Kaunas

Am 14. September 1974 haben Sicherheitsbeamte in der Stadt Babtei einen Pkw, Marke Ziguli, verfolgt, der von Marytė Vitkūnaitė gelenkt wurde. Es fuhren noch vier Personen mit. Sie wurden angehalten, und die Beamten führten eine Durchsuchung durch. Ein Beamter in der Uniform eines Miliz­funktionärs setzte sich ans Steuer und fuhr das Auto zum Gebäude des Sicherheitsdienstes in Kaunas. Die Insassen wurden zum Verhör geführt. Im Auto wurde eine gründliche Durchsuchung vorgenommen, die der Funk­tionär des Sicherheitsdienstes, Hauptmann Marcinkevičius aus Vilnius, durch­führte. Zu dieser Durchsuchung berief man folgende Personen: Charževskis Raimondas, Sohn von Jurgis, Kaunas, Suomiustr. 32-2; Bertašius Algirdas, Sohn von Juozas, Kaunas, Lampėdžių str. 10-405. Das Auto wurde von Fach­arbeitern regelrecht zerlegt. Carion Ivan aus Kaunas, Leninostr. 57-30, und Adomavičius Kestutis aus Kaunas, Gediminostr. 39-1, suchten zwei Stunden lang in den Reifen nach antisowjetischer Literatur. Der Kühler und der Ben­zintank wurden auseinandergenommen und die kleinste Ecke im Auto ab­gesucht. Im Wagen beschlagnahmten sie ein Buch von Solzenizyn „Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch".

Danach wurde die Besitzerin des Wagens, Marytė Vitkünaitė, einer Leibes­visitation beim Sicherheitsdienst unterzogen. Dieses besorgte die Funktio­närin Paliušienė mit folgenden Zeugen:
Audronė Petružytė, wohnhaft in Kaunas, LTSR-Str. 25-cio 130-4,
und Kazimiera Juškytė, Alyvustr. 1-9.

Die Kirche von St. Kazimir, dem Patron Litauens, in Vilnius. Heute  ist in dieser Kirche ein atheistisches Museum eingerichtet. Die Kirche stammt aus dem 17. Jahrhundert.

 

Innenansicht der St.-Kazimir-Kirche in Vilnius, jetzt atheistisches Museum.

 

M. Vitkunaitė wurden die Kleider ausgezogen und gründlich durchsucht. Man fand bei ihr jedoch keine „antisowjetische Literatur". Danach durchsuchten Miliz-Major Markevičius und Miliz-Hauptmann Mar­cinkevičius die Wohnung und den Keller von M. Vitkūnaitė in der LTSR 25ciostr. Nr. 86-53. Eineinhalb Stunden haben sie sich darin aufgehalten, fanden aber nur ein Gebetbuch Marija, gelbėk mus (Maria, rette uns) und einen Papierfetzen mit dem Malda uz tėvynę (Gebet für die Heimat). Vor der Hausdurchsuchung und der Durchsuchung des Autos hatten die Sicherheitsbeamten M. Vitkūnaitė lange bespitzelt: Besonders aufgeregt wur­den sie, weil das Auto in Neu Radviliškis zu sehen war, dort, wo unter Haus­arrest S. E. Bischof V. Sladkevičius lebt.

Spät am Abend wurde M. Vitkūnaitė vom Sicherheitsdienst entlassen, und die Funktionäre erklärten ihr: Wir werden uns beim Sicherheitskomitee in Vilnius wiedersehen.

