Im Mai 1975 waren 30 Jahre seit dem letzten Weltkrieg vergangen, der viele Menschenopfer gefordert und viele Qualen gebracht hatte. Das Jubiläum des Kriegsendes ist für die Sowjetunion das Fest des Triumphes. Dies wurde auch in Litauen gefeiert. Jedoch ist für die Katholiken in Litauen dieses Jubiläum mit einem Gedenkjahr der Trauer und der Schmerzen zusammengefallen. Vor rund 30 Jahren begann die atheistische Regierung mit dem offenen und erbarmungslosen Kampf gegen die Gläubigen, besonders gegen die litauische katholische Kirche. Dieser furchtbare Krieg wird auch heute noch gegen ehrbare Menschen weitergeführt. Um den unangenehmen Verfolgungen aus dem Wege zu gehen, waren viele Litauer gezwungen, ihre Glaubensüberzeugung wegen der Verfolgungen wie in den ersten Jahrhunderten zu verbergen und zu verheimlichen. 1945/1946 herrschten in mehreren katholischen Kirchen Litauens fast normale Zustände: Es gab noch kirchliche Kinderchöre, Schülergottesdienste mit den Lehrern, Einkehrtage und Exerzitien; in den Kirchen wurde Religions- und Katechismusunterricht für die einzelnen Schülerklassen gegeben. Aber auch damals ahnten die Wei-terschauenden in dieser „Toleranz" eine Stille vor dem Sturm, und so ließ dieser Sturm auch nicht lange auf sich warten. Bald wurden fast alle Bischöfe Litauens verhaftet. Einer von ihnen, Bischof Borisevičius, wurde im Schnellgerichtsverfahren zum Tode durch Erschießen verurteilt. Massive Verhaftungen der Priester wurden vorgenommen. Es fanden lange und qualvolle Verhöre statt, Folterungen, Gerichtsverhandlungen mit Verurteilungen bis zu 25 Jahren Haft. Zur gleichen Zeit wurden auch viele Kirchen geschlossen, die den Gläubigen teuersten und heiligsten Stätten vernichtet und verwüstet. Im Jahre 1950 wurde die zehnjährige Eingliederung Litauens in die Sowjetunion gefeiert. In dieser kurzen Zeit waren annähernd 50 katholische Kirchen und halböffentliche Kapellen — allein in Vilnius und Kaunas — geschlossen worden. Die Kapellen auf den Friedhöfen durften nicht mehr benutzt werden. (Bei der späteren Zerstörung der Friedhöfe wurden manche völlig vernichtet.) In Vilnius wurde das Denkmal der Drei Kreuze gesprengt. Auch Straßenkreuze sowie Kreuze und Bildstöcke auf öffentlichen Plätzen wurden zerstört. Am Vorabend des 25jährigen Jubiläums der Eingliederung Litauens in die UdSSR hat man die 35 Kreuzweg-Kapellen (Kalvarija) in der Nähe von Vilnius gesprengt. Die Ruinen wurden dem Erdboden gleichgemacht, so daß man nicht mehr erkennen konnte, welche Bauwerke einst dort gestanden hatten. Nachstehend eine Liste mit kurzen Vermerken der in Vilnius und Kaunas geschlossenen Kirchen und Kapellen. Diese Liste ist nicht vollständig. Die Anmerkungen beziehen sich auf den Verwendungszweck nach ihrer Schließung:
In der Hauptstadt Vilnius
1. Die Kathedrale in Vilnius (Katedra) — Gemäldegalerie.
2. Augustiner-Kirche (Augustijonu) — umgewandelt in ein Lager für Elek-troteile.
3. St.-Bartholomäus-Kirche (Sv. Baltramiejaus) — Lager, jetzt Werkstatt für Kunstgegenstände. Im Sommer 1975 wurde in dieser Kirche eine große Büste Lenins fertiggestellt.
