An die Redaktion der Zeitung »Tiesa« Verehrte Redaktion,

Ich nehme die von der Verfassung garantierten Presse- und Redefreiheiten (Artikel 50) in Anspruch und wende mich an Sie mit der Bitte, diese meine Erklärung in der »Tiesa« (»Die Wahrheit«) veröffentlichen zu wollen:

Ein offener Brief an Vytautas Grinius. Verehrter Vytautas Grinius,

nach dem Durchlesen Ihres Artikels »Kam jie tarnauja?« (»Wem dienen sie?«), abgedruckt in der »Tiesa« (»Die Wahrheit«) am 6. Februar 1983, möchte man auch Sie fragen: »Und wem dienen Sie?« Dem eigenen Volke oder seinen Feinden, der Wahrheit oder der Lüge? Der Artikel ist lang, viele Probleme sind darin aufgeworfen, und deswegen bemühe ich mich, dieses Mal nicht alle Fragen aufzugreifen. Wir wollen nur einige Stellen des Artikels gemeinsam betrachten.

Sie freuen sich z. B., »daß immer weniger Menschen Sklaven der Religion seien, daß der Säkularisationsprozeß gesetzmäßig verlaufe, daß der Gläubige selbst sich ändere und auch seine Beziehungen zu Religion und Kirche.« Kurz gesagt: Der Sieg des Atheismus in unserem Volke freut Sie. Jawohl, teilweise sind Sie im Recht. Während der letzten 43 Jahre hat sich ein nicht geringer Teil unseres Volkes, besonders die jüngere Generation, säkula­risiert. Erlauben Sie aber die Frage, um welchen Preis das alles erreicht wurde. Ist das durch eine freie Entscheidung der Menschen geschehen? Leider nein! Die ganze Säkularisation findet erst statt, seit der Atheismus zur Staatsreligion gemacht wurde, seit der Atheismus schon vom Kinder­garten an den Kindern mit Gewalt aufgezwungen wird, seit die gläubigen Schüler an den Schulen diskriminiert werden, seit Schüler wegen der Teil­nahme an religiösen Andachten bestraft werden, indem man ihnen die Zeugnisnoten in Betragen herabsetzt, indem man den Abiturienten schlechte Charakteristiken ausstellt, indem man ihnen mit Nichtaufnahme in die Hochschule droht, indem man die gläubigen Schüler verspottet. Auf diese Weise wurde den gläubigen Eltern das Recht genommen, ihre Kinder nach eigenen Überlegungen zu erziehen; den Lehrern wird aber befohlen, die Kinder der gläubigen Eltern als überzeugte Atheisten aus der Schule zu entlassen. Und wenn wir die Presse, den Rundfunk, das Fernsehen hinzu­fügen, Medien, die die Gläubigen nicht beanspruchen dürfen, dann wird es klar, um welchen Preis die Säkularisierung — Atheisierung eines Teils unseres Volkes stattgefunden hat. Sie fand durch die Diskriminierung der Gläubigen und durch Verletzung der Artikel 50 bis 52 der sowjetischen Verfassung statt.

Sie erinnern weiter an die alte von den Aposteln des Atheismus immer wiederholte leere Redensart: »Unter den Bedingungen des Sozialismus haben die Gläubigen aller Konfessionen die Möglichkeit, ihre religiösen Bedürf­nisse gänzlich zu befriedigen.« Auch das ist nicht die Wahrheit. Alle Gläu­bigen dürfen höchstens in ihren Wohnungen beten. Ist es Ihnen unbekannt, daß sowjetische Lehrer oder die anderen Beamten höheren Ranges ihren Glauben nicht öffentlich praktizieren dürfen? Jene, die es wagen, werden bestraft, sogar ihres Amtes enthoben. So wurden aus dem Lehrdienst ent­fernt: in Kulautuva die Lehrerin Stasė Jasiūnaitė, in Vilkaviškis die Lehrerin Ona Brilienė, in Šiauliai die Lehrerin Kaušienė. Der Kolchosvorsitzende Gražulis im Rayon Alytus wurde seines Amtes als Vorsitzender nur des­wegen enthoben, weil sein Sohn in das Priesterseminar eingetreten ist.

