Im November 1975 wurde in Litauen ein neues Organ, die „Aušra", als Schreibmaschinenvervielfältigung unter die Leute gebracht. Die „Chronik der LKK" druckt den Einleitungsartikel der Herausgeber der „Aušra" ab:

Gediminas Zeiten würde Vaidevutis, der Berühmte, gerne wieder erwecken! Doch wo ist Vaidevutis? Maironis

Nach fast hundert Jahren erscheint von neuem die „Aušra". Es ist, als ob sich die litauische Geschichte wiederhole— die zaristische Okkupation wurde durch die sowjetische abgelöst. Von neuem ist die Existenz des litauischen Volkes bedroht. Gefährdet sind vor allem ihre Geistesgüter: Religiosität, Moral, Sprache, Literatur und die gesamte litauische Kultur. Der seelische und physische Untergang unseres Volkes wird, planmäßig und geschickt mas­kiert, ganz bewußt vorangetrieben mit den Mitteln der Hinterlist, der Lüge und des Betrugs. Der weniger vorausschauende Teil des Volkes hat die uns drohende Gefahr noch nicht begriffen. Aus Unverstand oder des täglichen Brotes wegen macht er sich zu Handlangern der Unterdrücker unseres Vol­kes.

 

Die ruhmreiche Vergangenheit von Litauen soll soweit wie möglich ver­schwiegen werden. Es ist deshalb nur folgerichtig, wenn in unseren Schulen nur sehr wenig Platz der Geschichtsdarstellung von Litauens Vergangenheit eingeräumt wird und die diesbezügliche Geschichtsliteratur nur sehr spärlich und im übrigen unbarmherzig zensiert erscheinen darf. Die vor dem Kriege herausgegebenen Lehrbücher der litauischen Geschichte werden vernichtet. Durch die Verfälschung der historischen Fakten erscheint die litauische Ver­gangenheit in einem ungünstigen Licht.

Ebenso wie die Vergangenheit unseres Volkes, sind auch die dunklen Seiten unseres heutigen Lebens dem Verschweigen anheimgefallen. Man spricht über die wachsenden Städte, man rühmt sich der aufblühenden Kurorte und der erstarkenden Industrie, verschweigt dabei jedoch die umsichgreifende Krimi­nalität, die Lager und die Seuchen.

 

Die Sorge um die Zukunft von Litauen, insbesondere um seine geistigen Kul­turgüter, wird nur von wenigen getragen. Alle Kräfte des Volkes werden nur zur Steigerung seines Lebensstandardes eingesetzt, sein Interesse wird einseitig auf Industrieanlagen, Planerfüllung und Sport gelenkt. Die Anhe-bung des geistigen und kulturellen Niveaus wird dagegen versäumt. Ein rückhaltlos dem Streben nach materiellem Wohlstand und der Trunksucht verfallenes Volk kann um so leichter seiner völkischen Identität beraubt werden.

 

Unser Volk muß aus seinem geistigen Schlaf erweckt werden. Um mit Mairo­nis zu sprechen, es bedarf eines neuen Vaidevutis... Dieser Aufgabe will sich die wiederauferstandene „Aušra" widmen.

Das Programm der „Aušra" bleibt das gleiche wie auch vor hundert Jahren:

Darstellung der litauischen Vergangenheit,

gerechte Einschätzung der Gegenwart und

Versuch eines Ausblicks in die Zukunft von Litauen. Die „Aušra" verfolgt keine politische Zielrichtung — sie strebt keine Revolu­tion oder die Wiedereinführung eines kapitalistischen Regimes an. Sie möchte als moralischer Appell an die Litauer verstanden sein und auch in schwersten Zeiten ihr völkisches Selbstverständnis wahren helfen. Das litauische Volk hat nur dann Überlebenschancen, wenn es seine Unterdrücker kulturell über­trifft. Das Beispiel der griechischen Kultur, die von den Römern übernom­men wurde, obwohl die Römer die Griechen besiegt hatten, ist wiederholbar. Die „Aušra" ruft nicht zum Völkerhaß auf. Friedliebende Menschen aller Völker, welche guten Willens sind, Litauen wohlwollend gegenüberstehen und zum kulturellen Austausch mit unserem Land bereit sind, sind unsere Freunde.

Die „Aušra" hofft auf aufrichtige Unterstützung durch alle diejenigen, die Litauen lieben, ungeachtet ihrer Weltanschauung, ihrer Parteizugehörigkeit und ihrer dienstlichen Position. Es gibt genügend Leute, selbst in verantwort­lichen Stellungen, die ihre Liebe zu Litauen nicht verloren haben und sich für das Wohl dieses Landes einsetzen soviel in ihrer Macht steht. Die „Aušra" erhebt nicht den Anspruch, sämtliche Probleme, die mit Litauen in Zusammenhang stehen, aufgreifen zu wollen. Sie beglückwünscht die „Chronik der LKK" zu ihrem vierjährigen Bestehen und freut sich über weitere Folgen dieses Blattes.

 

Wir hoffen, daß das Gedankengut der „Aušra" unter der Jugend Verbreitung findet. Möge ein vertieftes Wissen um Litauens Vergangenheit die Verbun­denheit der Jugend mit der Heimat stärken.

Die Herausgeber der „Aušra"

Die erste Ausgabe der „Aušra" enthält die vollständige Rede des Regisseurs Jonas Jurašas, der in Kopenhagen als Zeuge auf der internationalen Sacha-rovschen Anhörung zu Fragen der Verfolgung des litauischen Volkes auftrat, einen Artikel zum hundertsten Todestag von Bischof M. Valančius und A. Solženicyns Aufsatz „Das Leben ohne Lüge".