A us Briefen von Ona Pranskūnaitė 2. November 1977

Meine Liebe, heute besuche ich in Gedanken den Garten der Toten. Dieses Jahr werde ich kein Lichtlein auf dem verlassenen Grabhügel anzünden, wird sich mein Herz nicht am Flackern der tausend Kerzen erfreuen können, kein brau­sendes Orgelpräludium hören, nicht das Glück haben, die Gnadenerweise der hl. Messe hinauszusenden ans andere Ufer. Doch ich meine, das sei nicht das Wichtigste! Wichtig ist allein, daß die einem Menschen zugemessene Zeit abge­laufen ist. Mein Glück will ich darin finden, zu tun, was ich tun soll. (. . .)

24. Dezember 1977

Ich danke Euch für die Weihnachtsgeschenke. Man hat sie mir nicht übergeben. Die Postkarte wurde zusammen mit der Oblate an meine Personalakte geheftet. Denn der Stern auf der Postkarte ist ihnen unbekannt — eben kein Fünfzacker. Unter sich erwogen sie, ob nicht irgendwas in der Oblate »eingebacken« sei. (. . .) Falls möglich, sendet mir bitte ein Paket. Es darf enthalten — ein halbes Kilo Rauchkäse, ein halbes Kilo Butter, der Rest kann aus Räucherspeck beste­hen. Gesamtgewicht nicht über 5 kg. Bitte packt weder Wurst noch Wurstwaren noch anderes hinein, so etwas wird mir nicht ausgeliefert. Das Paket erreicht mich ungefähr nach einem Monat.

(. . .) In meinem Brief schwingen Töne der Heimatsehnsucht mit. Versteht mich nicht falsch. Wenn Gott es will und daraus Nutzen entsteht, will ich die Heimat mit meinen leiblichen Augen nicht mehr wiedersehen. Doch ist sie mir lieb und teuer. Würde ich nicht versuchen, diese sehnsüchtige Liebe in Worten auszu­drücken, es hieße, ich liebte sie nicht.

Wir arbeiten viel. Manchmal 14—15 Stunden am Tage, doch spüre ich kaum allzugroße Müdigkeit. Schlafe nachts schlecht. Um zwei Uhr morgens hört man von der Koloniezone Lieder singen, die zweite Schicht kehrt von der Arbeit zu­rück. Ich würde nicht sagen, daß diese Lieder aus frohem Herzen kommen, oft schwingt innere Hohlheit mit . . .

Für Euer Gebet, alle Fürsorglichkeit und guten Wünsche danke ich Euch, Kin­der von Marienland! Euch, liebe Volkskameraden, sende ich Tag für Tag durch des Höchsten Hände die Geschenke, deren mein Leben übervoll ist. Gott sei mit Euch.

23. Januar 1978

(. . .) Wir arbeiten lange Arbeitsstunden. Im Monat gibt es nur einen freien Sonntag. Die Gesundheit ist etwas besser, doch wie lange? (...)

20. Februar 1978

(. . .) Kinder von Marienland! Der Regen göttlicher Gnade komme über Euch. Seid nicht ängstlich und sorgenvoll, bleibt weise und stark . . . Immer bei Euch im Gebet, im Leid und im Traum!

9. März 1978

Wie sehr warte ich auf Eure Briefe. Endlich da, . . . doch schwer wie Blei ist sein Inhalt. Ich wollte ihn vernichten. Doch das Datum: verstorben am 18., be­graben am 22. . . . Bestattung . . . irgendwer hat meine Mutter beerdigt. Nein, ein Telegramm habe ich nie erhalten.

Kinder von Marienland! Bleibt Gott ergeben, folgt gehorsam jedem seiner Winke . . .

