Das letzte Wort

Vorsitzender des Obersten Gerichts, Gerichtsräte, Staatsbedienstete und Ge­fängniswärter, ich werde Ihre Sitzung nicht zu lange beanspruchen. In der Anklageschrift steht, daß ich unerlaubte Tätigkeiten organisiert haben soll. Nein, ich habe gar nichts organisiert, ich verehre nur alles, was in unse­rem Volke erhaben und heilig ist.

Eine alte Weisheit sagt: Wer das Unkraut »Verbrechertum« bekämpfen will, muß den Acker suchen, auf dem es gedeiht und es mit seinen Wurzeln ausrotten.

Bei uns wird aus irgendeinem Grunde das Gegenteil gemacht, — die Früchte des Verbrechens werden eingesammelt und gelagert, genauer gesagt: man läßt sie reifen, dann wirft man sie in einen noch nicht verseuchten Acker, wo sie den Samen des Bösen verbreiten.

Am 25. März dieses Jahres wurde ich, als ein allgemein gefährlicher Mensch, festgenommen und in Lukiškiai untergebracht, wo die Früchte des Ver­brechertums gelagert werden.

Heute, da ich vor dem Angesicht des Obersten Gerichts stehe, möchte ich wenigstens kurz von dem Acker erzählen, in dem die Wurzeln meines »Ver­brechertums« gewachsen sind.

Ich bin im Jahre 1930 geboren. Damals feierte ganz Litauen den 500. Jahres­tag des Todes des ruhmvollen Fürsten des Volkes Vytautas des Großen. Es war das Jahr des Vytautas des Großen. Ich trage den Namen dieses edlen Mannes. Ich kann, vor Eurem Angesicht stehend, heute mit Gewißheit behaupten: In diesen 51 Jahren meines Lebens habe ich diesen Namen weder durch Lüge, noch durch Betrug verunehrt.

Wie J. Marcinkevičius sagt: Ich erinnere mich an ein lebendiges litauisches Lied: »Wenn der Westen am Abend die liebe Sonne zum Ruhen einlud, dann sangen die Litauer, die Armen, denn das Tagwerk war vollbracht.« Damals war das Lied noch frei, nicht eingezwängt in den Rahmen des Rundfunks oder des Fernsehens; damals klang es aus Unterkünften mit Strohdächern, aus reinen Herzen und zusammen mit dem Trillern der Nachtigall und dem Zwitschern der Lerche erfüllte es unser Dasein. Ich erinnere mich an das Litauen, das man heute bourgeoisistisch nennt. Ich halte diese Ordnung von damals nicht voll und ganz für ideal; auch da gab es Schattenseiten, die ich, der Sohn eines Instmanns, kennenlernen mußte und zu erdulden hatte. Ich kenne den Geschmack der »verkauften Sommer« nicht aus Büchern, sondern aus eigener Lebenserfahrung. Wenn ich aber nur dies sagen würde, dann wäre nur die halbe Wahrheit gesagt. Vor dem Angesicht des Obersten Gerichts kann ich mit Entschiedenheit behaupten: Wenn nicht jedes Sandkörnchen etwas vom Schweißblut eines Leibeigenen an sich trüge, wenn der Buchträger nicht Fußspuren hinterlassen hätte, wenn es diesen historischen Kampf nicht gegeben hätte, den die Litauer an dieser Stelle gegen die polnischen Herren gewannen, ja, wenn es diese 20 Jahre nicht gäbe, die nur in düsteren Farben gemalt werden, wer weiß, ob dann in diesem Saal noch die litauische Sprache erklingen würde.

