Hochverehrte Redaktion,

Zehn Jahre sind es schon, seitdem Sie eine Arbeit vollbringen, die heute noch schwer einschätzbar ist.

Zu einer Zeit, als aller Mund noch verschlossen war, als die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden, als die in den Verfassungen wie auch in den internationalen Dokumenten deklarierten Freiheiten gebrochen wurden und über die Opfer noch zynisch gespottet wurde, zu der Zeit des totalen Ver­botes der Presse und der freien Rede wagten Sie diese düstere Friedhofsstille zu durchbrechen. Sie wagten, den lügenhaften Vorhang der Propaganda aufzureißen und mit konkreten, unwiderlegbaren Tatsachen zu zeigen, wie es in Wirklichkeit in unserem unglückseligen Litauen zugeht. Diese Stimme, die am Anfang so einsam, so schüchtern erschien, kam manchem gerade wie ein verzweifelter Hilferuf vor. Mancher dachte über sie zu dieser Zeit viel­leicht mit den einst zu dem Doktor Vincas Kudirka gesagten Worte: »Was kannst du gegen eine solche Macht, du Käferchen der Erde. Solche Könige, solche Waffen, solche Macht, — sie werden dich wie eine Fliege zerquetschen.« Diese einsame Stimme verstummte aber nicht. Im Gegenteil, alle bekamen sie zu hören, auch jene, die sie, wie die Gendarmen jener Zeiten, »wie eine Fliege zerquetschen« wollten; es hörten sie auch jene, über deren Unrecht sie zu sprechen begann, hörten unsere Brüder im Ausland, und durch sie auch die ganze Welt. Sie hörten deswegen, weil dieses Wort, weil diese be­scheidenen Blättchen, wie eine gewaltige Macht, — die WAHRHEIT in sich trugen.

Authentische Dokumente, klare, genaue Beschreibungen der Ereignisse, kurze, trockene Berichte — das sind keine ausgedachten, sondern wahre, konkrete Tatsachen. Genauer gesagt, ein Teil der Tatsachen, denn nicht alle sind bekannt, nicht alle erreichen die Redaktion und schließlich ist es auch unmöglich, das alles zu registrieren, was heute in jeder Pfarrei, in jeder Schule, in jeder Stadt, in jedem Dorf Litauens geschieht, ganz abgesehen von den Diensträumen und den unterirdischen Verliesen des Sicherheits­dienstes. Jeden Tag, jede Stunde wird bei uns jemand benachteiligt, ungerecht beschuldigt, wird irgendjemandem nicht erlaubt, die elementarsten, sogar die durch das Gesetz garantierten Rechte in Anspruch zu nehmen, wird irgend­jemand verspottet, wird irgendjemand verfolgt oder eingeschüchtert... Will­kürlich wird in die intimsten Ecken des Herzens und des Gewissens des Menschen eingedrungen. Die Übertreter der Naturrechte des Menschen, der internationalen Vereinbarungen und sogar der eigenen Gesetze verrichten ihre dunkle Arbeit mit dem Wunsch, einerseits unbemerkt zu bleiben, ande­rerseits — den Mythos ihrer Kraft, ihrer Macht und Allwissenheit zu erhalten. Sie wollen alle in einem sklavischen Gehorsam und in Angst erhalten. Sie wollen, daß angesichts ihrer »Allmacht« sogar die größten Opfer fügsam und still bleiben. In Wirklichkeit aber sind sie keineswegs so allwissend, keineswegs so allmächtig, wie sie erscheinen möchten. Auch sie haben vor irgendwas Angst und meiden das. Sie haben Angst vor der Öffentlichkeit, vor dem Tageslicht, sie fürchten sich vor der Wahrheit. Und wenn die Geheim­tuerei, Verschleierung und Verdunklung ihre Verbündeten sind, dann ist die Offenheit, Klarheit und offene Wahrheit die Macht ihrer Opfer. Das Offen­legen der Tatsachen von Verletzungen des Rechtes und der Gerechtigkeit, des Brechens der Menschenrechte, der Rechte des Volkes und der Kirche, die Enthüllung der wahren Ursachen, die richtige Durchleuchtung der ver­schiedenen Ereignisse ist eine mächtige Waffe, die die Verfolgten, die Opfer der Gewalt und Willkür anwenden dürfen und sogar müssen. Sklavenhaft gehorchen und schweigen darf man nicht. Eine ängstliche Nachgiebigkeit und das Schweigen sind eine Unterstützung der Gesetzes- und der Rechts-Brecher. Wer sich so verhält, gräbt seine Grube selbst.