Vilnius

Im Oktober 1974 wandten sich fünf Priester des Bistums Vilkaviškis mit einem Gesuch an das Komitee für Menschenrechte in Moskau. Die Namen dieser Priester sind: Lionginas Kunevičius, Petras Dumbliauskas, Pranas Adomaitis, Juozas Zdebskis und Sigitas Tamkevičius. Sie baten um Gnade für folgende Gläubige, die eine Freiheitsstrafe verbüßen: P. Plumpa, P. Pe­tronis, J. Stašaitis, V. Jaugelis, J. Gražys und N. Sadūnaitė. Der Akademiker Sacharov gab den Inhalt des Gesuches bekannt, ohne die Namen dieser Geistlichen in seiner Verlautbarung zu nennen. Bei den Haus­durchsuchungen bei den Mitgliedern des Komitees für Menschenrechte in Moskau fanden Beamte des Sicherheitsdienstes den Originaltext dieser Bitt­schrift mit den Unterschriften dieser Geistlichen. Vom 7. bis 14. August 1975 wurden diese Priester beim Sicherheitsdienst in Vilnius zum Verhör vorge­laden. Einige von ihnen wurden von Maslauskas verhört, andere von Mar­cinkevičius oder von Lazarevičius. Beim Verhör befragte man sie über die „Chronik der LKK", über das Komitee für Menschenrechte in Moskau und ob sie sich schon einmal dorthin gewandt haben. Dann zeigte man ihnen die Originalschrift mit ihren Unterschriften und fragte sie, ob sie diese tatsäch­lich unterschrieben hätten. Alle Priester bejahten dies und erklärten, daß es ihre Pflicht sei, sich für unschuldig verurteilte Menschen einzusetzen. In der Bittschrift an das Komitee für Menschenrechte sähen sie kein Vergehen. Wei­tere Fragen wurden den Geistlichen gestellt: Wer das Schreiben dieser Bitt­schrift organisiert habe, wer die Schrift zur Unterzeichnung vorgelegt habe usw. Einige Priester erklärten, daß diese Person ihnen nicht bekannt sei, an­dere erklärten, daß sie diese belanglose Frage nicht zu beantworten geden­ken. Einige Geistliche weigerten sich, daß Unternehmungsprotokoll zu un­terschreiben, weil sie in diesem Handeln kein Vergehen sähen. Sie meinten, daß es kein ziviles Recht gebe, das sie zwingen könne, hier als offizielle Zeu­gen aufzutreten. Die Untersuchungsfunktionäre waren sehr höflich und er­klärten, daß diese Bittschrift ja keine so wichtige Sache sei, wichtig sei, zu er­fahren, auf welche Art und Weise die Schrift nicht an die richtige Adresse ge­kommen sei.

GERICHTE UND PSYCHIATRISCHE KRANKENHÄUSER

Vilnius 1973

In Vilnius wurde 1973 der Student Rimas Čekelis, Sohn von Juozas, an der Musikschule „Talat-Kelpša" wegen der Verbreitung antisowjetischer Flug­blätter zu drei Jahren Haft in den Lagern mit schwerer Arbeit verurteilt. Rimas Čekelis wurde am 7. Januar 1955 in Skiemonys geboren; er hat die neun Klassen der Mittelschule beendet und ist dann in die Musikschule „Ta­lat-Kelpša" gegangen. Er lebte in Vilnius und organisierte hier eine Gruppe von Freunden, die sich mit der Herstellung und Verbreitung nationaler Flug­blätter befaßten. Am Vorabend zum 16. Februar 1973 (Tag der Unabhän­gigkeits-Erklärung Litauens) hatten sie Flugblätter in Vilnius verteilt. Spä­ter hat einer aus dieser Gruppe diese Tat verraten. Alle fünf Mitglieder die­ser Gruppe wurden von der Schule entlassen, und Rimas Čekelis als Anfüh­rer dieser „antisowjetischen" Gruppe wurde verhaftet und verurteilt. Das Oberste Gericht der Litauischen SSR verurteilte ihn unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Zur Zeit befindet sich Rimas Čekelis im 19. Lager in Mor-davien.

 

Kaunas

Im Frühjahr 1975 verhaftete man den früheren politischen Häftling Povilas Pečiulaitis, der schon 19 Jahre im Gefängnis im „Archipel Gulag" zugebracht hatte. Von dort wurde er 1972 entlassen, und ihm wurde das Recht ab­erkannt, in seine Heimat nach Litauen zurückzukehren. Ungeachtet dieses Verbots kam Povilas Pečiulaitis nach Kaunas. Er fand hier Arbeit und grün­dete eine Familie. Die Ortsbehörde versuchte durch geheime Anweisungen, nicht aber gesetzmäßig, Povilas Pečiulaitis aus Litauen auszuweisen. Er aber weigerte sich, seine Heimat zu verlassen und so seine Familie zu verlieren. Mehrmals wurden ihm Geldstrafen auferlegt, zuletzt wurde er verhaftet. Das Volksgericht der Stadt Kaunas, im Bezirk Lenin, verurteilte ihn zu einem Jahr Freiheitsentzug wegen der Unterlassung der Meldepflicht. Das