Die Gläubigen haben nicht einmal das Recht, in einer Prozession zum Friedhof zu gehen, um dort nach alter Tradition am Allerseelentag für ihre Verstorbenen zu beten. Den Priestern, die es wagten, solchen der Verfassung widersprechenden und die Gläubigen diskriminierenden Vorschriften nicht zu gehorchen, wurden Geldstrafen auferlegt.

Die organisierten Prozessionen zum Heiligtum der Heiligsten Jungfrau Maria nach Šiluva werden verboten. Wegen der Teilnahme an solchen Pro­zessionen wurden der Ingenieur V. Vaičiūnas, der Arbeiter M. Jurevičius und G. Stanelytė mit Gefängnisstrafen bestraft.

Mit solchen Mitteln wird also die Säkularisation durchgeführt. Und Sie

rechtfertigen das, Sie freuen sich darüber und betrachten das als einen nor­malen Prozeß der Säkularisation.

Sie ärgern sich, verehrter V. Grinius, über die Priester Litauens, die es wa­gen, öffentlich in ihren Predigten die üblen Fakten und Mißstände beim Namen zu nennen, die der Atheismus unserem Volke gebracht hat. Das darf man aber nicht verschweigen, denn das zu verschweigen wäre ein Verbrechen gegen Gott und gegen das Volk. Der angerichtete Schaden ist sehr groß. Nachdem der Religionsunterricht in den Schulen beseitigt und mit Einsatz der oben erwähnten Bildungs- und Kommunikationsmittel eine strenge atheistische Erziehung eingeführt worden ist, ist in den letzten 43 Jahren das religiöse Leben, zu Ihrer Freude, im Volke schwächer geworden, aber mit der Schwächung des Glaubens sank gleichzeitig sehr stark auch die Moral des Volkes. Die Moral verlor ihre Grundlage. Das bezeugen die zahlreichen Ehescheidungen, die sinkende Zahl der Geburten, die steigende Zahl der Abtreibungen (wenn man den Rundfunkberichten glauben sollte, dann fallen bei uns auf jede Frau durchschnittlich 4—5 Abtreibungen), die erschreckende Zunahme des Alkoholismus und der Kriminalität bei der jüngeren Gene­ration. Unser Volk ist ein physisch aussterbendes Volk: Familiendurch­schnitt: 3,2. (Ein Satz, der unleserlich ist). Sie sind verärgert über die Prie­ster, weil sie im Atheismus die Schuld am moralischen Verfall unseres Volkes sehen. Leider ist es aber so. Solang unser Volk tief gläubig war, waren die Familien groß, sittsam, gesund. Es gab beinahe keine Scheidungen, weil der katholische Glaube das verbietet. Abtreibungen waren streng verboten, weil das ein Mord ist, und deswegen sind sie selten vorgekommen. Alkoholiker gab es ebenfalls nicht sehr viele. Als zu Zeiten der Leibeigenschaft das Volk stark zu trinken begann, genügte es dem Bischof Valančius im Jahre 1854, eine Bruderschaft der Abstinenzler zu gründen, die Leute aufzufordern, ihr beizutreten und in ein paar Jahren hörte das Trinken beinahe ganz auf. Für ein gläubiges Volk genügte ein autoritäres Wort eines Bischofs, heute aber werden einem vom Atheismus geschädigten Volke keine nach staat­lichen Maßstäben im Kampf gegen Alkoholismus angewendeten Maß­nahmen helfen können. Der Alkoholismus verbreitet sich weiter.