Ich war der Sohn eines Instmannes, deswegen begrüßte ich den aufgehenden Morgen Sowjetlitauens. Ich freute mich über die Plakate der Gleichheit, Brüderlichkeit und des Glückes. Ich freute mich, daß die »verkauften Som­mer« zu Ende gehen, daß ich nicht mehr fremde Herden würde hüten müs­sen, sondern meine eigenen pflegen dürfte, daß ich mein eigenes Stückchen Land bearbeiten werde. In unserer Terminologie gesagt: Es wurden sozia­listische Saatkörner in mich eingesät, und sie fingen zu keimen an. Ich werde beschuldigt, daß ich sie nicht bewahrt habe. Sie wurden aber in einem zu empfindlichen Acker eingesät und wurden in den Tränen und dem Wehklagen der im Frühjahr 1941 deportierten Volksgenossen ertränkt.

Das Jahr 1941 ist für mich auch deswegen erinnerungswürdig, weil es das letzte Jahr der irdischen Pilgerreise meiner Mutter war; als sie mich in der Vorahnung des nahenden Todes das letzte Mal zum Dienen entließ, handelte sie als Belohnung aus, daß mich die zukünftigen Arbeitgeber in die vierte Klasse der Volksschule in Žvirgždaičiai gehen lassen sollen. Meine Dienst­herren hielten ihr Versprechen.

Am Ende desselben Jahres, als die Deutschen schon Litauen regierten, ist sie heimgegangen. Ich sage, sie ist heimgegangen, denn ich lebe in der Hoff­nung auf eine Begegnung. Sie hat die Schwelle der Ewigkeit überschritten, nachdem sie vier ihrer Kinder Gott geopfert hatte, von denen der Jüngste erst ein Jahr alt war. Sie beendete ihre irdische Pilgerreise und hinterließ ein schönes Beispiel der Liebe zum Nächsten und zu Gott. Ich aber begriff den Sinn des Opfers und des Leidens erst, als ich die Überreste meiner Mutter mit Tränen begoß.

Die »verkauften Sommer und Winter« der Jahre der deutschen Besatzung waren besonders schwer. Ich mußte unter Entbehrungen körperliche und seelische Qualen leiden und das Los eines Waisenkindes ertragen. Nach dem Kriege kamen die Jahre der Abrechnung. Ich nützte sie aber nicht aus, denn — wie ich schon sagte — ich habe den Sinn des Opfers und Leidens begriffen, ich habe begriffen, daß Rache und Haß den Brand, der, wie ich wußte, schon im Volke loderte, nur vergrößern konnte; ich habe begriffen, daß er Tausende von Menschenleben mit sich reißt; ich habe begriffen, daß man mit Liebe und Opferbereitschaft vorgehen muß, wenn man das Leben verbessern will. Voriges Jahr feierte ich meinen 50. Geburtstag, ich bin also um 10 Jahre älter als Sowjetlitauen. Über 30 Jahre habe ich in ihrer Bauwirtschaft und in ihren Fabriken gearbeitet. Deswegen habe ich nicht nur das Recht, son­dern auch die Pflicht, gegen das Böse zu kämpfen und einige kritische Be­merkungen zu sagen. Dies ist um so mehr angebracht, weil Artikel 47 der Verfassung der LSSR die staatlichen Organe und die öffentlichen Organisa­tionen verpflichtet, auf Kritik der Bürger zu reagieren, sie zu beantworten und notwendige Maßnahmen zu treffen, um die Ordnung wieder herzu­stellen. In dem Schreiben an die Redaktion der Rayonzeitung von Raseiniai »Naujas rytas« (»Der neue Morgen«) wandte ich mich an den ersten Sekretär der KP Litauens, den Genossen Griškevičius nicht mit irgendwelchen Theo­rien, wie es in der Anklageschrift gesagt wird, sondern ich legte konkrete Fakten vor, ich sprach vom Ansteigen des Verbrechertums. Ich verlangte, daß eine Statistik des Verbrechertums veröffentlicht wird. Unsere Presse spricht viel über die Züchtung von Kälbern und Ferkelchen, ich sprach über die Menschen. Eine Antwort bekam ich aber nicht. Ich wurde verhaftet. Deswegen habe ich das Recht, das Oberste Gericht zu fragen, ist vielleicht diese Verhaftung eine Antwort auf meine Kritik? Verfolgung wegen Kritik ist jedoch verboten. Am 5. Juni dieses Jahres druckte »Izwestija« einen Artikel »Pod pressom prestupnosti« ab, in dem das Verbrechertum in den USA kritisiert wird. Hier sind die Ergebnisse dieser schaurigen Sta­tistik: alle 24 Minuten wird ein Mensch ermordet, alle 7 Minuten jemand vergewaltigt, alle 61 Sekunden ein bewaffneter Raubüberfall verübt. Wenn man diese schaurigen Zeilen durchliest, fragt man sich unwillkürlich, ob die Lage bei uns besser ist. Leider weiß ich es nicht und ich habe auch kein Recht, es zu wissen. Aber die Praxis des Lebens zeigt, daß bei uns die Lage nicht besser ist. Hier einige Beispiele: Kaum hatte Vytautas Grigonis die Besserungs- und Erziehungsanstalt hinter sich, als er schon innerhalb von einer oder zwei Wochen vier Menschen umbrachte. Ich mußte mit Kęstutis Novikovas zusammensitzen, dessen sämtliche Brüder hinter Gittern sind.