20. März 1978

(. . .) Stets sind sie mir vor Augen — gegenwärtig —, Mutters Hände, gefaltet zum letzten, ewigen Gebet. Hände, die meine kindliche Hand führten, von der Stirne zur Brust, die mich lehrten, das Kreuzzeichen zu machen. Hände, die selbst dem gekneteten Brotlaib noch das Kreuz aufprägten, die selbst das ent­fachte Feuer noch segneten. Jene müden Hände, die über das Bettchen der Kin­der noch das Kreuz schlugen. Hände meiner Mutter . . . Wie gut erinnere ich mich noch daran — als ich vor vielen Jahren aus dem Osten zurückkehrte und Mutter mit dem Zipfel ihrer Schürze sich die Augen wischte und stammelte: »Kind, nun bist du zurück . . .« Stillschweigend wischte auch Vater sich die alten Augen und sah mich schweigend an. Kein Wort. Er sprach nie, beobachtete nur. Das war seine Erziehungsmethode. Ein Mensch müsse ei­nen anderen verstehen auch ohne daß ein Wort falle. Vater, mein Vater, der uns abends beim Schein der Petroleumlampe aus der Bibel vorlas und die Heilige Schrift erklärte . . . Die Lampe ist aus, das Licht verloschen, die Bibel zuge­klappt. Und Vater schweigt für ewig . . . Alle Eure Briefe habe ich bekommen. Nach diesem werde ich nicht so bald wieder einen schreiben. Zwischen Aufste­hen und Ruhezeit bleibt nur eine halbe Stunde. Schlaf genug. Wir schlafen acht Stunden . . .

26. März 1978

In diesem Jahr hatte ich nicht das Glück, an Einkehrtagen teilzunehmen, kein feierlicher Palmsonntag, kein frohes Auferstehungsfest. Das Auge konnte sich nicht am Glanz der im hellen Sonnenlicht glänzenden Monstranz erfreuen, kei­ne wehenden Fahnen im Frühlingswind, keine wogende Menge betender Seelen. Und doch tauchte ich unter mit Euch im herben Ernst der Leidenszeit, mit Euch geleitete ich Christus auf seinem Weg nach Jerusalem, breitete die Palmblätter meines Lebens zu seinen Füßen aus und sang mit Euch »Komm zu uns, mächti­ger König«. Mit Euch geleitete ich Christus zu Seinem Platz auf dem Altar des Gesetzes, dankend für Seine Gegenwart in unserer Mitte, verneigte mich vor Christi Kreuz, kniete an seiner Bahre und sang das »Weinet ihr Engel«, into­nierte das feierliche »Gloria« mitsamt der ganzen christlichen Welt. — Und nachdem ich Christus selbst in mein Herz aufgenommen, schreibe ich dankbar für den mir gewiesenen Lebensweg: »Auferstanden bist Du, Christus, auf den Altären . . .« »Auferstanden in meinem christlichen Volk.« »Auferstehe auch in meinem Herzen . . .«

23. April 1978

Ein gläubiger Mensch muß heute um seines Glaubens willen viele schwere Lei­denswege durchschreiten: man will ihn zu Tode bringen, in den mörderischen

Verließen der Geheimpolizei martert man ihn langsam zu Tode oder in Panik erzeugenden Deportationslagern, will ihn in Einzelkammern der Gefangenen­waggons ersticken, um seine Liebe zu Christus schließlich in den Schneewüsten Sibiriens zu unterkühlen. Wie schmerzhaft ist es festzustellen, daß sich der eine oder andere Sohn unseres Volkes von mancher »Fee«, die ihr Gewissen verloren hat, durch Versprechen von Freiheit und gesichertem Leben, den Preis einiger Silberlinge, verführen läßt. Die mir seinerzeit von Geheimdienstlern versproche­ne »Freiheit« erfreut mich nicht. Was soll eine Freiheit, in der ich dauernd von bösen, mißtrauischen Augen beobachtet werde, überall von Spitzeln begleitet, nur noch unter der Lupe zu leben. So würde meine zukünftige Freiheit ausse­hen. Silberlinge? Was sollte man eigentlich damit anfangen? Eines Töpfers Acker braucht man nicht mehr zum Begräbnis der Pilger. Die zugepilgerten Einwanderer haben uns unterjocht und werden uns dort bestatten, wo es ihnen gerade paßt. Uns, die wir Hoffnung des ewigen Lebens haben, ist nicht so wich­tig, unter welchen Umständen wir unsere Tage beenden, wo man uns unser Grab gräbt. Uns kümmert weit mehr, daß Menschen unseres Volkes, erfüllt von Christi Lehre und Geist, auf den Grabhügeln ihrer Vorgänger stehend — um so größer, stärker und tapferer werden! Denn jeder von uns wird sich gerade we­gen der Nichteinhaltung und Nichtweitergabe der lichten Lehre unseres Hei­lands vor Gott zu verantworten haben (. . .).

