Nach Belegung mit einer Geldstrafe von 50 Rubel, wegen einer Prozession zum Friedhof am Tage Allerseelen, hat sich der Gemeindepfarrer von Kybartai, Sigi­tas Tamkevičius, an das Rayongericht Vilkaviškis gewandt. Das Gericht tagte erstmals am 1. Dezember 1978. Verhandlungsraum und Kor­ridore des Gerichtsgebäudes waren von Gläubigen überfüllt. Richter Stankaitis zögerte die Eröffnung der Verhandlung gegen Pfarrer S. Tamkevičius immer länger hinaus, in der Hoffnung, die Leute würden auseinandergehen. Doch pas­sierte etwas Unerwartetes — die vor dem Gerichtsgebäude versammelte Menge begann laut den Rosenkranz zu beten. Sichtlich betroffen täuschte Richter Stan­kaitis vor, dem Gericht fehlten einige Unterlagen und vertagte die Sitzung unter diesem Vorwand. Die im Verhandlungsraum befindlichen Gläubigen begannen daraufhin, das bekannte Marienlied »Maria, Maria« zu singen. Der Richter ver­suchte, die Sänger zum Schweigen zu bringen — vergeblich. Es ist schwer, die Atmosphäre im Verhandlungsraum zu schildern. Von der Wand herab blickte aus seinem Rahmenporträt nichts Gutes verheißend Lenin herab, während die Menschen mit Tränen in den Augen sangen: »Maria, Maria — lindere der Knechtschaft Bande — rette uns vor dem bösen Feind«. Alsbald stimmten auch die außerhalb des Raumes wartenden Gläubigen ein, und bald erscholl in den Straßen der Stadt überall dies traditionelle Lied, das so sehr der Stimmung der bedrückten Litauer entspricht.

Weil gut 500 Menschen zu der Verhandlung erschienen waren, erließ jemand die Anordnung, ein erneuter Zusammentritt des Gerichtes habe plötzlich, unerwar­tet und ohne vorherige Bekanntgabe zu erfolgen. Pfarrer S. Tamkevičius erhielt die Vorladung am 20. Dezember nachts — die Verhandlung war für den näch­sten Morgen 10 Uhr festgesetzt. Leider war der Geistliche nach dem Abendgot­tesdienst verreist; die Vorladung konnte ihm nicht übergeben werden, und die Verhandlung wurde erneut vertagt.

Die Gerichtsverhandlung wurde bereits zum dritten Mal auf den 10. Januar 1979 festgesetzt. Vorladungen ergingen erneut erst am Vorabend, damit mög­lichst wenig Gläubige davon erführen und teilnahmen. Doch auch diesmal ver­sammelten sich die Menschen bereits am frühen Morgen vor dem Gerichtsge­bäude in Vilkaviškis. Um die Anwesenheit zahlreicher Milizbeamten zu »be­gründen«, wurden zunächst mehrere Kriminelle zur Verlesung ihres Urteils her­angeschafft.

Vor der Eröffnung der Sitzung trieben die Milizionäre und der Richter Slenfuk-tas geräuschvoll, haßerfüllt und unter groben Drohungen alle Leute aus den Korridoren ins Freie. Im Verhandlungsraum durften die Gläubigen auf den Be­ginn einer Verhandlung warten, die dort nie stattfand. Richter Slenfuktas brachte Pfarrer S. Tamkevičius in ein kleines Zimmer im zweiten Stock und be­gann dort, sichtbar nach Luft schnappend — er mußte vor den Menschen aus­reißen —, die Verhandlung. Keiner der Gläubigen durfte das Zimmerchen be­treten, außer fünf Priestern, die sich fast mit Brachialgewalt Zugang verschaff­ten.

