Seit Juni 1974 haben die Beamten des Staatssicherheitsdienstes begonnen, Nijolė Sadunaitė sehr intensiv zu beobachten.

Zur Informatorin des Sicherheitsdienstes wurde die Bewohnerin der Nach­barwohnung, die Lehrerin Aidietienė. Sie hat gewissenhaft verfolgt, wer zu Nijolė gekommen und wann der Besuch wieder weggegangen ist. Telepho­nisch gab sie den Sicherheitsdienstbeamten durch, wann immer Nijolė selbst aus dem Hause gegangen war. Drei Tage nach Nijolės Verhaftung hat der Sicherheitsdienstbeamte Vincas Platinskas ihrem Vetter Vladas Sadūnas ge­genüber großgetan, daß Frau Aidietienė am 27. August 1974 um 14 Uhr beim Komitee des Sicherheitsdienstes angerufen und gemeldet habe, daß in Nijolės Wohnung das Geklapper einer Schreibmaschine zu hören sei. Nach zwei Stunden ist eine starke Gruppe von Sicherheitsdienstbeauftragten er­schienen, die in die Wohnung Nijolės eindrang und mit der Durchsuchung be­gann. Die Beamten sagten zu Nijolė: „Du bist doch katholisch, wie kannst du dann die Chronik der LKK drucken, wo doch nur Lug und Trug über angeb­liche Verfolgungen der Gläubigen zusammengeschrieben werde!" Darauf antwortete Nijolė gerade heraus: „Die Wahrheit eines jeden Vergehens der Atheisten, das in der Chronik der LKK hervorgehoben wird, wird bezeugt mit den Tränen der Gläubigen". Die Sicherheitsdienstbeauftragten haben noch behauptet, der Artikel über das Begräbnis Kanonikus Petras Rauda sei sicher von Nijolė geschrieben. Das hat sie mit der Bemerkung geleugnet, wenn sie ihn geschrieben hätte, dann hätte sie sehr viel ausführlicher die Be­hinderungen geschildert, die während der Beerdigung vom Sicherheitsdienst verursacht wurden. Dann begannen die Tschekisten den verstorbenen Kan. P. Rauda zu verhöhnen. Entrüstet sagte Nijolė: „Ihr alle zusammen seid nicht so viel wert, wie eine kleine Zehe des Kanonikus!"

Zwei Stunden nach Beginn der Durchsuchung ist noch ein Beamter hinzuge­kommen und hat Nijolės Bruder Jonas Sadūnas befohlen, zum Verhör im Si­cherheitskomitee mitzufahren. Nijolė hat dagegen protestiert und gesagt, daß ihr Bruder an Lungenentzündung erkrankt sei und daß sie kein Recht hätten, einen Kranken abzuführen, aber darauf wurde keine Rücksicht genommen. Nach der Abführung wurde auch seine Wohnung durchsucht, aber nichts ge­funden.

Nach der Verhaftung von Nijolė Sadūnaite hat sich der Gesundheitszustand ihres Bruders stark verschlechtert und er mußte anderthalb Monate lang im Krankenhaus liegen.

Einige Wochen nach Nijolės Vernehmung hat der Sicherheitsdienstbeamte V. Platinskas dem Vladas Sadūnas trostsuchend eröffnet, daß die Untersu­chungsrichter sehr nervös geworden seien, weil Nijolė auf ihre Fragen keine Antwort gegeben habe.

Die Untersuchungsrichter haben eine große Anzahl von Zeugen vernommen: es wurden Nijolės Verwandte und Bekannte vorgeladen, aber es konnte kein Beschuldigungsgrund gefunden werden. Allen Verhörten wurden immer wie­der die gleichen Fragen vorgelegt: „Hat Nijolė ihnen die Chronik der LKK oder andere religiöse Literatur zum Lesen gegeben, hat sie etwas über die Herausgeber der Chronik der LKK erzählt, über die Verfolgung der Gläubi­gen?" Die Antworten waren immer negativ.