1. Mai 1978

(. . .) Aloyzas — ein mir unbekannter Sohn meines Volkes — rechnet mich in seinem Brief zu den politischen Gefangenen. Er irrt sich nicht. Der Geheim­dienst hat mich dazu gemacht. Früher habe ich mich immer für unpolitisch ge­halten, mich nie um Politik gekümmert. Als gläubiger Mensch interessierte ich mich für religiöse Literatur, die ich vervielfältigt habe, da ich ihren Nutzen und den großen Hunger danach in meinem Vaterland erkannte. Ich habe ganze Nummern der »Chronik der Litauischen Katholischen Kirche« abgeschrieben, weswegen man mich politischer Tätigkeit beschuldigt hat. Diese Publikation halte ich nicht für politisch und werde sie auch nicht als politische an­sehen . . ., denn darin stehen nur unumstößliche Tatsachen.

(. . .) Am folgenden Tag schickte meine Schwester das Telegramm über Mutters Tod. Sie haben es mir nie gegeben, so als sei es nie angekommen. Dann erwirkte meine Schwester ein ärztliches Attest, mit dem sie sich an den Milizchefin Biržai wandte, wo Mutter polizeilich abgemeldet war, und ersuchte um eine Unter­schrift, um mit diesem offiziell beglaubigten Dokument mir telegraphisch eine Einladung zu übermitteln. Der Milizchef verweigerte die Unterschrift. Er wei­gerte sich, Mutters Tod zu bestätigen. Dabei ist ohnehin klar, daß ohne offiziel­le Abmeldung kein Totenschein ausgestellt werden darf. Ich weiß genau, daß nach einer Verfügung des Innenministeriums Beurlaubung aus der Lagerhaft bis zur Dauer von zwei Wochen möglich ist — nicht nur beim Tode der Eltern eines Häftlings, sondern bereits bei Todesgefahr oder ernsthafter Erkrankung. Na­türlich kommt so etwas in meinem Fall nicht zur Anwendung (. . .). Oft werde ich hier gefilzt. Ich ganz allein! Bei einer solchen Aktion nahm man mir einen kleinen Rosenkranz weg, den ich neun Monate hindurch verstecken konnte. Auch ein Bildchen und die Oblate zur Geburt Christi wurden nicht zu­rückgegeben. Auch die von irgend jemand zugelegten beiden Bildchen, als Bei­lage zu den Grüßen zum hl. Osterfest, wurden einbehalten. Bösartig fragte die Leiterin des Regimelagers: »Sollen etwa auch diese Bilder der Personalakte bei­gelegt werden?« — »Natürlich, nur zur Personalakte. Ich wünsche, daß meine Akte mit Sakramentalien dekoriert wird.« Wissen möchte ich in diesem Zusam­menhang nur, wo eigentlich die von Pfarrer Č. Krivaitis verkündete Glaubens­freiheit ist. Leuten dieses Schlages würde ich raten, den Leidensweg meines Mit­häftlings V. Lapienis nachzuvollziehen. Der weiß von keiner Lüge noch Heu­chelei. Ein wahrhaft vollkommener Mensch.

Brüder und Schwestern in Christo.ängstigt euch nicht im Zugwind dieser Zeiten! Gott sendet Not, aber auch Kraft zu überwinden. Reue tut not für die Brüder, die ihr Gewissen um ein Linsengericht verkauften, Reue bedürfen unsere Ver­folger, der Reue bedürfen auch wir selbst.

1. Mai 1978

(. . .) Der Frühling des vergangenen Jahres verging in den trüben Verließen des Geheimdienstes. Nur träge kriechen die Tage dort dahin. Die Stadt war voll mit warmer Frühlingssonne — doch nie drangen ihre Strahlen durch die Kellerfen­ster. Die Zelle ist feucht und kalt. Erst wenn man uns in den »Auslauf« führte, verspürten wir etwas von der linden Frühlingswärme (. . .).