Der Richter verbot Pfarrer Tamkevičius die Verlesung einer vorbereiteten Er­klärung, worauf der Geistliche unter Protest gegen diese Eigenmächtigkeit des Gerichts das Zimmer verließ. Die Verhandlung wurde fortgesetzt. Auf der Stra­ße beteten die erneut aus dem Gerichtsgebäude vertriebenen Gläubigen den Ro­senkranz. Der Milizionär Dziegoraitis versuchte jetzt, aufs höchste erregt, die Menschen gewaltsam auseinanderzutreiben. Doch ließen sich die Gläubigen nicht verängstigen, was den Milizionär wiederum völlig außer Fassung brachte — denn kaum hörte eine Gruppe mit dem Beten auf, fing eine andere an und setzte den Rosenkranz fort. Im allgemeinen Durcheinander zeigte sich nur ein Wille — das Gebet nicht abreißen zu lassen. Kein Mensch beachtete mehr Rei­henfolge, Beginn oder Ende der Fürbitten — immer wieder aber ertönte im

Massenchor das »Ave Maria«, und sobald eine längere Pause eintrat, brandete erneut die mächtige Melodie des Kirchenliedes »Maria, Maria, der Lilie gleich, leuchtet dein Bild hoch am Firmament«. Ein Teil der Jugendlichen versuchte in die Korridore des Gebäudes zu gelangen, doch drei Mann Miliz blockierten von innen die Tür, so daß niemand hineinkam. Die Stimmung der Staatsbeamten wurde wohl am besten durch den Ausspruch eines Bürgers, vermutlich ein Ge­heimdienstmann, charakterisiert, der angesichts der Menge der Gläubigen in größter Erregung nur noch hervorstoßen konnte: »Hier helfen nur noch Ma­schinenpistolen . . .«

Das Gericht beschloß übrigens, Pfarrer S. Tamkevičius habe wirklich gegen sowjetische Gesetze verstoßen und sei zu Recht bestraft worden. Als der »Verbrecher« Pfarrer S. Tamkevičius schließlich selbst erschien, berei­tete ihm die versammelte Menschenmenge eine Ovation, Grüße, Zurufe, Blu­men, manche versuchten ihm Geld zur Bezahlung der Strafe in die Tasche zu stecken, schließlich wurde er unter Hochrufen in die Luft geworfen. Den Mili­zionären blieb nur Achselzucken übrig. »Hat er womöglich gewonnen, daß ihm alle gratulieren . . .?«

Dies war ganz sicher ein moralischer Sieg — die Gläubigen hatten eindeutig jene Furcht überwunden, die sie Jahrzehnte hindurch gehemmt hatte. Jetzt bezeug­ten sie mutige Solidarität mit ihren diskriminierten geistlichen Führern und pro­testierten gleichzeitig gegen die Unterdrücker.

Ansprache des Gemeindepfarrers von Kybartai Sigitas Tamkevičius vor dem Volksgericht 
Vilkaviškis

Die Zeitung des Rayons Vilkaviškis Pergalė (Sieg) gab am 19. Oktober 1978 be­kannt, eine zivile Totenehrung finde am 1. November, 19 Uhr, auf dem Rayon­friedhof Vilkaviškis statt. In der Stadt Kybartai wurde durch Anschlag ebenfalls Datum und Uhrzeit der Totenehrung bekanntgegeben. Daher erklärte ich in der Kirche von der Kanzel herab, daß wir, die Gläubigen, uns am 1. November um 18 Uhr auf dem Friedhof zum Gebet für unsere Toten versammeln und um 19 Uhr in die Kirche zurückkehren würden. So würden wir die Atheisten von Kybartai nicht stören, ihrerseits die Toten zu ehren.

Am 1. November verliefen die Ereignisse in Kybartai wie folgt: Auf unbekannte Anordnung wurde der Zeitpunkt »19 Uhr« auf den Anschlägen in der Stadt mit Zetteln »18 Uhr« überklebt. Die Unterschrift am Ende der Bekanntgabe »Exe­kutivkomitee Kybartai« war ebenfalls überklebt und lautet jetzt: »Rat für Volkstraditionen«. Die Änderungen wurden absichtlich so spät vorgenommen, um mir die Möglichkeit zu nehmen, den Zeitpunkt der religiösen Prozession zum Friedhof zu ändern.