Anfang 1975 hat der Sicherheitsdienst einen Brief an Nijolė aus Polen festge­halten. Heinrich Lacvik hat von der Verhaftung Nijolės nichts gewußt. In seinem Brief hat er von seinem Besuchsaufenthalt 1974 in Litauen ge­schrieben.

Im Februar 1975 ist der Sicherheitsdienstbeamte V. Platinskas nach Polen zu H. Lacvik gefahren und hat ihn über seinen Besuch in Litauen ausgefragt, seit wann er mit Nijolė Sadūnaitė bekannt sei, ob Nijolė etwas über dieChronik der LKK erzählt hätte, über die Verfolgung von Priestern und Gläubigen in Litauen, und ob sie keine Literatur übergeben hätte. Die Antworten waren negativ.

Die Zeit verging, und Anklagegründe gegen Nijolė hatte der Sicherheits­dienst immer noch nicht, außer 3 bei der Durchsuchung beschlagnahmten Nummern der Chronik der LKK und einige Seiten der Chronik der LKK, die mit Schreibmaschine getippt waren.

Dem Sicherheitsdienst ist Nijolės Vetter Vladas Sadūnas zu Hilfe gekommen. Auf Anweisung des Sicherheitsdienstes ist er überall zu den Verwandten ge­fahren und hat diese ausgefragt, ob Nijolė nicht irgend einem die Chronik der LKK oder religiöse Literatur zu lesen gegeben hätte, ob sie nicht über die Herausgeber derChronik der LKK erzählt hätte usw. Zu seinem Vetter Vy­tautas Sadūnas ist er mit einem Sicherheitsbeamten gegangen.

Am 25. März 1975 hat Regina Sadūnienė (die Frau von Vladas Sadūnas) dem Komitee des Sicherheitsdienstes die Nr. 8 der Chronik der LKK ge­bracht, obwohl sie vor Gericht ausgesagt hatte, sie hätte diese Nummer auf dem Schreibtisch ihres Mannes gefunden, aber woher sie stamme, wüßte sie nicht. Nijolė hätte ihr nichts zum Lesen gegeben.

Vladas Sadūnas hatte ausgesagt, Nijolė habe ihm die Chronik der LKK und das Buch „Simas" zum Lesen gegeben.

Der Zeuge Schuldirektor Povilaitis (s. Chronik der LKK, Nr. 8) hat ausge­sagt, er habe den Schülern die Teilnahme am Begräbnis des Schülers Rober­tas Adrijauskas, das mit kirchlichen Zeremonien vollzogen wurde, nicht ver­boten, da das Begräbnis außerhalb der Schulzeit stattgefunden hätte. Als Ni­jolė fragte, warum er und die Lehrerin Šlimaitė bei der Vernehmung ausge­sagt hätten, daß die Beerdigung zu Beginn des Schuljahres stattgefunden habe, war Povilaitis verunsichert und antwortete, daß dies ohne Belang sei. So ist es undurchsichtig geblieben, wann der Direktor die Wahrheit gesagt, und wann er gelogen hat. Zur Erhärtung der Aussage von Povilaitis wurde kein einziger Schüler vom Gericht vorgeladen.

So hatte der Sicherheitsdienst noch einen Zeugen gefunden, der die in der Chronik der LKK Nr. 8 erschienene Nachricht (diese Nummer hatte R. Sadūnienė zum Sicherheitskomitee gebracht) zu verneinen bereit war, aber die Untersuchungsrichter hatten den Direktor Povilaitis für die Ge­richtsverhandlung schlecht vorbereitet, sie hatten seine bei der Verneh­mung gemachten Aussagen vergessen.

Der Zeuge Kušleika hat vor Gericht die Wahrhaftigkeit der von der Chronik der LKK hervorgehobenen Fakten bekräftigt, indem er bejaht hat, daß man seinen Sohn wirklich unter Zwang gesetzt hätte, damit er den Pionieren bei­träte.