Ob wir die Grenze schon erreicht haben, die die »Izwestija« als kritisch bezeichnet, das weiß ich nicht, aber die hier aufgeführten Beispiele zeigen, daß unsere Verbrecher ebenfalls nicht schlummern. Im Kampf gegen diese Übel genügen die gerichtlichen und administrativen Maßnahmen allein nicht. »Strafe und umarme« sagt die Volksweisheit.

Eine Strafe, die keinen Schimmer von Liebe in sich birgt, hat keinen er­zieherischen Wert. Sie stößt den Menschen ab und macht ihn noch tierischer. Wenn man den Menschen nur als ein Tier betrachtet, so wird er auch ein Tier werden.

Im Gefängnis zu Lukiškiai werden die Menschen schärfer bewacht als Raub­tiere: vor den Fenstern sind eiserne »Vorhänge« angebracht, die von den Gefangenen »Namordniki« (Maulkorb) genannt werden, und die Ergebnisse? Das Verbrechertum wird nicht geringer, sondern größer. Für die im Zoologi­schen Garten eingesperrten Raubtiere ist Sonne und Luft nötig, denn ohne sie können sie nicht leben. Der Mensch aber kann sich ohne Liebe und Menschlichkeit nicht vervollkommnen. Wenn wir den Menschen nur mit Strafmaßnahmen erziehen, dann stoßen wir ihn ab, machen aus ihm ein Tier, wir machen ihn schlimmer als eine Bestie.

Das Strafgesetzbuch kann nicht den ganzen Menschen umfassen, man kann damit nicht das Gebot Gottes ersetzen, denn es ist machtlos dort, wo das Auge des Gesetzeshüters nicht hinsieht.

Dies wird sehr anschaulich, wenn man die Schwelle des Gefängnisses in Lukiškiai übertritt. Dort werden die Menschen in den Zellen ausgezogen, ihnen die Kleider geraubt und ihnen ihre Lebensmittelsendungen weggenom­men; das wachsame Auge des Gesetzeshüters sieht das aber nicht.

Wo befindet sich dieser Acker, in dem die Wurzeln des Verbrechertums wuchern? Ich will Ihre Aufmerksamkeit auf jene geistige Leere lenken, in die die Menschen hineingestoßen werden von jenen, die es wagten, die Auto­rität Gottes zu zerstören und die Hoffnung auf ein ewiges Leben zu rauben, obwohl sie auf die Fragen, die die Menschheit bewegen (Wozu leben wir? Warum sterben wir? Welchen Sinn haben Opfer und Leid?) keine Antwort wußten.