Am 1. November um 18 Uhr begab ich mich als Gemeindepfarrer von Kybartai mit einer zu Tausenden zählenden Menge von Gläubigen in Prozessionsordnung zum Friedhof. Um den Autoverkehr nicht zu behindern, benutzten wir nur die Bürgersteige der »Kapsukas-Straße« und bogen dann ab in Richtung Friedhof in die »Jakovlev«-Nebenstraße ein. Am Friedhof wurden wir vom lauten Schall deklamierter Gedichte aus den von Atheisten errichteten Lautsprechern be­grüßt. Bei Betreten des Friedhofs konnten wir auf dem Mittelweg des Gräberfel­des ein zugedecktes Autofahrzeug mit vier auf uns gerichteten Lautsprechern er­kennen. Angesichts der Unmöglichkeit, an dem Auto vorbeizukommen, beteten wir am Eingang zum Friedhof für unsere Toten. Während der gesamten Zeit unseres Gebetes übertrugen die Lautsprecher laut plärrend Gedichte. Ich überlasse es dem Gericht, festzustellen, wer für das Vergehen verantwortlich ist, das im Strafgesetzbuch der Litauischen SSR in Artikel 145 wie folgt defi­niert wird: »Behinderung der Ausübung religiöser Kulte . . . wird mit Freiheits­entzug bis zu einem Jahr oder Arbeits-Besserungshaft des gleichen Zeitmaßes oder Geldstrafe bis zu 100 Rubel bestraft.« Durch ein solches inhumanes Ver­halten haben die Atheisten von Kybartai die Gläubigen tief verletzt. Ich ersuche das Gericht erst gar nicht, die Verantwortlichen abzuurteilen, ich möchte nur er­reichen, daß wir, die Gläubigen, zukünftig als gleichberechtigte Sowjetbürger angesehen werden, nicht als Stiefkinder, die man verhöhnen darf. Nach dem 1. November 1978 richtete das Exekutivkomitee Kybartai eine Be­schwerde an die Rayonbehörde Vilkaviškis, daß ich am 1. November um 18 Uhr eine Prozession organisiert habe und mit ihr durch die Hauptstraßen »Kapsu­kas«- und »Jakovlev«-Straße marschiert sei und den Autoverkehr behindert ha­be. Aufgrund dieser unwahren Unterstellungen hat mich die Verwaltungskom­mission des Rayons Vilkaviškis zu einer Geldstrafe von 50 Rubel verurteilt. Aus dem Verhalten der Verwaltungskommission ging eindeutig hervor, daß dies von irgendwem inspiriert wurde. Der Kommissionsvorsitzende J. Urbonas wagte zu behaupten, er sei am 1. November in Kybartai gewesen und habe selbst gesehen, daß die Gläubigen nicht auf den Bürgersteigen, sondern auf der Fahrbahn der »Kapsukas«-Straße zum Friedhof gegangen seien. Ein weibliches Mitglied der Kommission schlug sogar vor, mich mit 100 Rubel zu bestrafen, d. h. mit dem doppelten Betrag des gesetzlich vorgesehenen Strafsatzes. Mir wurde ferner ge­droht, in Zukunft würde ich für jedes weitere »Vergehen« bestraft werden. Warum ich am 1. November mit einer Menge gläubiger Menschen zum Fried­hof ging? Die katholische Liturgie schreibt vor, am Tage Allerseelen für die Verstorbenen zu beten, und auch sowjetische Gesetze verbieten kein Gebet für die Toten auf Friedhöfen. Hierzu ist nicht einmal eine Sondergenehmigung nö­tig (Kommentare zum Strafgesetzbuch der Litauischen SSR, 1974, S. 226). Ich werde beschuldigt, ohne behördliche Genehmigung einen religiösen Umzug zum Friedhof organisiert zu haben ... Es trifft zu, daß ich keine Genehmigung be­antragt habe, denn in der gesamten Nachkriegszeit hat noch kein Rayonkomitee Litauens einem Pfarrer jemals eine solche Genehmigung erteilt; dies, obwohl die Verfassung der Litauischen SSR in Artikel 48 den Bürgern »Redefreiheit, Pressefreiheit, das Recht, Versammlungen und Zusammenkünfte, Straßenum­züge und Demonstrationen frei zu organisieren, ausdrücklich garantiert. Die Verfassung ist Oberstes Gesetz, und andere Gesetze, Anordnungen oder regie­rungsamtliche Instruktionen dürfen ihr nicht widersprechen.