4. Basilianer-Kirche (Bazilijonu) — Lager, jetzt Laboratorium für Baumaterialforschung.
5. Bernhardiner-Kirche (Bernardinu) — Lager der Kunstakademie, Werkstatt der Bildhauer.
6. St.-Ignatius-Kirche (Sv. Ignoto Bažnyčia) — umgebaut als Lager für Filmstudio. In der Seitenkapelle wurde das Restaurant „Bočiai" errichtet.
7. Herz-Jesu-Kirche (Šv. Jėzaus Širdies) — umgewandelt in einen Klub der Werktätigen für Bauwesen.
8. St.-Jakobus- und -Philippus-Kirche (Sv. Jokūbo ir Pilypo) — Lager der Requisiten für Theater, Oper und Ballett.
9. St.-Johannes-Kirche (Sv. Jono) — Papierlager der Druckerei der Zeitung Tiesa. Jetzt wird sie restauriert und soll ein Museum des „progres-
Innenansicht der Kapelle „Tor der Morgenröte" in Vilnius, mit dem Bild der wundertätigen Gottesmutter.
Kapelle „Tor der Morgenröte" Vilnius.
siven Geistes" werden; außerdem wird sie als Saal für Versammlungen und Konzerte dienen. Die ehemalige Kirche, d. h. das Gebäude, wird von der Universität verwaltet.
10. St.-Georg-Kirche (Sv. Jurgio) — Zentrallager für Bücher.
11. St.-Katharinen-Kirche (Sv. Kotrynos) — Lebensmittel-Vorratslager. Jetzt ist sie leer und soll als Kunstmuseum eingerichtet werden.
12. St.-Kasimir-Kirche (Sv. Kazimiero) — Lager, nach der Renovierung von 1961 atheistisches Museum.
13. Heilig-Kreuz- oder Bonifratres-Kirche (Sv. Kryžiaus arba Bonifratru) — Lager, wird nun restauriert, es soll hier ein Konzertsaal entstehen.
14. Kapelle der Wohltäter (Labdariu-Kapelle) — Lager einer Buchhandlung.
15. Maria-Himmelfahrt- oder Franziskaner-Kirche (Marijos Dangun Ėmimo arba Franciskonu) — umgebaut, dient dem Zentralen Staatsarchiv als Unterkunft.
16. St.-Michaels-Kirche (Sv. Mykolo) — Lager, es gab hier einen Brand, danach wurde alles erneuert und wird jetzt für baugewerbliche Ausstellungen benutzt.
17. Kirche der Missionare (Misijonieriu) — Lager des Amtes zur Belieferung mit medizinischen Instrumenten und sonstigem Inventar.
18. St.-Stephanus-Kirche (Sv. Stepono) — Lager für Zement und anderes Baumaterial.
19. Hl.-Dreifaltigkeits-Kirche (Šv. Trejybės) — Sporthalle, die Fassade war eingestürzt, jetzt Werkstatt des geschichtlichen und ethnographischen Museums. 1975 wurde hier das Modell des IX. Forts der alten Festung von Kaunas hergestellt.
20. Kirche der Trinitarier (Trinitoriu) — Militärlager.
21. Trinapolis-Kirche (Trinapolio bažnyčia) — Lager eines Krankenhauses, über der Sakristei hat sich ein Chauffeur eine Wohnung eingerichtet.
22. Allerheiligen-Kirche (Visu Šventuju) — Nahrungsmittellager, es hatte gebrannt, und nach teilweiser Restauration wurde hier im Sommer 1975 ein Kunstmuseum mit ständiger Ausstellung der Volkskunst eingerichtet.
23. Visitantinen-Kirche (Vizitiečiu) — Lager; jetzt Lagerraum für Sachen der minderjährigen Häftlinge.
In der Stadt Kaunas
1. Kirche „Zum Tor der Morgenröte" (Aušros Vartu) — Im Stadtteil „Aukštieji Šančiai", umgebaut in Wohnbaracken für russische Familien, später Klub der Kultur, Salzlager, jetzt Lager für Verpackungsmaterial für Nahrungsmittel.