Die leeren Versprechungen des irdischen Glückes ließen den Menschen nur fiebrig erglühen und machten seine Leidenschaften tierisch. Der Mensch begann auf legale oder illegale Weise ein Mikroparadies in seiner Umgebung zu schaffen — sein persönliches Glück. Das Kombinieren, der Schwarzhandel sind die Ergebnisse dieses Schaffens des eigenen Glückes. Dieses Glück ist nur über krumme Pfade eines Durchtriebenen zu erreichen. Die anderen suchen verzweifelt ihr Glück am Boden einer ausgetrunkenen Schnaps­flasche. Alkoholismus ist die Ursache vieler Unglücksfälle.

Man muß zugeben, die Herstellung und der Handel mit alkoholischen Ge­tränken bringt einen großen Gewinn, aber die verlorene Arbeitszeit, die Ausschußware und die Schädigungen bringen auch nicht geringere Verluste. Wenn wir nur die Statistik der Autounfälle betrachten, dann sehen wir, daß sich ein Großteil davon deswegen ereignet, weil Autofahrer und Fußgänger nicht nüchtern sind. Das ist aber nur die materielle Seite der Medaille, und die moralische? Irrenanstalten, Krankenhäuser für Geschlechtskranke, Ge­fängnisse und Kolonien für Minderjährige!

Vom Alkoholdunst berauscht, waten wir wie Blinde immer tiefer in den Sumpf des Verbrechertums.

Veröffentlicht doch die Statistiken des Verbrechertums! öffnet dem Volke die Augen, bevor es zu spät ist! Vielleicht werden die Menschen in sich gehen und umkehren, wenn sie die Finsternis sehen, in die wir hineintappen. Ein Kranker muß seine Krankheit erkennen, wenn er wieder gesund werden will; nur vor den zum Tode Verdammten verheimlicht man das. Vielleicht glauben manche nicht mehr an die Lebenskraft des Volkes und pumpen immer größere Mengen von Betäubungsmitteln in ihren Körper, um so auf den Tod zu warten? Ich glaube, daß es im Volke noch lebendige Zellen gibt, die fähig sind, gegen die Mikroben des Bösen anzukämpfen. Man muß nur dafür sorgen, daß die gesamte Öffentlichkeit zu diesem Abwehrkampf herangezogen wird, auch die Gläubigen nicht ausgeschlossen, die schon das Gebot der Nächstenliebe verpflichtet, gegen die Unsitten anzukämpfen, die Geist und Leib des Menschen verderben.

Ich werde wegen des Organisierens einer Prozession beschuldigt, d. h. wegen Kampf gegen die Unsitten. Die Jugend begann mit ihrem Aufbruch für Nüchternheit und Reinheit des Volkes und machte einen schönen Anfang. Unter den 1,5 tausend Leuten war kein Betrunkener. Wir gingen 8 km weit, ließen aber keine leeren Flaschen zurück.

Verehrtes Gericht, vor Ihnen steht eine Waage. Auf der einen Seite — der Kampf für die Nüchternheit und Reinheit, auf der anderen — die Autorität des Anklagevertreters, der ohne Beweise nach der höchsten Strafe gemäß dem angegebenen Paragraphen verlangt.

Wie einen Dieb haben sie mich festgenommen, als ich zur Arbeit gehen wollte. Ohne ihre Ausweispapiere gezeigt zu haben, verlangten zwei Männer, in ihr Auto einzusteigen. Das während der Hausdurchsuchung geschriebene Protokoll wurde meiner Frau auf ihr Verlangen hin nicht zurückgelassen; zu dieser Gerichtsverhandlung wurde keiner meiner Bekannten zugelassen. Sie können mich freisprechen oder verurteilen, deswegen überlegen Sie, was Ihnen wichtiger ist: die Autorität des Anklagevertreters, oder der gerechte Kampf um die Nüchternheit und Reinheit des Volkes. Ob ich schuldig bin? Wenn ich schuldig bin, dann nur insofern, weil ich zu wenig geliebt habe, zu wenig gelitten habe, zu wenig für das Gute gekämpft habe.

