»Die Verhandlung untersucht das Vergehen der Übertretung des Gesetzes: >Die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche.< Ich möchte dazu etwas genauer auf die soziologische Bedeutung dieses Falles eingehen. Die sowje­tischen Behörden behandeln alle Fragen in Zusammenhang mit der Religion sehr delikat. Artikel 50 der Verfassung besagt, daß dem Bürger Gewissensfreiheit ge­währt wird, d. h. die Willensfreiheit zu haben, sich zu jeder Art von Religion zu bekennen oder eine solche abzulehnen oder atheistischen Richtungen zu folgen. Zwietracht und Haß in Verbindung durch religiösen Glauben zu säen, ist verbo­ten. Gläubige werden nicht daran gehindert, ihren religiösen Gebräuchen nachzu­gehen. Die sowjetischen Behörden überwachen lediglich die Einhaltung der Geset­ze. Jedermann ist vor dem Gesetz gleich: Gläubige wie Nicht-Gläubige. Der Staat kann die Gläubigen jedoch nicht von der Beachtung der Gesetze freisprechen. Angelė Ramanauskaitė hat aber das Gesetz grob verletzt, was die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche anbelangt, weil sie minderjährige Kinder um sich versammelt und systematisch in Religion unterwiesen hat. Die Re­gelungen für religiöse Zusammenkünfte erlauben das Religionsstudium lediglich in geistlichen Schulen. Die Entscheidung des Präsidiums des Obersten Sowjets der Weißrussischen SSR vom 1. Juli 1966 bezüglich »der Anwendung des Artikels des Strafgesetzbuches der Weißrussischen SSR« besagt, daß die Überschreitung des Gesetzes hinsichtlich der Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche eine Verordnung laut Artikel 139 des Strafgesetzbuches verlangt. Darunter wird die Organisation und systematische Unterweisung religiösen Unterrichts bei Jugendlichen als Überschreitung der Regeln des Gesetzes verstanden. Religiöser Unterricht wird als solcher in jeder Form angesehen, z. B. Organisationen speziel­ler Klubs, Gruppen oder religiöser Programme.

Am 17. Juli 1979 kam Angelė Ramanauskaitė aus Kaunas in das Dorf Giriai und lud vom 18.—20. Juli Kinder in die Wohnung des Lukša ein und erteilte ihnen Religionsunterricht. Sie hatte 14 religiöse Bücher bei sich: u. a.Tėve mūsų (Unser Vater, 104 Seiten), Kataliku katekizmas (Katholischer Katechismus, 252 Seiten). Von manchen Publikationen gab es zwei Exemplare. Bei dem Verhör bestritt Fräulein Ramanauskaitė ihre Schuld. Diese wurde jedoch hinreichend durch Zeu­genaussagen, die konfiszierte religiöse Literatur und die Befragung während des Verhörs bewiesen. Fräulein Ramanauskaitės Absicht, die Kinder in Religion zu unterweisen, fallen demnach unter Artikel 139, Absatz 1 des Strafgesetzbuches. Zusammenfassend möchte ich dem Gericht meine Meinung darlegen: Fräulein Ramanauskaitė hat Bildung, sie kennt die Gesetze hinsichtlich religiösen Brauch­tums, ist nicht vorbestraft und kann gute Referenzen ihres Arbeitgebers vorwei­sen. Sie muß aber schuldig gesprochen werden, und ich beantrage dafür eine Geldstrafe in Höhe von 50 Rubel. Dadurch soll nicht nur Fräulein Ramanauskai­tė bestraft werden, sondern es soll auch eine Lektion für alle diejenigen sein, die künftig versuchen wollen, die Gesetze zu brechen.« (Die Rede des Staatsanwaltes wurde in den Grundzügen wiedergegeben, ohne vom Originaltext abzuweichen. Anmerkung des Redakteurs.)

Der Übersetzer stammelt: »Dieser Prozeß ist eine Lektion . . . hm . . . nicht nur für Fräulein Ramanauskaitė . . . hm . . . (aus dem Zuschauerraum kommt »und für künftige Generationen«, Anmerkung des Redakteurs) . . . sondern auch für künftige Generationen.« Die Zuschauer lachen. Ein Lächeln fliegt auch ab und zu über das Gesicht des Staatsanwaltes. Der Richter versucht mit grimmi­gen Blicken den wachsenden Tumult im Zuschauerraum zu dämpfen. Danach spricht der Rechtsanwalt, der Lehrer Klimčienė.

»Angesichts der Ferienzeit nutzte die Angeklagte die Gelegenheit, in der Woh­nung des Lukša Religionsunterricht zu geben. Die ganze Bevölkerung des Rayons war schockiert von dem Verhalten von Fräulein Ramanauskaitė. Während die so­wjetische Bevölkerung unter der Führung der Partei eine bessere kommunistische Zukunft aufbaut, versucht Fräulein Ramanauskaitė die Seelen der Kinder in die Finsternis zu ziehen. Die Religion lähmt die geistige Entwicklung der Kinder. Das Gymnasium in Giriai, unter der Leitung des weißrussischen Lehrers Bogačiov, hat große Anstrengungen gemacht, die Kinder gemäß den Prinzipien der kommuni­stischen Moral zu erziehen. Fräulein Ramanauskaitė versuchte, dies zu vereiteln. Sie wollte den Kindern ein idealistisches Bild vormachen. Ich spreche im Namen der ganzen Gesellschaft und beantrage, die Angeklagte mit der Strafe zu belegen, die sie dafür verdient.« (Die Rede des Rechtsanwaltes wurde im wesentlichen wie­dergegeben, ohne vom Originaltext abzuweichen. Anmerkung des Redakteurs.)