 

Mai 1978

Es wird Euch interessieren, was für eine Stadt dies Kozlovka ist. Es besteht aus drei winzigen Dörflein, verstreut über Berge, Hänge und Täler. Die Gegend ist schön: Hügel, Wälder, Schluchten, nicht weit vom Kälte ausstrahlenden Wolga­fluß. Doch fremd bleibt das Land, und die Schönheit der Gegend sagt dem Her­zen wenig zu. Außerdem betrachten wir die ganze »Schönheit« sehr einseitig — durch die halbgeschlossenen Fenster im zweiten Stock eines Fabrikgebäudes. Die kleinen Häuschen der Bewohner sind aus Holz, ähneln den Badehäusern in unseren Dörfern und haben ein, zwei oder drei Fenster mit Fensterläden. Die Leute in diesem Tal leben praktisch alle von dem Lager, und die im Lager hinve­getierenden Wesen werden als Einwohner des Städtchens Kozlovka geführt! Wie man hört, waren die drei Dörfer früher wegen ihrer vielen Ziegen berühmt. Als sich unser Eisenbahnzug dem Städtchen Kozlovka näherte, wartete da schon ein Auto samt Wachmannschaft des Lagers. Nach 300 Meter Fahrt waren wir schon in dieser Festung, umzäunt von zwei Ziegelmauern und zwei Reihen

Stacheldraht. Und innerhalb dieser Umzäunung bewegten wir uns alsbald ziem­lich ungezwungen, als Hiesige sozusagen (. . .) Wir sind im Obergeschoß eines Ziegelbaus untergebracht. Hier verbringen wir also unsere Tage, die langsam und monoton dahinkriechen. In diesem Lager sind Frauen verschiedener Berufe inhaftiert, die früher einmal verschiedene Posten bekleideten: Ingenieure, Ärz­tinnen, Lehrer, Buchhalter, Leiter von Verkaufsläden oder Paßausgabebehör­den, Studentinnen aller Fächer, Diebinnen, Prostituierte, Schwarzmarktspeku­lanten und eine, die wegen ihres Glaubens einsitzt; Ihr kennt sie. Das Völkchen der Tschuwaschen galt bis vor kurzem als halbwild, und sie sind auch heute kaum von Wilden zu unterscheiden. Es handelt sich um Menschen mittlerer Statur, dunkelhäutig, schwarzhaarig, bekleidet mit merkwürdig haari­gen Umhängen. Vielen sind unbekannte Worte mit großen weißen Buchstaben auf den Rücken geschrieben. Eingeborene Tschuwaschenfrauen sitzen hier überwiegend wegen Mord, die Menschen dieses Volksstammes sollen sehr bös­artig sein (. . .) Sonst sind sie ausnahmslos pedantische Erfüller des Gesetzes, und ihr Gott heißt Sowjetunion. Das Lagerregime ist daher sehr streng, und die Lebensbedingungen sind besonders hart. Die Leiterin der Regimeabteilung schickt — mangels Übersetzer — meine Briefe zur Überprüfung an die Miliz in Panevėžys. Auf Anraten gewisser Stellen in Vilnius hält man mich stets von Spitzeln umgeben. Spitzel gibt's wie Schlangen im Wald. Manche davon wollen in Kaunas gewesen sein und die Stadt kennen, andere hätten Vilnius besucht, wieder andere kennen sich angeblich gut in Moskau aus usw. Nur ich — Ona — war absolut nirgends und kenne rein gar nichts. Die Regimeleiterin ist tief be­kümmert, da sie über mich keine zusätzlichen Auskünfte erhält, kommt daher oft dahergelaufen, fällt mir um den Hals und fragt z. B.: »Sagen Sie, bitte, wel­che Schulbildung haben Sie eigentlich?« — »Steht alles in den Akten«, sage ich darauf. »Aber das stimmt doch nicht«, gibt sie zurück und rennt schon davon. »Bedauere das vergebliche Mühen, kann aber leider nicht helfen.« Auch über mich selbst kann ich einiges mitteilen. In diesem Rahmen und dieser mich umgebenden Welt fühle ich mich ruhig. Quasi normal. Bin weder Sklavin noch Königin, nur Mensch. Für mich selbst wünsche ich nichts, wähle auch nichts, fühle mich geborgen wie ein Kind in Gottes schützender Hand. Wollte Euch übrigens schon früher schreiben, daß sich die Lagerleitung um meine Ge­sundheit sorgt, fand aber bisher keine Gelegenheit dazu. Im Januar wollte man mich ins Gebiet Kemera bringen, in die Verbannung. Doch die stellvertretende Lagerleiterin war dagegen — ich würde Klima und Arbeit der dortigen Gegend nicht aushalten. Die Verbannten arbeiten dort in Farmen und auf dem freien Feld. Zur Zeit beratschlagt man noch, was mit mir zu machen sei. Ihr müßt wis­sen, daß die Lagerleitung bemüht ist, Abreisekandidaten zeitig anderen »Ar­beitsorten« zuzuweisen. Vor drei Wochen starb hier ein 22jähriges Mädchen. Abgereist . . .