Schon seit zehn Jahren bringt die »Chronik der LKK« die Tatsachen der Verfolgung der Kirche, der Schwächung der nationalen Kultur, der Ver­letzung der Menschenrechte, der Einschränkung der Gewissensfreiheit und ähnliche Tatsachen ans Tageslicht. In diesem Jahrzehnt sammelte sich auf den Seiten der »Chronik« zahlreiches, unwiderlegbares Anklagematerial gegen jene, die sich als Hüter der Gesetze ausgeben. Das ist eine durch­gehende Anklageschrift für einen Prozeß der Wahrheit und der Menschlich­keit gegen Willkür- und Gewaltherrschaft. Da heute aber, nach den Worten <des Dichters »in Tribunalen hochmütig die Mörder über den Gerechten das Urteil fällen«, so werden nicht die Verbrecher bestraft oder die Eigenmäch­tigen gedämpft, sondern ein großer Sturm der Verfolgungen erfaßte die »Chronik«. Es jähren sich nicht nur zehn Jahre der »Chronik«, sondern auch ihrer Verfolgung. Wieviele Bespitzelungen, Hausdurchsuchungen, Festnah­men, gerichtliche Verfahren und andere Verfolgungen mußten ihre Leser und Verbreiter erleiden. Mit Verehrung und Liebe werden die Namen jener Buchträger ausgesprochen, die heute in den Sklavenlagern und Gefängnissen der Sowjetunion leiden. Der Kampf für das freie litauische Wort hat schon alte Traditionen. Alte Traditionen hat auch die Verfolgung des litauischen Wortes und der Kultur. Auf den zu den Zeiten der Zaren ausgetretenen Wegen kommen nach Litauen neue Murowjows — die Henker; auf die schon lange ausgetretenen Pfade nach Osten werden die Kämpfer und Buchträger unserer Tage getrieben. Das Volk hat aber immer Idealisten gehabt, und sie gibt es auch heute. Die »Chronik der LKK« ist notwendig, wichtig und wird von allen posiüv eingeschätzt, deswegen hat es ihre Unterstützer gegeben und wird es auch weiterhin geben! Sie ist die Stimme ganz Litauens, der Kirche, der Gläubigen und aller Verfolgten. Es wird nicht gelingen, sie zum Schweigen zu bringen! Man kann sie eindämmen, man kann ihr Schaden zu­fügen, aber sie gänzlich zum Schweigen zu bringen — ist unmöglich. Sie wird wieder auf die eine oder andere Weise aufbrechen:

»Den Strom eines Flusses wirst du nicht eindämmen,

möge er auch sehr langsam fließen.

Neue Bewegung wirst du nicht aufhalten,

wenn's dir auch ein Graus wäre, sie zu begrüßen.«

Es gibt nur ein Mittel, die Herausgabe der »Chronik« zu unterbinden — und das ist: die Tatsachen, die Vergehen gegen die Wahrheit und das Recht zu beseitigen, die sie registriert; und sie hört auf zu erscheinen. Andere Mittel gibt es nicht...

Es ist heute wahrhaftig noch zu schwer, es genügend einzuschätzen, welche Aufgabe die »Chronik der LKK« oder die andere Untergrundpresse erfüllt.