Gericht beachtete nicht, daß kein Gesetz einem Menschen verbietet, in seinem Heimatland zu leben. Derartige Machenschaften wie mit Povilas Pečiulaitis zeugen vom Geist der stalinähnlichen Epoche. Diese Art zu handeln gleicht der Terror-Ausübung gegen ehemalige politische Häftlinge. Im Juni 1975 wurde ein anderer ehemaliger politischer Gefangener, Leonas Laurinskas, verurteilt. Leonas Laurinskas besuchte am 23. Dezember 1974 einen Bekannten, Algirdas Petrusevičius, bei welchem gerade in dem Moment eine Hausdurchsuchung stattfand. Man durchsuchte auch Laurinskas und fand bei ihm eine „kalte Waffe". Dies war ein Stück Kabel, das er den Rowdys dieser Stadt abgenommen hatte.

Petrusevičius wurde später als Zeuge zum Gericht geladen, er konnte jedoch keine Aussage gegen Leonas Laurinskas machen, da er sich in einem anderen Raum befand, als man die „kalte Waffe" fand.

Der Zeuge Antanaitis, den die Sicherheitsbeamten zu der Hausdurchsuchung bei Petrusevičius hinzugezogen hatten, bestätigte, daß bei Leonas Laurinskas eine „kalte Waffe" gefunden wurde.

Es wurde ein Protokoll aufgenommen. Sein früheres Urteil lautete nach § 58 ST.G.B.: 25 Jahre Freiheitsentzug. 1955 wurde das Verfahren wieder aufgerollt, man machte einen neuen Prozeß und änderte die Strafe in 15 Jahre ab.

Der Angeklagte Laurinskas kehrte am 23. November 1963 aus dem Lager zurück und hatte mit ehemaligen „Bandenmitgliedern", d. h. mit Partisanen, Kontakt aufgenommen. Am 23. Dezember 1974 hatte man bei ihm die „kalte Waffe" gefunden. So wurde er wieder zu einem Jahr Haft in den Lagern mit schwerer Arbeit verurteilt. Mildernde Umstände wurden nicht anerkannt.

Vilnius

Am 25. Juni 1975 reichte M. Tamonis ein langes Schreiben an das Zentral­komitee der Kommunistischen Partei der Litauischen SSR ein. Er schreibt über die neostalinistische Gefahr und verlangt die Freiheit zur Entfaltung der christlichen Kultur. Am 27. Juni suchte ein Milizbeamter M. Tamonis an sei­nem Arbeitsplatz auf und beorderte ihn in die Psychiatrische Klinik der Stadt Vilnius. Tamonis aber schenkte diesem Befehl keine Beachtung. Am Abend des gleichen Tages kam dann ein Milizhauptmann in einem Wagen mit zwei Sanitätern in seine Wohnung. Sie brachten ihn mit Gewalt in die Psychiatrische Klinik der Stadt Vilnius, Vasarosstr. 5. Am 29. Juni starb die Mutter von M. Tamonis an einem Herzinfarkt. In letzter Minute durfte er zur Beerdigung seiner Mutter gehen, und zwar nur deshalb, weil sich west­liche Diplomaten für diese Angelegenheit interessiert hatten. Nach dem Be­gräbnis sollte sich Tamonis wieder in der Klinik einfinden. Die erste Zeit ver­brachte er auf der Beobachtungsstation, später kam er auf die Abteilung 1.

Man hatte ihn anfangs nicht behandelt, dies sollte später geschehen. Sein Arzt war Radavičius.