Ich sah das Volk von Schmerz und Leid bedrängt; ich sah, wie es hinstürzte im Blut der ungeborenen Kinder; ich sah wohl mehr als eine Million Frauen und Männer, Jugendliche, Kinder und Säuglinge, Arbeiter, Angestellte, Ingenieure, Doktoren und Wissenschaftler. Sie alle sammelten sich jenseits der Schwelle des Lebens und streckten ihre Hände uns zu. Ich sah sie alle, ich weinte aus Erbarmen oftmals wie ein Kind, ich schrie aber nicht: öffnet die Tür! Was macht ihr da, ihr Herzlosen? Seht ihr nicht, daß uns an arbeitenden Händen mangelt, daß uns an jugendlicher Entschlußkraft mangelt, an kind­licher Freude mangelt! Niemand öffnete die Tür, ich aber schwieg. Ja, ich bin schuldig — bestraft mich!

Schuld daran ist unsere Mutter, denn sie gab uns das Leben, sie lehrte uns die ersten Schritte auf den Wegen des Heimatlandes gehen. Eine andere kann nur Stiefmutter sein, der das Schicksal des Volkes gleichgültig ist.

Würden wir unsere Sprache verlieren, so würden wir arme Taubstumme sein.

Wir wollen also die Häupter der grauhaarigen Mütter mit einem Kranz aus grünen Worten schmücken.

Sie ist die ewige Braut, sie wird auch unsere Kinder das Gehen noch lehren.

Das sind Worte von E. Mieželaitis. Ich sah, wie diese grauhaarige Mutter in den litauischen Kolonien Weißrußlands bei der Stiefmutter Polen noch eigene Schulen hatte, und jetzt hat sie auch diese verloren. An Ufern des Nemunas ist diese grauhaarige Mutter, von den Eigenen mit fremden Fluch­wörtern bespuckt, schüchtern geworden und meidet die öffentlichen Stätten. O Mutter, meine alte, ein lebendiges Denkmal der alten Weltsprachen, wird womöglich auch dich dasselbe Schicksal ereilen, das deine jüngeren Schwe­stern traf, d. h. die lateinische und altgriechische Sprache? Ich sah diese Ge­fahr, ich ging mit einem Schmerz in meiner Brust umher, aber ich schwieg. Ja, ich bin schuldig — bestraft mich!

Eine Träne fiel zur Erde. Na und? Winkte jemand mit der Hand ab. Und vielleicht wird irgendein Schliemann die Träne finden, wie Troja, Vielleicht werden Männer der Wissenschaft sie erforschen, nach einem Jahrhundert, nach zwei,

Welchem Volksstamm gehörte sie an, warum und wieso ist sie gefallen, Und es wird jemand in dieser Träne die Schuldigen sicherlich finden. Werden die Menschen uns dann noch verstehen, oder wird es uns, oh Menschen, zur Schande gereichen.

J. Marcinkevičius

Der Autor sagt, daß dieses sein Gedicht unvollendet ist. Ich hoffe, daß er mir nicht böse sein wird, wenn ich einige Gedanken hinzufüge. In der Verborgenheit der Jahrhunderte wurde auf dem Hoffnungsfelsen des ewigen Lebens ein Bauwerk errichtet und Litauen genannt. Es überlebte alle Schrecken der Geschichte, weil die Fundamente mit den Geboten Gottes gefestigt waren.

Jetzt will man »im Namen der Wissenschaft« diesen Felsen untergraben und ihn sprengen.