2. Kirche in Freda (Fredos Bažnyčia) — Sporthalle für Schüler des Landwirtschaftlichen „Mičūrin"-Technikums. Jetzt verwahrlost. Seit Sommer 1975 hat sich eine Familie, die keine Unterkunft hatte, dort angesiedelt.
3. St.-Gertruds-Kirche (Sv. Gertrūdos) — Lager für Arzneimittel.
4. Garnisonskirche (Igulos bažnyčia) — Museum für Skulpturen und farbige Glasfenster.
5. St.-Georgs-Kirche (Šv. Jurgio) — Militärlager; jetzt Lagerhaus für die Belieferung mit medizinischen Instrumenten und allgemeinen sanitären Ausstattungen und Inventaren der Militärbasis von Kaunas.
6. Kreuzerhöhungs-Kirche (Kryžiaus Išaukštinimo) — wurde abgerissen und ein kleiner Sportplatz an dieser Stelle errichtet.
7. Kirche Maria Heimsuchung in dem Vorort Pažaislis (Marijos Aplan-kymo Pažaislyje) — wird restauriert und ist als Filiale des Kunstmuseums vorgesehen.
8. Benediktinerinnen-Kirche (Benediktiniu) — Lager für alte Bücher der Allgemeinen Bibliothek von Kaunas. In der Nähe wohnende Leute sagen, daß hier der „gelbe Druck" gelagert wird (d. h., vorsowjetische Literatur gestapelt ist).
9. St.-Franz-Xaver-Kirche (Šv. Prančiškaus Ksavero) — Bücherlager, jetzt Sporthalle.
10. Auferstehungs-Kirche (Prisikėlimo) — umgebaut in eine Radiofabrik.
11. Heilige Sakraments-Kirche (Šv. Sakramento) — Kinotheater.
12. Heilige Dreifaltigkeits-Kirche (Šv Trejybės) — Bücherlager Nr. 10 des Hauptlagers der Litauischen SSR.
13. Kapelle der „Sieben Schmerzen Mariens" (Septyniu Marijos skausmu) — die Kapelle befindet sich im Stadtteil „Žaliakalnyje". Sie ist total vernichtet.
14. Kirche Zur Ehre der Muttergottes von der „Unbefleckten Empfängnis" (Tyriausios Dievo Motinos Marijos, Šaričiu bažnyčia) — Verkaufslager für spezielle medizinisch-technische Spezialgeräte.
In Kaunas sind außerdem noch folgende halböffentliche Kapellen geschlossen. Sie sind früher ein Teil des Gebäudes gewesen; das Gebäude selbst hat einem anderen Zweck gedient.