Artikel 50 der Konstitution der Litauischen SSR besagt: »Die Kirche in der Li­tauischen SSR ist vom Staat getrennt«, d. h., der Staat mischt sich nicht in kirchliche Angelegenheiten ein, schreibt der Kirche nicht vor, wie, wo, wer zu beten hat usw.

Eine Verwaltungskommission hat mich auf Grund veralteter und verfassungs­widriger Verordnungen des Präsidiums des Obersten Sowjets bestraft (»Verord­nung über die Anwendung des Art. 143 des Strafgesetzbuchs der Litauischen SSR« vom 12. Mai 1966 und »Verordnung über die Bestätigung des Statuts von Religionsgemeinschaften« vom 28. Juli 1976). Beide Verordnungen des Präsidi­ums des Obersten Sowjets behandeln uns Gläubige als völlig rechtlos. Rayonbe­hörden dürfen danach z. B. ganz nach Gutdünken Kirchen schließen, Geräte des heiligen Meßopfers konfiszieren und profaner Verwendung zuführen. Ei­nem Priester ist verboten, die Privatwohnung eines gläubigen Christen zu betre­ten, um etwa dessen krankes Kind zu taufen, eine Hausweihe vorzunehmen usw. Auf Anordnung des Obersten Sowjets dürfen Priester Kindern keinen Un­terricht in Glaubenswahrheiten erteilen, obwohl dies zu den von Christus selbst auferlegten Pflichten gehört. Gläubige Bürger dürfen auch in Notfällen gegen­seitig keine Hilfe gewähren. Ohne Genehmigung der Rayonbehörden darf ein auswärtiger Pfarrer keine Kirche betreten, um dort liturgische Handlungen vor­zunehmen, ein zu Besuch weilender Priester darf ohne Genehmigung der Rayonbehörde kein Meßopfer feiern. Alle, der Kirche von Gläubigen gespende­ten Sachwerte, z. B. Teppiche, Leuchter oder Ornate, werden automatisch Eigentum des jeweiligen Rayon-Exekutivkomitees.

Diese wenigen Beispiele illustrieren zur Genüge, in welcher Versklavung sich die gläubigen Bürger befinden. Wenn man aber von uns verlangt, wir sollten uns auch noch an veraltete, verfassungswidrige Verordnungen halten, so unterziehe man lieber die Konstitution der Litauischen SSR einer Neuredaktion und stelle darin fest, daß die Kirche in der Litauischen SSR dem Staat unterstellt ist und in jeder Hinsicht staatliche Weisungen zu befolgen hat, daß den Gläubigen Stra­ßenumzüge und Demonstrationen verboten sind, es sei denn, behördliche Ge­nehmigung liegt vor.

Abschließend möchte ich dieser Erklärung noch hinzufügen, daß ich von dem Rayon-Volksgericht weder etwas erwarte noch erhoffe, denn sein Urteilsspruch liegt bereits im voraus fest. Mein einziges Anliegen ist der Wunsch, das Rayon-Volksgericht möge die Hauptgedanken meiner Ausführungen der Regierung der Litauischen SSR unterbreiten, die sich ernsthaft darum zu kümmern hat, daß die Rechte von uns Gläubigen nicht weiter verletzt werden, denn wir erarbeiten uns selbst unser Brot, nicht schlechter als die Atheisten, und auf unseren Schul­tern ruht das Gebäude dieses Staates.

1. Dezember 1978       gez. Sigitas Tamkevičius,

Gemeindepfarrer von Kybartai, Mitglied des Katholi­schen Komitees zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen

Nachbemerkung: Als Richter Slenfuktas die volle Verlesung der Erklärung ver­hinderte, übergab Pfarrer S. Tamkevičius den Schriftsatz dem Gericht und ver­ließ aus Protest die Verhandlung.