Acht Monate lang haben die Sicherheitsdienstbeamten keinen Zeugen gefun­den, der die Richtigkeit wenigstens eines einzigen Faktums aus der Chronik der LKK verneinen konnte. Sie haben niemanden gefunden, weil unwahre Informationen nicht in der Chronik der LKK erschienen sind. Der Richter Kudriašovas und der Staatsanwalt Bakučionis kannten den In­halt der Verteidigungsrede von Nijolė und haben, damit die Zeugen die Rede Nijolės nicht hören sollten, alle aus dem Gerichtssaal entfernt, nur ihr Bruder durfte bleiben. Zu Beginn der Gerichtsverhandlung hat der Staatsanwalt Ni­jolė den Rat gegeben, die Verteidigungsrede nicht zu halten, dann gäbe es die Möglichkeit, die Strafe zu verringern. Nijolė widersprach: „Ich bin keine Spe­kulantin und verschachere nicht meine Uberzeugung".

Später hat die Auslandspresse geschrieben: „Während der Gerichtsverhand­lung hat die Angeklagte ihre Rolle mit dem Staatsanwalt getauscht. Nijolė ist während ihrer Rede zum Staatsanwalt geworden und Bakučionis zum Ange­klagten".

In seiner Anklagerede hat der Staatsanwalt Bakučionis zugegeben, daß in Li­tauen die Rechte der Gläubigen verletzt werden.

Am 17. Juni 1975 hat der Richter Kudriašovas das Gerichtsurteil verkündigt: „Wegen Vervielfältigung und Verbreitung der Chronik der LKK wird sie be­straft zu drei Jahren Freiheitsentzug unter Verbüßung der Strafe in Lagern des strengen Regimes und zu drei Jahren Verbannung". Das hat mehr Ähn­lichkeit mit einer blinden barbarischen Rache als mit einem Akt der Gerech­tigkeit.

Nach der Gerichtsverhandlung soll der Untersuchungsrichter Pilelis zu Nijolė gesagt haben: „Im Vergleich zu den begangenen Vergehen hast du eine zu hohe Strafe bekommen".

Ein Kranker hat an Nijolė im Lager geschrieben: „In unserer sowjetischen Wirklichkeit ist es üblich, alles mit einem anderen Namen zu benennen: die Wahrheit wird Lüge genannt, das Gute — Schlechtigkeit, die Wirklichkeit— Verleumdung. Die Helden des Volkes - Verbrecher oder Kriminelle". Die Richtigkeit dieser Worte wird dadurch bestätigt, wie N. Sadūnaitė ge­richtlich unter Druck gesetzt wurde. Der Prozeß war grob inszeniert, ja sogar die Zeugen (Povilaitis und Vladas Sadūnas) vom Sicherheitsdienst bestochen und speziell vorbereitet.

Vladas Sadūnas hat in angetrunkenem Zustand seinen Verwandten gegen­über bekannt, daß der Sicherheitsdienst ihn zu den Aussagen gezwungen habe, Nijolė habe ihm einige Nummern der ,Chronik der LKK1 und das Buch,Simas' zum Lesen gegeben. Die Verwandten haben ihn gefragt, warum er das nicht bei der Gerichtsverhandlung so erklärt hätte. Er hätte geantwortet, daß ihn der Sicherheitsdienst dafür geköpft hätte.

Vom 27. August 1974 bis zum 20. Juni 1975 hat Nijolė im Isolator des Ko­mitees für Staatssicherheitsdienst zugebracht, später in verschiedenen für Ge­fangene bestimmten Zellen. Nijolė wurde von mehreren Untersuchungsrich­tern verhört. Anfangs hat das Verhör der Oberuntersuchungsrichter für be­sonders wichtige Prozesse Petruškevičius geleitet. Keine einzige Frage der Untersuchungsrichter hat Nijolė aus Protest gegen diesen Prozeß beantwor­tet. Deshalb wurde nach einem Monat die Leitung des Verhörs an den Unter­suchungsrichter Pilelis übertragen, aber auch dann hat Nijolė auf die vorge­legten Fragen keine Antwort gegeben.

