25. Juli 1977. Heute ist der dritte Verhandlungstag. Nach langen quälenden Verhören erhofften sie wohl im Saal mitfühlende Menschen zu erblicken, deren Blicke zu spüren und zu wissen, daß in dieser schweren Stunde jemand für sie betet. Während der ersten Tage gähnte ihnen jedoch eine dunkle Leere entgegen. Nur der eine oder andere Verwandte, der verspätet vom Gerichtstermin erfahren hatte und in die Tiefe des Saales, wie ein Stacheldrahtzaun, eine Gruppe von Sicherheitsdienstbeamten — dies war das Gerichtspublikum. Allmächtiger, Du verlangtest ihnen ein großes Opfer ab: viele Qualen und die Preisgabe der Ihrigen. Die Sicherheitsbeamten können sich gratulieren zu ihrem klugen Plan, den Gerichtstermin in die Haupturlaubszeit zu verlegen. Frohlocket nicht! Die Qual der Festgenommenen wird einen neuen Sturm des Wahrheitsstreben in den jungen Herzen entfachen!

Wir befinden uns bereits im Saal. Diesmal sogar ein richtiges Grüppchen. Die ersten Stuhlreihen sind absichtlich so eng gestellt, daß sich niemand dort hinsetzen kann. Was soll's — wir besetzten die nächsten zwei Reihen. Wir dachten, uns würde nichts entgehen. Doch unsere Freude war nur von kurzer Dauer — es erschien ein Trupp Soldaten, und uns wurde unmiß­verständlich befohlen, auf die weiter hinten liegenden Reihen auszuweichen. Was fürchtet ihr, Genossen?! Unsere Einigkeit? Ihr tut recht daran zu fürchten! Wir fühlen uns stark, auch wenn uns tausende von Kilometern und dicke Gefängnismauern trennen, was bedeuten da schon zwei Stuhl­reihen.... nichts!

Endlich erscheinen das Gerichtsgremium und die von Soldaten begleiteten Gefangenen. Ihre blaßen Gesichter, ihre unsicheren Schritte zeugen von ihrem angegriffenen Gesundheitszustand.

Ona Pranskünaite darf das „Letzte Wort" sprechen. Wie sehr sehnten wir uns nach ihrer lieben Stimme, wie sehr wollten wir ihre letzten Worte hören. Leider war nur ein einziger zusammenhängender Satz zu verstehen.

Und nun? Das Gericht verkündet eine Pause bis ungefähr 15 Uhr. Unsere Gesichter werden lang. Was sollen wir tun, es ist doch erst 10.30 Uhr. Wir werden ausharren und den Saal nicht verlassen. Vielleicht ist dies nur eine List des Sicherheitsdienstes. „Ungefähr 15 Uhr". Womöglich werden sie gegen 12 oder 13 Uhr schon weitermachen.

Doch auch diesmal wurden unsere Hoffnungen zerstört — die Sekretärin wies uns „höflichst" aus dem Saal. Wir versuchten uns zwar zu sträuben — die Sekretärin hat ja keinen Revolver und wird uns nicht gerade erschießen. Das arme Mädchen sagte nervös, fast unter Tränen: „Geht hinaus, denn manchmal durchschneiden die Zurückgebliebenen uns die Mikrophonkabel." Wir gingen, nicht so sehr aus Gehorsam, als vielmehr aus Mitleid mit der armen Sekretärin... Wie interessant: „Die Mikrophonkabel werden durch­geschnitten!"

Wir gruppierten uns, sprachen miteinander, beteten und blickten immer wieder zum Saal hin. Die Sicherheitsbeamten durchbohrten uns mit ihren Blicken, spitzten die Ohren, doch was soll's (ihr armen Brüder), da wir die Wahrheit auf unserer Seite haben!

Endlich ist es 15 Uhr. Wir drängen in den Saal. Wir besetzen unsere Plätze und es scheint, daß uns nicht einmal ein Traktor jetzt vertreiben könnte, möge das Gericht auch erst gegen 20 Uhr erscheinen. Doch es bedurfte keines Traktors. Die strenge Stimme eines Sicherheitsbeamten: „Bitte den Saal zu verlassen", erwies sich mächtiger als die Technik. Betrübt verließen wir den Saal und begriffen nicht den Grund des Herausschmisses. Doch nicht etwa wieder wegen der Mikrophone...

O welch' Glück! Um 15.30 Uhr öffnete sich wieder die Saaltür. Ein junger Mann hatte einen Blumenstrauß bei sich. „Die Blumen bleiben hier" — rief schneidend ein Sicherheitsbeamter. „Ich bin zu einem Geburtstag eingeladen" — verteidigte sich sanft der Junge. „Da lassen, sage ich. Dies ist kein Ort für Blumen!" schnitt barsch der Beamte jede weitere Argumentation ab.

Dies ist kein Ort für Blumen? Ja wo gehören sie denn hin? Das Kindchen streckt der Mutter aus Liebe und Dankbarkeit ein Blümchen entgegen, die Gräber der Helden werden mit Blumen bedeckt, da sie ihr Leben für die Freiheit des Volkes opferten, doch die Gläubigen, die ihr Leben für die Verbreitung der Wahrheit gefährden, haben nicht das Recht, einen bescheidenen Strauß von ihren Freunden anzunehmen. Hier ist nicht der Ort... O Brüder, mögen eure Leiden die wundervollsten Blüten in der Ewigkeit hervorbringen. Nur dort ist der wahre Ort euch die herrlichsten Blüten zu überreichen.

Erst jetzt begriffen wir, warum man uns aus dem Saal gewiesen hatte. Die Angeklagten, umringt von Soldaten, saßen schon auf ihren Plätzen. Den Unglücklichen war es nicht einmal vergönnt gewesen, auch nur einen einzigen Blick auf ihre Freunde werfen zu dürfen. Mit dem Rücken zu uns standen sie da und wurden unbarmherzig von den Soldaten in die Seiten geknufft, wenn einer von ihnen sich auch nur umzuschauen wagte. O teure Freunde, unsere Blicke trafen sich nicht, doch eure Geistesgröße gibt uns Stärke; auch wir werden den Allmächtigen bitten, er möge euch die Kraft und Stärke verleihen, die Leiden heldenhaft zu ertragen.

Der Gerichtsbeschluß wird verlesen. Stehend vernehmen wir das Urteil: „Verleumderische Literatur ... für das Verbreiten und Vervielfältigen verleumderischer Literatur...und das Schreiben von Eingaben..." Beschlüsse: drei Jahre, zwei Jahre... Das Urteil ist verkündet. Wir müssen den Saal verlassen. Unsere Beine sind wie gelähmt. Versteinert stehen wir da, unfähig uns zu rühren, der strenge Befehl des Soldaten, den Saal zu verlassen, bleibt unbeachtet. Wir hoffen noch einen Blick auf die Gesichter der Verurteilten zu werfen, wir wollen die Luft des Leidens und der Erniedrigung einatmen, wie es unsere Brüder so lange tun mußten.

Schließlich verlassen wir schwerfällig und unschlüssig den Saal. Die Worte erstickten in der Kehle, ein Gefühl der Trauer, — als hätten wir einen teuren Nahestehenden zu Grabe geleitet, — beherrscht unsere Sinne. Wie betäubt stehen wir noch eine Weile vor dem Gerichtsgebäude, niedergeschmettert von den Eindrücken und der Anspannung. Dann begeben wir uns zum Tor der Morgenröte, um dort auf dem Altar diese erneut der Wahrheit zugefügte Demütigung zu opfern.