Das machen jene, die nichts haben, worauf sie die Moral des Volkes stützen können. Wenn das Strafgesetzbuch dort machtlos ist, wo das wachsame Auge des Gesetzeshüters es nicht sehen kann, da es nicht den ganzen Menschen umfaßt, ist es dann vernünftig, aus dem Gewissen der Menschen die Worte auszuradieren: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan«?

Wenn der Fels gesprengt wird, auf dem die moralischen Fundamente des Volkes ruhen, wenn uns die Hände fehlen werden, die die Tränen abzu­wischen fähig sind, dann werden die prophetischen Worte des Dichters in Erfüllung gehen: »Nach einem Jahrhundert, oder nach zwei werden die Historiker das Grab des Volkes öffnen und die Tränen des Volkes unter­suchen, und sie werden uns wegen der Kurzsichtigkeit und Selbstsucht an­klagen und wir werden uns schämen müssen, oh Menschen...«

Wer glaubt an die mächtige Vorsehung Gottes, Der kennt nicht die Schwäche der kindlichen Angst. Uns war durch Jahrhunderte das Unglück zuteil, Doch kennt aber niemand den morgigen Tag.

(Maironis)

Ich glaube an die mächtige Vorsehung Gottes. Ich glaube, daß auch mein kleines Opfer — die Reise, zu der meine Frau mich hinausbegleitete und mich mit dem Kreuz segnete, nicht verloren geht, sondern in einer gemein­samen Kette mit den Märtyrern Litauens und den Heiligen, in Gemeinschaft mit dem Opfer Christi am Kreuz den Erfolg des Kampfes für die Gerechtig­keit haben wird. Ich bin stolz auf die Teilnehmer dieser Prozession, besondern aber auf die Jugend. Das sind die ersten Blüten des Frühlings, das sind die Veilchen, die in noch zugefrorener Erde aufgeblüht sind, das sind Vorboten eines kommenden fruchtbaren Sommers.

 

Abschri f t Strafprozeß Nr. 8-4, 1981

 

Gerichtsbeschluß

Im Namen der Sowjetischen Sozialistischen Republik Litauen am 26. Juni 1981, Stadt Širvintai

Das Gerichtskollegium für Strafprozesse des Obersten Gerichts der SSR Litauen, bestehend aus dem vorsitzführenden Gerichtsmitglied A. Jankaus­kas, den Volksräten S. Masiukas und L. Ražinskas, der Sekretärin G. Jablonskaitė, unter der Teilnahme des Staatsanwaltes J. Murauskas, behan­delte in einer Gerichtssitzung den Strafprozeß, in dem Vaičiūnas Vytautas, Sohn des Antanas, geboren am 9. März 1930 im Rayon Šakiai, Dorf Tupikai, Litauer, Bürger der UdSSR, parteilos, mit Hochschulbildung, verheiratet, tätig als Ingenieur in der Verwaltung für Antrieb-Synchronsteuerung zu Kaunas, ländlicher Herkunft, nicht militärdienstpflichtig, nicht verurteilt, wohnhaft in Kaunas, Hipodromo 46, Wohnung 35, eines Vergehens gemäß § 199/3 des StGB der SSR Litauen beschuldigt wird.

Das Gericht stellte fest:

Am 24. August 1980 beteiligte sich V. Vaičiūnas an der Organisierung von Gruppentätigkeiten, durch die die öffentliche Ordnung gröblich verletzt und eine Behinderung der Transportarbeiten verursacht wurde, in Verbindung mit sichtlicher Mißachtung der rechtmäßigen Forderungen der Regierungs­vertreter.