Die Untersuchungsrichter haben gedroht, wenn sie die Fragen nicht beant­worten werde, dann käme sie in ein psychiatrisches Krankenhaus, wo es viel schlimmer sei als in einem Lager, oder man würde sie in einem kalten, feuch­ten und dunklen Karzer einschließen.

In den Monaten Januar und Februar 1975 war Nijolė an Bronchitis und An­gina erkrankt, hatte Fieber und starken Husten, aber eine medizinische Hilfe wurde ihr nicht gewährt.

Während ihrer langen und strapaziösen Reise nach Mordovien mußte sie viele Erniedrigungen und Verhöhnungen erfahren. Im Lager angekommen hat Nijolė nach ihrer medizinischen Untersuchung erfahren, daß sie in den elf Monaten seit ihrer Verhaftung fünfzehn Kilo Gewicht verloren hatte. Die Nahrung im Lager war sehr eintönig und von schlechter Qualität: Grießbrei ohne Fett, Fisch, Fleischabfälle (Euter, Zwerchfell, Lunge von Kühen). Im Herbst gab es einige Monate lang Kohlsuppe und als die Kohlvorräte zu Ende gingen, dann kochte man eine andere Suppe, aber monatelang immer die gleiche.

Am 10. Oktober 1975 wurde Nijolė krank. Sie hatte hohes Fieber, starken Husten, Schwindelgefühle, sowie eine allgemeine Schwäche des Organismus. Erst im Dezember hat man sie im Lagerhospital untergebracht. Eine Krank­heitsdiagnose wurde nicht gestellt und sie wurde vor ihrer Genesung aus dem Hospital entlassen. Als Kranke mußte sie Handschuhe nähen. Im Februar 1976 wurde Nijolė wieder im Hospital untergebracht. Eine Krank­heitsdiagnose wurde wiederum nicht erstellt, am 3. März wurde sie, vor ihrer Genesung, aus dem Hospital entlassen.

Am 21. Dezember 1976 ist Nijolė erneut erkrankt. Sie hatte hohes Fieber und mußte zehn Tage lang das Bett hüten, aber im Hospital hat man sie nicht untergebracht.

Gegen Ende dieses Winters schrieb N. Sadünaite: „Mit der Arbeit habe ich Erfolg - ich erfülle immer die Norm des Handschuhnähens. Jetzt wird es et­was schwieriger - ich bin erschöpft. Aber das macht nichts, denn bald ist Frühling. Die Grashalme werden erwachen und mit ihnen kommen auch mehr Kräfte, denn wir essen mit Appetit Löwenzahn, Gartenmelde und Blu­menknospen. Das sind Vitamine und Kalorien".

Englische Zeitungen haben berichtet, daß an Nijolė aus England über drei­hundert Briefe abgeschickt wurden, die aber zurückkamen. Auch aus Litauen erreichten nicht alle Briefe das Lager. Die Zensoren nahmen aus den Briefen religiöse Bildchen, Weihnachts- und Ostergrüße, ja sogar einfache schönere Bildkarten heraus. Ebenso erreichten auch die von Nijolė geschriebenen Briefe nicht alle die Adressaten. In den Monaten Januar Februar 1977 haben die Zensoren des Sicherheitsdienstes zwei Briefe von Nijolė festgehalten. Vom 13. März bis zum 13. Mai 1977 war Nijole im Untersuchungsisolator von Sarasansk untergebracht, in der ASSR Mordovien. Auf der Reise nach Sarasansk ist sie an Bronchitis erkrankt. Die Ärzte hatten eine chronische Bronchitis festgestellt. Die Temperatur war ständig hoch. Aus Sarasansk ist sie mit einer verschärften Bronchitis zurückgekehrt - wie­derum mit hoher Temperatur und völlig entkräftet. Weil die Kranke nicht ausreichend behandelt wurde, ist es zu Bronchialkatarrh gekommen. Jetzt hat man vor, Sadūnaitė im Hospital unterzubringen. Unterdessen werden die un­menschliche Nahrung im Lager und andere Verhältnisse Nijolė völlig entkräf­ten. Ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich ständig.