Vilnius

Bronius Naudžiūnas aus Vilnius erhielt im Juli 1975 die Ausreisegenehmi­gung zu seinem Bruder nach Kanada. Für diese Ausreise bezahlte er einen teuren Preis. Zweimal mußte er in die psychiatrische Klinik: Vom 4. April

1972 bis 29. Juli 1972 war er in der Psychiatrischen Klinik Nr. 5 in Moskau, und vom 19. September 1974 bis 19. Dezember 1974 wurde er in der Psy­chiatrischen Klinik in Vilnius, Vasarosstr., Abteilung 1, behandelt. Im Lager Pravieniškiai verbrachte er die Zeit vom 3. Dezember 1972 bis 3. Dezember

1973 wegen Verleumdung der sowjetischen Regierung. Nachfolgend geben wir sein Schreiben an den UNO-Generalsekretät wieder:

Sehr geehrter Herr Generalsekretär,

da ich keinen anderen Ausweg aus meiner jetzigen Lage sehe, wende ich mich an Sie. Mein Familienname ist Naudžiūnas, ich wohne in Vilnius. Schon mehrere Jahre versuche ich, die Ausreisegenehmigung zu meinem Bruder nach Kanada zu erhalten. In der Kriegszeit wurde ich von ihm getrennt. Schon zweimal schickte mir mein Bruder eine Einladung nach Kanada, aber auf allen sowjetischen Ämtern, an die ich mich gewandt hatte, bekam ich die mündliche Antwort: „das ist nicht möglich", oder man beschimpfte mich mit dem Wort „Bandit". Die Sowjetunion unterschrieb ebenfalls die Erklärung der Menschenrechte, in der das Recht auf Aussiedlung verankert ist. In mei­nem Fall wird dieses Recht nicht eingehalten. In einer sowjetischen Behörde erklärte man mir, daß ich wohl wüßte, warum ich die Ausreisegenehmigung nicht erhalte. Ja, ich kenne meine Tragödie! Als zehnjähriger Bub erlebte ich folgendes: Unser Haus wurde von Soldaten mit Maschinenpistolen umstellt, man entführte meinen zwölfjährigen Bruder und mich und brachte uns nach Sibirien. Ich durchlebte Schikanen aller Art, in Lagern und psychiatrischen Kliniken. Meinen Vater brachte man 1946 im Gefängnis um, meine Mutter war am Tage unserer Entführung nicht zu Hause. Sie wurde später verhaftet, kam in ein anderes Lager. In Krasnojarsk starb sie im Jahr 1952.

1974 schrieb ich an die Botschaft von Kanada und bat um Hilfe in meiner Sache bei den sowjetischen Behörden. Ich bekam eine absurde Antwort, die auf Informationen der sowjetischen Behörden für die Kanadische Botschaft gestützt war: „Kinder können von ihren Eltern nicht getrennt werden." Dieses Antwortschreiben war ohne Unterschrift und Stempel. Hier frage ich mich: „Von welchen Eltern darf ich nicht getrennt werden?" Von meinen Eltern wurde ich doch schon als Zehnjähriger getrennt. Sie aber kamen in sowjetischen Lagern um. Welch eine Ironie des Schicksals! 1974 sind meine Eltern plötzlich aus ihren unbekannten Gräbern auferstanden, durch einen Strich auf dem Papier, um mich an der Ausreise zu meinem Bruder nach Ka­nada zu hindern. Seit meiner Rückkehr aus Sibirien lebe ich völlig mittellos in einer Bretterbude, die ich selbst zusammengezimmert habe. Im Jahre 1948, nach der Vernichtung des Faschismus, zitterte keinem Soldaten der „Befreier" die Hand, als sie uns Kinder in Viehwagen warfen und nach Sibirien ab­transportierten. Wo findet man die Garantie, daß sich so etwas nicht wieder­holt? So lebe ich jeden Tag in Angst und Elend. Keine Bindung hält midi mit der Sowjetunion zusammen. Mein einziger Wunsch ist, bei meinem Bru­der in Kanada leben zu können, der es als seine Pflicht betrachtet, sich um mich zu kümmern. Ich hoffe, daß Sie und das Komitee für Menschenrechte bei der UNO mir helfen werden, meine Sehnsucht zu verwirklichen. Jeder Mensch besitzt eigene Wünsche, die in das Streben der Menschheit nach Frei­heit und Frieden einmünden. Wenn mein Verlangen erfüllt wird, gibt es einen Menschen mehr auf Erden, der glücklich ist.

Hochachtungsvoll

Bronius Naudžiūnas, Sohn von Zigmas

Meine Adresse: Litauische SSR, Vilnius 15, Vilkapedestr. 8a-l.

Die Adresse meines Bruders: AI. Nugent, 1183 Rideau, Str., Sudbury,

Ont. Canada, Br. Naudžiūnas.

26. Dezember 1974