1. Schutzengel-Kapelle (Angelu Sargu)
2. St. Antonius (Šv. Antano)
3. St.-Lukas-Kapelle der christlichen Caritas (Sv. Luko-Krikščioniškos meilės)
4. Kapelle „Maria — Hilfe der Christen" (Marijos Krikščioniu Pagalbos)
5. Franziskanerinnen-Kapelle (Franciškoniu)
6. St. Stanislaus Kostka (Sv. Stanislovo Kostkos)
7. St. Zita (Sv. Zitos)
8. Gefängnis-Kapelle (Kalėjimo koplyčia).
In Vilnius besteht nur eine Kapelle, in der auch heute noch Gottesdienste abgehalten werden, und zwar im „Tor der Morgenröte der Muttergottes" (Aušros Vartu Dievo Motinos). Unzählige Gotteshäuser sind vernichtet worden. Wie in Vilnius, so sind auch in Kaunas alle evangelischen Kirchen geschlossen. In Vilnius ist aus einer dieser Kirchen ein Kinotheater entstanden, aus einer zweiten Kirche eine Sporthalle. In Kaunas ist aus einer der ältesten evangelischen Kirchen ein Nahrungsmittellager gemacht worden. Dieses brannte nieder und wird zur Zeit nicht benutzt. Aus der zweiten Kirche wurde eine Sporthalle. Die neueste evangelische Kirche wurde in ein Klubhaus der Milizschule, eine Sporthalle und eine Kantine umgebaut. Es ist interessant festzustellen, daß die Regierung nicht eine einzige der russischorthodoxen Kirchen, weder in Vilnius noch in Kaunas, geschlossen hat. In Vilnius sind die russisch-orthodoxen Kirchen besonders zahlreich vorhanden. In diese Kirchen aber kommen nur wenige Gläubige zum Gottesdienst. Schon dreißig Jahre werden jetzt litauische Kirchen mutwillig zerstört, und zwar gründlich von innen und außen. Es ist ein unbezahlbarer Schaden für das litauische Volk und die litauische Volkskunst. In allen oben genannten geschlossenen Kirchen in Vilnius und in Kaunas und in den zahllosen ungenannten Kapellen befanden sich sehr viele hl. Gegenstände, Gemälde, Skulpturen, alte Fresken, Memorien-Tafeln, farbige Glasfenster, Orgeln, verschiedene liturgische Paramente und Geräte, die einen nicht zu schätzenden Wert dargestellt haben. Viele alte Kirchen stammen aus dem 15. bis 18. Jahrhundert. Im Verlaufe der Profanierung sind sie uns verlorengegangen. Sie wurden schwer beschädigt oder ganz vernichtet. Natürlich auch solche von unschätzbarem architektonischen Wert. Was in mehreren Jahrhunderten von mehreren Generationen mit viel Mühe aufgebaut und bewahrt wurde, ist jetzt verbrecherisch in 30 Jahren von diesem propagierten, angeblich friedlichen „Aufbau des Sozialismus und Kommunismus" im sowjetischen Litauen zerstört worden. Sogar die Gebeine berühmter Toten, die in den Kirchen, Katakomben und Krypten eingebettet waren, ließen diese Barbaren nicht unberührt. Zum Beispiel sind bis zum heutigen Tage die Gräber des berühmten Staatsmannes aus der Zeit des Großfürstentums Litauen, Leonas Sapiega, und seiner Familie aufgewühlt.
In der Krypta der St.-Michaels-Kirche (jetzt Gebäude für Baumaterialausstellung) befindet sich das Grabmal der Gebeine des berühmten und bekannten litauischen Architekten L. Stuoka-Gucevičiaus. Es ist vom Baumaterial verschüttet und überdeckt. Die Aufstellung berühmter Persönlichkkeiten, die in der Geschichte Litauens bekannt sind, kann ebenso lang werden (würde man alle Namen niederschreiben) wie die Liste der geschändeten Kirchen, in denen ihre Gebeine ruhen.
Im Sommer 1975, als das 35jährige Jubiläum der Eingliederung Litauens in die UdSSR gefeiert wurde, kam eine Broschüre heraus, die von J. Rimaitis entworfen war. Der Titel lautet: Katalikų Bažnyčia Lietuvoje (Katholische
Kirchen in Litauen). 2. Auflage. Diese Broschüre in luxuriöser Aufmachung wird nur in Englisch, Deutsch und Italienisch herausgegeben. Keine dieser Broschüren wird in die Hände der Bevölkerung Litauens kommen. Sie werden nur für ausländische Gäste ausgegeben und im Ausland verbreitet. Die Leser dieser Broschüren sollten wissen: man kann sich kein Bild machen über die wirkliche Lage der katholischen Kirche Litauens, weder aus diesen Propaganda-Broschüren noch aus dem Besuch der zwei Kirchen in Vilnius, der St.-Petrus-und-Paulus-Kirche und der St.-Anna-Kirche, sowie der Basilika in Kaunas.
In diese drei Kirchen haben die Touristen Zutritt, hierher werden sie von den staatlichen Fremdenführern geführt. Die wirkliche Lage aber beweist das oben von uns am Anfang dieser Schrift genannte Verzeichnis der vielen geschändeten und vernichteten Kirchen und Kapellen, auch die unzähligen angeführten Priester, Mönche und frommen Besucher, die dieses Drama miterlebt haben. Dieses Trauerspiel geht auch heute nodi weiter.