An die stürmische Periode der Jahre 1940 —1945 erinnernd, beschuldigen Sie die Priester der Mitarbeit mit den Feinden des Volkes, den National­sozialisten Hitlers: »248 Priester, die mit den Nazis mitgearbeitet haben, sind nach Westen geflohen, um der verdienten Strafe zu entkommen, jene aber, die ihre Hände beschmutzt haben und nicht in die Fremde entweichen konnten, mußten sich für ihre Vergehen vor dem Gesetz verantworten.« Das ist aber nicht wahr. Die 248 Priester haben sich nicht deswegen in den Westen zurückgezogen, weil sie »ihre Hände beschmutzt« hätten, sondern aus Angst vor dem stalinistischen Terror. Die Litauer und unter ihnen auch sehr viele Priester, die am Anfang die Deutschen als Befreier betrachteten und von denen ihnen manche geholfen haben, haben dies nur deswegen getan, weil sie innerhalb eines einzigen Jahres des stalinistischen Regimes viel Unrecht erfahren mußten. Weil Sie das alles nach den Archivdokumen­ten begründen und weil Sie objektiv sein wollen, sollten Sie doch wissen, wieviele Tausende litauische Familien mit Säuglingen und Greisen aus ihren Anwesen und aus der Heimat herausgerissen und ohne Gerichtsverhandlung nach Sibirien abtransportiert worden sind, von denen viele nicht mehr zu­rückkamen. Oder: wieviele Priester sind im Jahre 1941, als sich die So­wjetarmee nach Osten zurückzog, ohne jegliche Gerichtsverhandlung ermor­det worden? Hier einige Namen: der Gymnasiumskaplan von Joniškis Peter Paulius Racevičius, der Pfarrer von Kruopiai Vanagas, in Viekšniai der Kanonikus Navickas, in Kuršėnai der Kanonikus V. Dambrauskas, in Stirniai der Priester Jonas Daugėla, in Rusnės der Priester Valentinas Balčius. In Gefängnissen sind gestorben: die Bischöfe Mečislovas Reinys und Borise-vičius, die Priester Stanislovas Rimkus, J. Kostpickas. Das ist nur eine un­vollkommene Liste der Märtyrer unseres Volkes. Als die Sowjetarmee wieder zurückkam, waren angesichts solcher trauriger Tatsachen nicht nur die 248 Priester, sondern alle Priester Litauens in Versuchung, sich nach Westen zurückzuziehen, und das nicht aus Liebe zu Hitlers Nazis, sondern aus Angst vor Tod und Gefängnis. Wenn die Mehrheit der Priester nicht zurückge­wichen ist, dann nur aus Liebe zum eigenen Volk und zur Kirche, damit die Schafe nicht ohne Hirten bleiben. Sie riskierten, lieber ins Gefängnis zu gehen oder zu sterben, als das eigene Land zu verlassen. Viele von ihnen landeten auch in den Lagern, aber nicht deswegen, weil sie irgendetwas gegen das Volk verbrochen hatten, wie Sie schreiben, sondern weil sie es liebten und sich dafür opferten. Das ist die Wahrheit über die Priester Litauens.

Sie, verehrter V. Grinius, benehmen sich falsch, wenn Sie die Priester Li­tauens in den Augen des Volkes entwürdigen und ihre Autorität vernichten wollen. Sie dienen dadurch ebenso nicht Ihrem Volke, sondern seinen Fein­den. Und deswegen erhob sich auch, kaum daß ich Ihren Artikel durchge­lesen hatte, die Frage: Wem dienen Sie?

Sie teilen die Priester in die Loyalen und die Extremisten. Es ist nicht der Mühe wert. Alle Priester Litauens, einen geringen Prozentsatz moralisch bankrottgegangener ausgenommen, leisten eine nützliche Erziehungsarbeit des Volkes, indem sie die Lehre Christi und die christliche Moral verkünden. Die von Ihnen verachteten »Extremisten« aber sind die allereifrigsten Kämp­fer gegen alle Übel und für eine hellere Zukunft des Volkes. Das ganze gläubige Volk beugt vor ihnen das Haupt, freut sich über sie, ist stolz auf sie, und es wird nicht gelingen, sie zu erniedrigen. Das ist der Stolz unserer Litauischen Kirche und unseres Volkes. Man kann sie selbstverständlich physisch vernichten. Die Gewalt ist in diesem Zeitalter des geistigen Verfalls zum einfachsten Mittel gegen ideologische Gegner geworden. Die Namen dieser mutigen Männer aber, die an ihren Grundsätzen festhalten, werden irgendwann die Listen der Helden des Volkes ergänzen.

Žagarė, am 21. Februar 1983.        Priester Gustavas Gudanavičius

Administrator von Žagarė.