Kinder des Marienlandes, wenn Ihr erschöpft vor Mariens Altar in die Knie sinkt, denkt auch an uns.

14. Mai 1978

Unerwartet kam für uns am 4. Mai der Tag der Freiheit. Wirklich! Das Licht dieses Sonnenaufgangs streifte die Schatten der Nacht von uns ab. Sechzehn der hier inhaftierten Frauen wurden am 4. 5. bedingt entlassen. An diesem Tage er­schien im Lager ein Milizbeamter aus Ulianovsk und der stellvertretende Direk­tor der Fabrik, in der wir arbeiten sollten. Von Kozlovka bis Ulianovsk sind es 300 km. Gegen 16 Uhr fuhren wir aus Kozlovka ab und erreichten Ulianovsk am nächsten Morgen gegen 9 Uhr. Die Reise war ermüdend, und wir waren sehr durchgefroren, schliefen aber gegen Morgen trotz aller Kälte doch ein. Als wir schließlich die müden Augen auftaten, erblickten wir in der Ferne einen sonnen­beschienenen Wald, nach dessen Durchfahren wir die Fabrikschornsteine von Ulianovsk erkennen konnten. Untergebracht wurden wir im 3. Stock eines Wohnheims. Das Zimmer ist sauber, etwa 18 m2 groß. Meine Zimmergenossen sind drei Frauen, die ihre Männer umgebracht haben. Die beiden Zimmerfen­ster sind mit Gittern verziert. Bei der medizinischen Untersuchung bemängeln die Ärzte meinen Gesundheitszustand. Die Leitung des Lederverarbeitungsbe­triebes hatte uns bereits Arbeit zugeteilt, doch verboten die Ärzte mir, die zuge­teilte Tätigkeit auszuüben. So blieb ich in dem Kombinat zwei Tage ohne stän­dige Arbeit und wurde von der Leitung von einer Stelle zur anderen geschickt, mit der Weisung, mir selbst einen Arbeitsplatz auszuwählen. Ich konnte nicht. Keine Wahl, denn überall stinkt es nach Emulsionen und Farben bei großer Hit­ze. So wurde ich denn von der Leitung neu eingeteilt. Die ersten Tage waren schwer, die Arbeit selbst ist erträglich.

In unserem Wohnheim residieren vier Milizionäre samt Familien. Sie schieben Wache reihum. Abends um zehn ist Kontrolle, jeden Sonntag auch für sie Regi­strierpflicht. Vor der Arbeit, nach Arbeitsschluß und an Sonntagen dürfen wir uns frei in der Stadt bewegen, Bergausflüge machen, auf der Wolga fahren usw. Wichtig nur — um 10 Uhr abends im Heim zu sein. Es ist hier viel besser als im Lager, obwohl die ersten Monate auch hier schwer waren. Unser Leben begann hier mit Nadel, Streichhölzern und Löffeln.

 

4. Juni 1978

Die Anzahl zugelassener Briefe, Pakete und Geldüberweisungen ist unbegrenzt, und wir bekommen den gesamten Inhalt, keine Kontrollen oder Beschränkun­gen. Schickt mir aber bitte nichts; ich möchte die gegenwärtige Zeit so durchle­ben, wie Gott es beschlossen hat. Denn es ist durchaus sinnvoll, Kälte, Hunger und andere Notstände selbst durchzustehen.

