ge­schichte Litauens zu finden sei. Was aber die erwähnten Bücher und das Material aus dem „Selbstverlag" anbetreffe, so weise er die Anschuldigun­gen kategorisch zurück.

 

Hier erkundigte sich Rusteika, ob P. Kimbrys nicht wisse, wer aus seinem Freundeskreis sich denn an der Herausgabe solcher Literatur beteilige und forderte ihn auf zu charakterisieren, „was für Leute" die anderen Mitglieder des „KIP-Film"-Studios seien.

Die länger als vier Stunden andauernde Vernehmung schloß damit, daß P. Kimbrys die gestellten Fragen schriftlich beantwortete und versprach „Folge­rungen zu ziehen". Bei seiner Verabschiedung deutete Rusteika an, ein Wie­dersehen mit P. Kimbrys sei nicht ausgeschlossen.

Solche Vernehmungen sind für die Mitglieder des Amateurstudios „KIP-Film" keine Neuheit. Der „Chronik" sind weitere Fakten über ihre Verfol­gungen bekannt:

Ende 1971 wurde der damalige Leiter von „KIP-Film", V. Mizara, Student im fünften Kursus der KIP-Fakultät für Automatik, von dem Geheimdienst­mann Rubys intensiv über die Stimmung der Mitglieder des Studios ausge­fragt.

 

In den Monaten Januar, Februar, März 1972 wurde der stellvertretende Leiter des Studios, V. Vačkys, Student im vierten Kursus der KIP-Fakultät für Automatik, nicht nur intensiv ausgefragt, man versuchte audi ihn als Mitarbeiter für den Geheimdienst anzuwerben.

Im Juni 1972 wurde dem damaligen Leiter des Studios, E. Kausa, plötzlich der Arbeitsvertrag gekündigt. Wohl aus denselben Gründen, derentwegen R. Kausa früher schon an keiner Hochschule der Republik immatrikuliert wurde— nämlich (in jungen Jahren) „unfreiwillige Emigration zu den wei­ßen Bären" ... Seit dieser Zeit übrigens hat der „KIP-Film" keinen festan­gestellten Leiter mehr ...

Im Juni 1972 wurden die Mitglieder des Studios, E. Smelemskas und F. Girininkas vom Geheimdienst sogar ins Kreuzverhör genommen. 1972/73 wurde die Angestellte L. Blatnytė des KIP-Kinolabors über „KIP-Film" vernommen und ein Anwerbungsversuch unternommen. Im Herbst 1973 wurde das Studiomitglied V. Lavaričius vom Geheimdienst vorgeladen.

 

Ende 1974 schließlich machte der Angestellte Č. Butavičius vom KIP-Kino-labor beim Geheimdienst Aussagen über „KIP-Film".

Das „KIP-Film"-Studio, vor 15 Jahren gegründet, konnte sich nur dank des Enthusiasmus der Studentenschaft halten und galt lange Zeit als eines der produktivsten Kollektive der Amateurfilmhersteller Litauens und war das einzige permanente Kinostudio an einer Hochschule im Baltikum. Die Mit­glieder des Studios haben einige — zig Filme produziert: etwa zur Jugend­frage („Jugend in unserer Zeit", „Zwischen 9 und 17"), über das Stadtleben („Schritte der Zeit"), über bedeutende Persönlichkeiten aus Kultur und Wis­senschaft, wie „Maironis" oder „Ein Mensch — ins Herz geschlossen" (über das Akademiemitglied Prof. K. Baršauskas), „Das Gesicht" (über den Hei­matkundler B. Buračas) und viele andere. Das Studio spielte eine große Rolle im Leben der Studentenschaft Litauens bei der Erweiterung der Hori­zonte, Verbreitung von Wissen aus der Welt der Kunst und der Technik, auch bei der Werbung für schöpferische Tätigkeit. Doch selbst diese beschei­dene und kaum beachtete Arbeit des Kollektivs fiel anscheinend unangenehm auf. Möglicherweise war die Thematik unerwünscht. Der Streifen „Das Ge­sicht" z. B. erhielt zwar den ersten Preis beim Filmfestival der Republik, wurde aber, angeblich wegen unzureichender technischer Qualität, zum Ama­teurfilm-Festival der baltischen Sowjetrepubliken nicht einmal angemeldet. Vielleicht war man darüber verärgert, daß es dem KGB nicht recht gelang, diesen kleinen Haufen von Enthusiasten auszuspähen. Wie dem auch sei, das Studio existiert heute in Wirklichkeit nur noch auf dem Papier— es ist kein

Leiter da und seine aktivsten Mitglieder sind auseinandergelaufen, um an­derswo eine ruhigere Beschäftigung zu finden ...

 

Nicht zum ersten Mal in der Geschichte Sowjetlitauens wird der Höhenflug der Jugend durch Flügelstutzen gehemmt. Denken wir nur an die erste „Ge­neration der Schreitenden". (Im Mai 1969 wurde die Initiative zur Erhal­tung der Elternhäuser der Atlantikflieger S. Darius und S. Girėnas auf einer Versammlung des Parteiaktivs in Kaunas sogar als „größte ideologi­sche Diversion seit 1956" bezeichnet.) Denken wir ferner an die Tragödie der Heimatkundler, den „Popklub" der jungen Musiker unter den KlP-Stu-denten, den Klub für Volkslieder (Laudies dainos) in Vilnius und die zahl­losen Diskussionskreise, die, spontan entstanden, stillschweigend ausgerottet wurden...

Es fragt sich nur, wie man das bezeichnen soll? Sind das nun die unbegrenz­ten Möglichkeiten, die das Sowjetsystem der Jugend Litauens beschert hat? Oder sind es die endlosen Schwierigkeiten, die die Sowjetmacht mit der Jugend Litauens hat?