Wir stehen den Ereignissen noch viel zu nahe, wir werden selber noch in ihrem Strom hin und her gerissen, wir können aber zuversichtlich behaupten, daß ihre Rolle groß und wichtig ist. Zuerst schon die Tatsache selbst, daß das den Menschen zugefügte Unrecht schon bemerkt worden ist, daß jemand schon darüber spricht, die Menschen verteidigt, ermutigt, ermuntert, sich zu wehren und nach der Wahrheit zu suchen. Zweitens, — das ist der aufhaltende Faktor, der dadurch entsteht, daß man die Tatsachen, die man zu verbergen wünscht, in die Öffentlichkeit hinausbringt. Dieser Faktor schränkt die Ver­brecher der Wahrheit und des Rechts ein, schmälert die Wirkung und die Ergebnisse ihrer Tätigkeit, besonders aber dann, wenn diese Nachrichten ins Ausland gelangen und der breiten Öffentlichkeit bekannt werden.

Das ist gleichzeitig auch eine Handvoll der wahrhaftigen Information, die den Vatikan und den Westen erreicht. Dort kümmern sich unsere Landsleute ebenfalls um die Sache Litauens und der Kirche, dort wird ebenfalls gear­beitet und gekämpft. Wie schwer haben sie es dort, sich richtig orientieren zu können, was in unserer Heimat in Wirklichkeit geschieht, besonders weil der Okkupant und seine Kollaborateure sich auf jede Art und Weise be­mühen, zu desinformieren und irrezuführen. Die Veröffentlichung von authentischen Dokumenten, reinen und zuverlässigen Tatsachen hilft unseren Brüdern, sich besser zu orientieren, wo die Wahrheit und wo der Betrug ist. Außerdem wird die »Chronik« in andere Sprachen übersetzt, an verschiedene Behörden und Mitwirkende des öffentlichen Lebens verschickt. Dank, vielen Dank jenen unseren Landsleuten, die diese so notwendige Arbeit verrichten. Wir müssen dem Vatikan und anderen Rundfunkstationen dankbar sein, die das aus Litauen empfangene Material über die Ätherwellen an uns zurück­schicken. Das ist eine außerordentlich große, direkt uneinschätzbare Unter­stützung im Kampfe eines versklavten Volkes für seine Rechte und Freiheit, insbesondere wenn man die Bedingungen und Möglichkeiten bedenkt, wie die »Chronik« als auch die restliche Untergrundliteratur sich in Litauen verbreiten kann. Über die Rundfunkwellen (ausländische Rundfunkstationen hören die Leute sehr gern) verbreiten sich die Untergrundnachrichten über ganz Litauen und erreichen auch jene, denen die Presse selbst unzugänglich ist.

Die »Chronik der LKK« ist heute nicht mehr die einsame Stimme und nicht mehr die einzige Untergrundveröffentlichung. Sie war aber die erste. Sie riß als erste die erdrückende, finstere Stille auf und brach das Eis. Sie bleibt auch weiter ein wichtiges Tribunal, vor dem der diskriminierte Gläubige Li­tauens seine Stimme erhebt.

Die Tatsachensprache der »Chronik« ist ihr Markenzeichen, ihr Gewicht und ihre Macht. Unter diesem Zeichen schrieb sie in den zehn Jahren eine ganze Seite der Geschichte Litauens, voll mit Fakten einer schweren Unterdrückung, eines heroischen Kampfes und christlicher Aufopferung. Und solange die

Unterdrückung andauern wird, solange das Unrecht und der Kampf nicht aufhören werden, — so lange wird auch die »Chronik der LKK« benötigt. Wir wissen gut, wie außergewöhnlich schwer und gefahrvoll die Arbeit der Herausgeber und der Verbreiter ist. Das ist eine Heldentat eines zukünftigen Opfers. Ihr sollt aber wissen, daß wir mit wahrhaftig großer Verehrung, Dankbarkeit und Liebe an Sie denken und für Ihre so schwere, aber unge­heuer notwendige und wichtige Arbeit Gottes Segen wünschen!

P.S. Das ist nicht allein meine Meinung, das sind die Gedanken vieler Menschen Litauens. Wenn es Ihnen möglich ist — nehmen Sie diesen Brief  in die Seiten der »Chronik« auf. Möge er ein bescheidener Dank für Ihre aufopferungsvolle Arbeit sein!

Litauen, im Jahre 1982        Ein Leser der »Chronik«