Die »Chronik der Litauischen Katholischen Kirche« berichtete in Nr. 37, daß das KGB gegen den Gemeindepfarrer von Kybartai, Sigitas Tamkevičius, eine Ge­richtsverhandlung im Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall vom 1. Juni 1978 vorbereitet.

Am 31. Januar 1979 wandte sich Pfarrer S. Tamkevičius an das Komitee für Staatssicherheit der Litauischen SSR (KGB) und protestierte gegen den Miß­brauch dieses Amtes zwecks Abrechnung mit einem Geistlichen (Chronik der LKK Nr. 37).

Am 6. Februar erhob die Staatsanwaltschaft Varėna aufgrund der Anzeige des Aleksandras Razvinavičius Anklage wegen des Autounfalls. Die Anzeige des Raz-vinavičius erfolgte auf Veranlassung von KGB-Agenten.

Am 13. Februar erging durch den Chef des Sekretariats des KGB A. Grakauskas folgende Antwort an Pfarrer S. Tamkevičius:

»In Beantwortung Ihres Schreibens vom 31. Januar 1979 teilen wir mit, daß Er­mittlungen im Zusammenhang mit Autounfällen nicht in die Kompetenz der Staatlichen Sicherheitsorgane fällt.«

Am 19. Februar wird Pfarrer S. Tamkevičius zur Vernehmung von der Miliz in Varėna vorgeladen.

Am 21. Mai gestatten die Vernehmungsbehörden Pfarrer Tamkevičius Einsicht in die Akten, in denen Aleksandras Razvinavičius als Kläger erscheint.

Verhandlungstermin vor dem Volksgericht Varėna war am 28. Juni festgesetzt. An der Verhandlung nahmen rund 80 meist jugendliche Gläubige als Zuschauer teil. Nachdem sich alle versammelt hatten, teilte der Richter mit, der Kläger Raz­vinavičius sei erkrankt und die Verhandlung werde vertagt. Kein Mensch zweifelt daran, daß dies ein Betrug ist. Höchstwahrscheinlich wollte das KGB nicht, daß der Verhandlung so viele Zuschauer beiwohnen.

Nach Verlassen des Saales, noch vor dem Gerichtsgebäude (im selben Haus befin­den sich auch die Amtsräume der Miliz und der Geheimpolizei), überreichten die Jugendlichen dem vom Geheimdienst verfolgten Geistlichen als Zeichen des Bei­leids und der Solidarität ein Blumengebinde. Bei der Übergabe stimmte irgendwer das traditionelle Marienlied »Marija, Marija« an.

Ein einmaliges Bild, wie gestellt: eine singende Menschenmenge im Halbkreis um den Geistlichen versammelt, der einen riesigen Strauß Nelken, Rosen und sonsti­gen Blumen in den Armen hält und in mutige Gesichter der jungen Leute blickt — dahinter wie eine Mauer ein Milizkordon und finster dreinblickende Geheim­dienstler mit versteinerter Visage. Doch dies Bild besteht nicht lange: es kommt zu Unruhen, die Miliz beginnt die Leute auseinanderzutreiben. Die Menge weicht langsam und ruhig zurück, obwohl man sie mit einem starken Wasserstrahl über­gießt. Ein Teil der Menschen zieht zur Kirche hin. Sofort nach der vertagten Ge­richtsverhandlung begab sich Pfarrer S. Tamkevičius in die Wohnung von Razvi­navičius, wo er erfuhr, daß dieser gesund, aber schon am Vortage auf Grund ei­ner Vorladung zur Rayonverwaltung Šalčininkai gefahren sei. Woraus sich ergibt, daß die Verhandlung wissentlich und auf Veranlassung der Miliz- und Geheim­dienstbehörden vertagt wurde.