Ohne eine entsprechende Genehmigung der Regierungsorgane und unter Mißbrauch der religiösen Gefühle der Gläubigen forderte er zur Teilnahme an einer Prozession auf und organisierte diese Prozession der Gläubigen, die in die Kirche von Tytuvėnai gekommen waren und nach Šiluva gehen wollten; er selbst beteiligte sich aktiv daran, ohne den rechtmäßigen Auf­forderungen der Regierungsvertreter, diese Tätigkeit einzustellen, Folge zu leisten. V. Vaičiūnas unterbrach als Organisator mit einem Fähnchen in der Hand in der Stadt Tytuvėnai in der Tarybų gatvė für einige Zeit den Transportverkehr, wies der Prozession den Weg und stiftete durch seine Aktivität die anderen an, die Prozession fortzusetzen, durch die die öffent­liche Ordnung und der Rhythmus der Transportarbeit gestört wurden. Der Angeklagte V. Vaičiūnas bestreitet seine Schuld, indem er erklärt, an der Prozession zwar teilgenommen zu haben, seine Taten seien aber nicht organisatorischen Charakters gewesen. Er habe den Transportfluß aus Sorge um die Sicherheit der Pilger mit einem Fähnchen in der Hand angehalten. Er habe den bei der Kirche Versammelten eine Ansprache gehalten, die gegen Alkoholismus und andere Übel gerichtet gewesen sei. Die Tatsache, daß sich V. Vaičiūnas an der Organisierung der Gruppen­tätigkeit, durch die eine Behinderung des Transportverkehrs entstanden und die öffentliche Ordnung grob verletzt worden ist, beteiligt hat und zwar in Verbindung mit der sichtlichen Mißachtung der rechtmäßigen Auffor­derungen der Regierungsvertreter, ist durch die Aussagen der Zeugen, durch Beweismaterial, Fotoaufnahmen bewiesen.

Aus den Eintragungen in die Prozeßakten ist ersichtlich, daß die Exekutiv­komitees des Volksdeputiertenrates der Rayons Kelmė und Raseiniai die Frage der Genehmigungserteilung, eine Prozession aus Tytuvėnai nach Šiluva zu organisieren und durchführen zu lassen, nicht behandelt haben, weil ein entsprechendes Gesuch nicht eingereicht worden war (t.l, b.1.8, 12). Da keine Genehmigung der entsprechenden Exekutivkomitees des Volks­deputiertenrates vorlag, war die Organisierung der Prozession rechtswidrig, weil dadurch die Artikel 50 und 51 des »Statutes der religiösen Gemein­schaften« grob verletzt wurden.

Die Zeugen H. Juzeliūnas und S. Sturys haben angegeben, daß sie als Ver­treter der Regierung durch einen Lautsprecher die Prozessionsteilnehmer ermahnt und ihnen befohlen haben, sich zu zerstreuen, weil ihnen bekannt war, daß die Prozession ohne Genehmigung der entsprechenden Regierungs­organe zustande gekommen war. Der Zeuge S. Sturys gab noch dazu an, daß V. Vaičiūnas, dessen Namen er erst später erfahren habe, mit einem roten Fähnchen an der Spitze der Kolonne gegangen sei und den Trans­portfluß angehalten habe; so habe er der Prozession das Vorrecht einge­räumt, und die Kolonne in Richtung Šiluva dirigiert. Der Zeuge Č. Janušonis bezeugte, daß der Angeklagte sich an die am Kirch­hof versammelte Menge gewandt und sie zur Teilnahme an der Prozession aufgefordert habe. Hernach habe er mit einem Fähnchen in der Hand den Ablauf der Prozession geregelt und auf der Straße den Transport angehalten. Der genannte Zeuge hat am Tatort fotografiert und den Fotofilm den Unter­suchungsorganen übergeben.

Die Fotoaufnahmen bekräftigen vollkommen und ergänzen die Aussagen von C. Janušonis, auf denen zu sehen ist, daß der Angeklagte in der Pro­zession kein gewöhnlicher Teilnehmer war (t.l, b.l. 30-44). Ähnliche Beweise lieferte auch der Zeuge S. Ramoška, auch er übergab Auf­nahmen vom Tatort, durch die die Schuld des V. Vaičiūnas an dem ihm zur Last gelegten Vergehen ebenfalls bekräftigt wurde (t.l, 1. 52-60). Die Zeugin I. Gaubštaitė gab an, daß V. Vaičiūnas, den sie an der Spitze der Prozession gesehen habe, aktiv gewesen sei: Er habe mit einem roten Fähnchen gewinkt, auf der Straße den Transportfluß angehalten und so die Prozession in Richtung Šiluva dirigiert.