Heute ist Sonntag, und ich war in der kleinen orthodoxen Kirche, um dort die Kirschblüten, die ihr mir geschickt hattet, als Opfergabe darzubringen. Wie ihr wißt, gibt es in orthodoxen Kirchen keinen Altar, wo man Blumen niederlegen könnte. So schlich ich mich wie ein Dieb zum Bild des Gekreuzigten — zu des­sen einer Seite die heilige Gottesmutter Maria, zur anderen St. Johannes sitzen

— und legte dort heimlich mein Opfergeschenk aus den Gärten meiner Heimat nieder, zu Füßen Marias — als Gabe aller ihrer lieben Kinder aus Marienland. (. . .) Wenn Ihr mir wieder schreibt, legt bitte eine große Nähnadel bei. In Ulia-novsk gibt's so etwas nicht (. . .). Für zwanzig Arbeitstage im Monat bekom­men wir 60 Rubel, davon lassen sich hier Ausgaben für die Nahrung bestreiten. Fleisch, Butter oder Wurst gibt es in dieser Stadt überhaupt nicht, Speck nur in Komis-Läden, Preis 5,47 Rubel das Kilo. Fleischwaren haben wir von unserem Speisezettel gestrichen, suchen erst gar nicht danach und leben von Milch, Brot und Kartoffeln. Die Milch ist eine Art geweißten Wassers — nach dem Austrin­ken braucht man die Flasche erst gar nicht zu spülen, sie ist schon sauber. An Lebensmitteln bitte ich mir zu übersenden — soweit in Euren Geschäften vor­handen — zwei Kilo Puddingpulver, einfachen Kaffee oder Kakao. Diese Le­bensmittel gibt es in Ulianovsk nicht.

Meine Lieben, keine Aufregung wenn man den Briefkasten aufbricht und meine Briefe liest ... Ich weiß sehr wohl, daß sich Geheimdienstler für meine Briefe interessieren, und vor denen habe ich nichts zu verbergen. (. . .) neulich war ich in der einzigen pravoslavnischen Kapelle hier. Als ich her­auskam war ich verblüfft über die Masse wartender Menschen. Erstaunlich, denn wie lange hat man doch versucht, den Namen Gottes aus der Seele dieser Menschen zu tilgen, versuchte es weiter — und ohne Erfolg. Einmal besuchte ich den Heimleiter. Und in seiner schön möblierten Wohnung entdeckten meine erstaunten Augen an prominenter Stelle plaziert — religiöse Bilder. Es wurde mir warm ums Herz.

 

3. Juli 1978

Verrichte immer noch die gleiche Arbeit — Leder färben. Wenn ich mir so die Berge von Leder ansehe, frage ich mich unwillkürlich, in welches Land die Rin­der wohl ausgewandert sein mögen, unter Zurücklassung ihres Fells? Oder ist es jetzt etwa Mode geworden, ohne Fell herumzulaufen? Hätte man die Rinder normal geschlachtet — es müßte doch Fleisch in den Läden sein. Aber die Ge­schäfte sind leer — weder Köpfe, noch Klauen, noch Schwänze! (. . .) Schreite weiter mein Volk, festen Schrittes auf den Pfaden, gesegnet von Schweiß und Blut der Heiligen, spüre deine Kindeshand in Gottes Händen. Ge­denkt unser an den Heiligtümern unserer Nation und im gemeinsamen Leid, das alle betroffen hat.