Nach gemeinsamem Gebet wollten alle nach Hause gehen, doch veranstalteten Miliz und Geheimdienst am Bahnhof Varėna eine Menschenjagd mit Vorführung der Festgenommenen bei der Miliz. Die Milizionäre benahmen sich diesmal be­sonders brutal, die festgenommenen Jungen und Mädchen wurden hemmungslos geschlagen und getreten, etwa 13 Leute wurden verhaftet. Eine der Arretierten, Frau Dana Kelmelienė, trug schwere Kopfverletzungen davon. Die Milizbeamten verhöhnten die verhaftete Frau und beschimpften sie als »Herumtreiberin«. Einer sagte: »Wir werden dich so fertigmachen, daß du nie wieder in eine Verhandlung gehst!« Angesichts schwerer Kopfverletzungen mußte Frau D. Kelmelienė von der »Schnellen Hilfe« behandelt werden. Erst nach mehrtägiger Vernehmung wurde Frau Kelmelienė in bedenklichem Zustand nach Hause entlassen, mit ihr zwei weitere Männer. Die anderen Verhafteten wurden noch am selben Tage frei­gelassen.

Verwandte, die Frau Dana Kelmelienė schließlich nach Vilkaviškis mitnahmen, brachten die schwer Verletzte sofort ins Krankenhaus, doch der diensttuende Arzt Jelisejevas verweigerte die Aufnahme. Man ist überzeugt, daß das KGB dem Krankenhaus Vilkaviškis verboten hat, die schwer mißhandelte Patientin aufzu­nehmen. Trotz einer vorliegenden schweren Gehirnerschütterung kam Frau Kel­melienė erst am dritten Tag zu medizinischer Behandlung und ist auch zur Zeit noch im Krankenhaus. Der 13. Juli war als neuer Verhandlungstermin bestimmt. Seit dem frühen Morgen wurden alle Zufahrtswege nach Varėna von der Ver­kehrspolizei überwacht. Alle in die Stadt fahrenden Autos registriert — Name, Adresse, Arbeitsplatz von Fahrer und Mitfahrenden.

Für denselben Tag war auch ein riesiges Aufgebot an Miliz, Geheimdienstlern und Hilfspolizei nach Varėna bestellt worden. Nur 50 Menschen wurden in den Verhandlungsraum eingelassen, die übrigen Plätze von Staatsbeamten besetzt. Die nichteingelassenen Menschen standen in den Korridoren. Zusammen waren etwa 150 Gläubige erschienen. Das KGB fotografierte alle, die das Gebäude be­traten oder verließen.

Das Gericht hörte fünf Personen: Frl. Buzaitė und die Zeugen Mickevičius, Čiur­lionis, Graževičius und Tamulevičius, die alle bezeugten, daß Pfarrer S. Tamkevičius an dem Unfall keine Schuld treffe, da er den Zusammenstoß einfach nicht vermeiden konnte.

Das Gericht sprach Razvinavičius schuldig und verurteilte ihn zu einem halben Jahr Gefängnis auf Bewährung. Nach der Verhandlung begaben sich die Gläubi­gen zur Kirche, die sie aber verschlossen fanden. Später erfuhr man, vor der Ver­handlung gegen Pfarrer Tamkevičius habe der Vorsitzende des Rayon-Exekutiv­komitees, Baublys, den Gemeindepfarrer Bronius Jauras aufgesucht und von ihm verlangt, die Kirche am 13. Juli bis 15 Uhr verschlossen zu halten. Wozu also die Gerichtsverhandlung? Warum hetzte das KGB den Razvinavičius zur Anzeige auf, um ihn dann fallenzulassen? Erstens: So kam ans Tageslicht, wie das allmächtige KGB seine Netze spinnt.

Zweitens: Wenn das KGB schon nicht verhindern konnte, daß seine Pläne publik wurden, so sollte sich wenigstens das Gericht als objektiv erweisen — damit alle Welt erfahre, daß sowjetische Gerichte niemand ohne Grund belangen, weder Priester noch Gläubige, und daß das gesamte, von der »Chronik der Litauischen Katholischen Kirche« veröffentlichte Material reinste Verleumdung ist. Drittens: Unter dem Vorwand dieses Autounfalls und eines schwebenden Verfah­rens, konnte das KGB Pfarrer S. Tamkevičius über ein Jahr lang erpressen und versuchen, ihn durch zeitraubende Manöver von seiner seelsorgerischen Tätigkeit und seinem Einsatz zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen abzulenken.

Frau Danute Kelmelienė nach Mißhandlungen durch die Miliz am 1. Juli 1979 (Würgemale am Hals und Spuren von Schlägen ins Gesicht sind sichtbar).