Die Zeugen V. Lukonas, V. Černikienė gaben an, daß am Tag des Ge­schehens, bevor die Prozession begann, ein Mann mit einem braunen Re­genmantel (wie in den Akten festgestellt wurde, der Angeklagte V. Vaičiūnas) auf dem Kirchhof sich an die Menge gewandt und sie zur Teilnahme an der Prozession nach Šiluva aufgefordert habe. Nach seiner Rede hätten die Leute sich in einer Kolonne aufgestellt. Die genannten Zeugen gaben an, daß die Kolonne den Transportfluß wesentlich behindert habe (t.1,1. 45,49). Die Zeugen V. Mišeikis und A. Gecas bezeugten, daß V. Vaičiūnas, mit einem Fähnchen winkend, jeglichen Transportfluß in Tytuvėnai gesperrt habe, sie hätten gesehen, daß Autos auf der Straße standen und warten mußten, bis die Straße frei wurde.

Der Zeuge J. Daniliauskas gab an, daß die Prozession die Transportarbeit gehindert habe und daß er, als Fahrer eines Linienbusses, wegen der ange­gebenen Ursache den Fahrplan nicht habe einhalten können. Aus den dargelegten Beweisen folgt also, daß der Angeklagte V. Vaičiūnas sich der Organisierung der Gruppentätigkeit angeschlossen hat, durch die eine Behinderung der Transportarbeiten verursacht, die öffentliche Ordnung grob verletzt und den rechtmäßigen Aufforderungen der Regierungsvertreter nicht Folge geleistet wurde. Aus diesem Grunde entsprechen die Taten des Angeklagten dem im § 199/3 des StGB der SSR Litauen genannten Ver­gehen.

Bei der Bemessung der Strafe sind die Art des vollbrachten Vergehens wie der Grad der Gefährlichkeit für die Öffentlichkeit und die Persönlichkeit des Angeklagten zu berücksichtigen.

V. Vaičiūnas wird von seiner letzten Arbeitsstelle, in der er mit Unterbre­chung seit 1976 gearbeitet hat, positiv charakterisiert. Er gilt dort als fleißig und diszipliniert und habe gute Kenntnisse in seinem Fach. Als Kollege war er verschlossen und wortkarg (t.2, 1. 155).

Irgendwelche erschwerende oder lindernde Umstände wurden in den Akten nicht festgestellt.

Das Gerichtskollegium für Strafprozesse hat unter Beachtung der §§ 331, 333 der StPO der SSR Litauen

beschlossen:

Vaičiūnas Vytautas, Sohn des Antanas, für schuldig zu befinden, das Ver­gehen gemäß § 199/3 des StGB der SSR Litauen begangen zu haben, und ihn zu 2 Jahren und 6 Monaten Freiheitsentzug in einer Besserungsarbeits-kolonie mit allgemeinem Regime zu verurteilen.

Die Zeit der Untersuchungshaft wird zu der Strafzeit zugerechnet, so daß die Strafzeit ab 25. März 1981 gerechnet wird.

Das Sachbeweismaterial wird zu den Prozeßakten gelegt, ausgenommen das Fähnchen, das zu vernichten ist.

Dieser Beschluß kann nicht nach Berufungsordnung eingeklagt und keine Protestklage dagegen eingelegt werden.

Der Vorsitzende: (Unterz.) A. Jankauskas

Die Volksräte: (Unterz.) S. Masiukas und L. Ražinskas

Die Abschrift ist echt: Gerichtsmitglied A. Jankauskas