1. August 1978

Man verbietet mir litauisch zu schreiben oder litauisch geschriebene Briefe zu empfangen. Deswegen kämpfe ich mit der hiesigen Obrigkeit. Sie wollen nicht glauben, daß meine Briefe ohnehin in Vilnius geprüft werden. Solange auch nur ein Tropfen warmen Blutes in meinen Adern ist, werde ich weder auf unsere Schrift noch unsere Sprache verzichten. Solltet Ihr zukünftig keinen Brief von mir bekommen, so wißt, man hat's verboten. Und man will doch schreiben, denn jeder Kontakt mit Menschen, gleich welcher Art, verbindet Menschen mit­einander, genau wie jedes lange Schweigen die Menschen einander entfremdet. Ich bin sehr hartnäckig geworden. Ein gewiß unschöner Zug meines Wesens. Eure übersandten Wäschestücke wurden im Lager für persönliche Sachen hin­terlegt. Nach Ende der Gefangenschaft wird man sie ausliefern. Mir selbst wur­de eine Gefangenenuniform verpaßt. Darin spüre man keine Kälte, weil dies un­sere »vorsorgende« Regierung so verordnet hat. Es gab auch neue Stiefel mit Schäften. Größe 50. Beide Füße haben in einem Stiefel Platz. Wären die Stiefel nicht kaputt, ich könnte darin wahrhaftig »Mütterchen Wolga« durchwaten, aber so bleibe ich wegen »schlechter Verdichtung« bereits im herbstlichen Hof­dreck der Kolonie stecken.

In einem Brief schreibt Ihr, daß Gott mich vielleicht in die Heimat zurückführen werde. Ja, meine Lieben, vielleicht wird die Stunde der Rückkehr einmal schla­gen. Doch kann es durchaus sein, daß die Schatten des Todes einen auf dem Heimweg erreichen (. . .)

Ona Pranskūnaitė

A us Briefen von Vlada Lapienis

(. . .) Es wäre Dir sicher lieber, wenn ich bessere Nachrichten aus dem Lager­leben zu berichten hätte. Doch, wozu sich und andere täuschen. Die Realität kriecht selbst hervor (. . .) Wegen Nachlässigkeit der Bewacher bekam ich zwei Monate hindurch weder Zeitungen noch Journale. Die Tiesa kam erst am 2. Au­gust, das Journal Nauka iihisn,die Zeitung Neues Leben habe ich bis zum heu­tigen Tag nicht bekommen. Keine Ahnung, wohin seit zwei Monaten selbst die Jugendzeitung Komjaunimo Tiesa und einige andere Zeitungen und Zeitschrif­ten verschwinden.

Die Verwaltung der 3. Kolonie weiß doch sehr gut, wo ich mich befinde, denn einige Deiner Briefe, nach Barschew adressiert, wurden mir ins 19. Lager nach­gesandt. Andere Briefe von Dir und anderen Menschen, mit der alten Adresse, hat man, statt sie ans 19. Lager in meiner Nachbarschaft zu leiten, den Absen­dern über gut tausend Kilometer zurückgesandt.

10. September 1978                                                  V. Lapienis

 

A us Briefen von Petras Paulaitis 19. Mai 1978

(. . .) Ich erinnere mich fast an alle, mit denen ich 1958—1961 ein gemeinsames Schicksal teilen mußte; sie sind wohl aufgehoben in meinem Herzen. Doch Gott allein weiß, ob sie sich noch an mich erinnern. Doch das ist nicht so wichtig. Wichtiger, daß sie gute Menschen seien, gut und glücklich leben. Vom 30. Ja­nuar 1961 bis zum 1. November 1971 befand ich mich selbst im »Reich der Ze­bras«. Sei es wegen meines verschlechterten Gesundheitszustands — vom Auf­enthalt in überfüllten feuchten Zellen sind meine Füße geschwollen —jedenfalls wurde ich in ein Lager mit weniger strengem Regime verlegt — von dort in ein anderes, noch in ein weiteres — jeweils immer weniger Mann pro Zelle, aber auch immer weniger Fläche — Vorteil nur insoweit, daß wir jetzt nicht mehr in abgeschlossenen Zellen hausen, die Fenster nicht mehr vergittert und die Häft­lingsuniformen nicht mehr gestreift sind. Kurz und gut, nichts besonders Neues, doch überall ein Trend zur Verschlechterung. Doch vorläufig mangelt's noch nicht an unserem täglichen Brot. Es gab ja schon Tage, wo man Brot nur im Traum aß. Ihr fragt, ob man Geld überweisen darf und ob dafür etwas zu kau­fen ist? Geldsendungen sind erlaubt, doch sehen wir nichts davon und dürfen monatlich nur für 7—9 Rubel in der Lagerkantine einkaufen. Wer bei der La­gerverwaltung als straffällig gilt, oder seine Norm nicht erfüllt hat, dem wird die Verwendung dieses Betrages oder eines Teils desselben verboten. Alle werden zur Arbeit gezwungen. Invaliden wird die Zahl der Arbeitsstunden besonders festgesetzt. Mir selbst sind sechs Arbeitsstunden verschrieben, in Wirklichkeit sind es viele mehr. Sicher handelt es sich nicht um Feld- und Wald­arbeit, aber sie macht Kummer genug. Wichtig erscheint vor allem, daß man ja dauernd beschäftigt ist. Wie das weitergehen soll mit Arbeitslohn usw. ist schwer zu sagen — denn so geht das nun schon seit dem 12. April 1947. Ohne Urlaub, Atempause oder »Generalüberholung«, ohne ruhige Stunde, schleppe ich nun das Joch im rußländischen Herrschaftsbereich. Von Essen und Unter­kunft wollen wir erst gar nicht reden!

Mose befahl den Juden einst — dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht zu verbinden, und die hungrigen Tiere durften gelegentlich einen Happen Heu oder ein paar Ähren schnappen. Die Verkünder der neuen Zivilisation und Mensch­lichkeit machen das umgekehrt — immer neue Verfassungen werden erlassen, zusammen mit geheimen, nur an den Barackenwänden der Lager publizierten Instruktionen, die uns das Maul zubinden, damit wir hungrig bleiben, weder sprechen noch klagen. Voneinander getrennt, gegeneinander aufgehetzt, in klei­nen Grüppchen isoliert, abgeschlossen in unzugänglichen »Brunnenschächten« — den Menschen bleibt nur zu leiden und zu schweigen. Auch ich schweige — doch glaube ich zugleich an göttliche Fügung, ohne die kein Haar von unserem Haupte fällt, und sage »fiat voluntas Tua«, denn »es gibt nichts Schlecht es, was nicht doch dem Guten dient«. Freiheit ist ein teuer Gut. Man läßt keine Bücher, Periodika, nicht einmal Zeitungsbanderolen zu uns durch. Keine Empfangs- noch Versandberechtigung außer ein kg Banderolen­verpacktes und ein Paket im Gewicht von 1,5 kg im Jahr. Zeitungen und Zeit­schriften können über die Lagerverwaltung bestellt werden, verschwinden aber sehr oft spurlos und werden in jedem Falle stets mit großer Verspätung ausgelie­fert. Es ist schon schlimm. — Ein gutes Buch haben wir hier schon lange nicht mehr gesehen. Es ist wie in dem alten Gedicht: »Weder Schrift noch Druck sol­len wir haben — und sie sagen, Litauen (der Gefangene!) habe dunkel und dreckig zu sein, um als rückständig zertrampelt zu werden . . .« Die sozialen Dienste sind ebenfalls kümmerlich. Schwer, alle Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten auch nur aufzuzählen. Die medizinische Versorgung ist schlecht, die Apotheken haben fast nichts für uns. Seit langem habe ich offene Füße, kann an Schuhe nur in »süßen Träumen« denken, hier gibt es keine Hei­lungsmöglichkeit. Wie gut, daß es noch gute Menschen gibt auf dieser Welt. Der eine so, der andere anders — mit Hilfe von guten Taten und Gebeten guter Menschen habe ich nun schon mehr als die Hälfte meiner Jahre verbüßt. Noch viereinhalb Jahre! Am 30. Oktober 1982 wird meine Tributzahlung an den Er­oberer ein Ende nehmen.

Zeit,Schluß zu machen, womöglich könnte mein Brief die hohen Mauern unse­res »Brunnenschachts« nicht mehr überwinden. Ich bitte sehr um Leukoplast für meine Fußwunden, Briefkuverts, ein paar »Karvute«-Bonbons, Briefmar­ken.

Glaubt mir, beim Schreiben werde ich vor Scham rot, wie ein gesottener Krebs . . . Vor allem aber, gedenkt meiner in Euren Gebeten vor Gottes Altar. Bitte, grüßt alle gemeinsamen Bekannten.

 

Petras Paulaitis