(Wir wollen innehalten und uns besinnen)

Vor fast 2000 Jahren geschah der größte Verrat der Menschheit: Ein Mensch hat seinen Bruder verraten, ein Sünder seinen Erlöser, ein Schüler seinen Lehrer, eine Schöpfung ihren Schöpfer. Allein die Art dieses Verrats, der Judaskuß, hat eine tiefe, sinnbildliche Bedeutung für alle Zeiten. Mit einem Kuß zeigt der Mensch seine Liebe, seine Anhänglichkeit, Dankbarkeit und seine Freundlichkeit, wie auch seine Ergebenheit und Freude. Der Judaskuß brachte aber keines dieser Gefühle zum Ausdruck. Das war ein Kuß der Heuchelei, des Stolzes, des Hochmuts und des Neides; ein verräterischer Kuß der menschlichen Verdorbenheit. Es ist eine Wiederholung der Sünde Adams, in der die Eitelkeit des Menschen, von Neid angeregt, die göttliche Priorität und Majestät nicht hinnehmen will.

Brüder und Schwestern im Glauben, wir wollen in der Stunde der Buße und Besinnung bei uns selber einkehren; wir wollen unsere Beziehungen zu Christus und zu unseren Brüdern, mit denen wir uns in Berufung und Glau­bens eins wissen, überdenken und unsere Beziehung zu unserer Heimat und zur Kirche betrachten. Wir wollen die Fenster und Türe unserer Seele öffnen und überprüfen, ob sich da nicht irgendwo in einer Ecke der Judasgeist ver­krochen hat, der nur auf den Moment wartet, wo er uns vollkommen ver­sklaven und unterjochen kann. Beim Satan spielen die irdischen Verdienste und Titel der Menschen keine Rolle, ihm ist nur die Seele des Menschen wichtig. Er will nur erreichen, daß der Mensch vor ihm niederfällt und ihn anbetet, sich vor ihm fürchtet und ihm dient. Um an dieses Ziel zu gelangen, sind dem Satan alle Mittel recht.

Er kommt zu uns wie ein Freund, wie ein Vertrauter, der uns vor allen Mißerfolgen beschützen will, wie der herzlichste Berater oder Retter. Er kommt zu uns als Reichtum, als eine hohe Stellung, als ein Aufstiegsmög­lichkeit in der Hierarchie. Er kommt zu uns als kühler praktischer Verstand, als vermeintliche Weisheit, als Angst, unsere eigene Freiheit und die Be­quemlichkeit des Lebens zu verlieren. Und schließlich kommt er »als der Zweifel, die Wahrheit erkennen zu können«, als sklavenhafte Ergebenheit dem Bösen gegenüber und als vollkommene Blindheit für das Gute und Schöne.

Der Satan verwirrt und vernebelt den Verstand derart, daß der Mensch die Liebe zur Wahrheit und Gerechtigkeit, den Widerstand gegen das Böse als Vergehen zu betrachten beginnt, weil dies alles dem Satan mißfällt. Wie präzise hat der Dramatiker Kazys Saja in seinem »Devynpėdžiai« (Neun-füßler) diesen Augenblick dargestellt, wo die Menschen zu lachen und zu singen aufhören, weil ihr Abgott — der Ochse — es will. Sogar unser Dienst Gott und der Kirche Christi gegenüber muß dem Willen des Bösen entspre­chen. Es erscheint uns, den von den Ränken Satans geblendeten, daß auch unsere Nachgiebigkeit dem Satan gegenüber der Verehrung Gottes und dem Wohl der Kirche und der Gläubigen dienlich sei. Judas wünschte nicht direkt den Tod Christi und sah erst später das entsetzliche Ergebnis seines schänd­lichen Verrats.

Schließen nicht auch wir auf ähnliche Weise leichtsinnig sklavenhafte Erge­benheitsverträge mit dem König der Finsternis in der Hoffnung, ihn hinter­gehen zu können? Er rächt sich aber für Hinterlist. Wenn sich aber in unserer Seele bereits eine Wucherung des Bösen eingenistet hat, fällt es uns schon schwer, über unseren Zustand zu sprechen.

Waren wir nicht diejenigen, die ohne Widerstand und untertänig der Forde­rung nachgegeben haben, daß unbefugte und unerwünschte Kräfte die inne­ren Angelegenheiten unserer Kirche regeln sollen?

Ist es nicht unsere Schuld, daß das Priesterseminar, die Kinderkatechese, die Herausgabe der religiösen Literatur, die Einschränkungen der Seelsorge der Priester, die Auswahl der Kandidaten für die kirchliche Hierarchie und viele der dringlichsten Probleme unter die Kontrolle der weltlichen Regierung gefallen sind?

Sind nicht wir es, die sich manchmal weigern, die Gläubigen mit dem Kreuz zu dem heiligen Berg zu begleiten oder den Rat zu geben, auf das Kreuz zu verzichten, wenn es Schwierigkeiten gibt?

Fürchten wir nicht, laut die Namen unserer Brüder, der aus Gewissensgrün­den gefangenen ehrwürdigen Priester Alfonsas, Sigitas, Jonas-Kastytis aus­zusprechen? Wir haben Angst, einander aufzufordern, für sie zu beten, denn das mißfällt dem Herrscher der Finsternis.

Führen wir nicht aus verschiedenen diplomatischen Gründen — wie wir meinen — ungleiche Dialoge mit Menschen zweifelhaften Gewissens, und jammern später, daß sie uns hintergangen haben?

Führen wir nicht bewußt den Heiligen Stuhl irre über die jetzige Lage der Gläubigen Litauens, oder verschweigen wir nicht zumindest die Wahrheit? Sind wir nicht diejenigen, die dazu auffordern, über die Gegenwart nicht zu reden und die Wunden und das Leiden unserer Kirche nicht zu sehen?

Sind wir es nicht, die unseren Brüdern und Schwestern falsche und Unruhe verbreitende Ratschläge geben, die den Interessen der Feinde der Kirche entsprechen?

Sind wir es nicht...?

Ja, Herr, wir sind es! Deine erlösten Kinder, Deine Brüder und Schwestern, Deine Schüler! ...

Wir sind es, die neben Dir gehen, Dich aber nicht kennen. Wir sind es, die nur aus eigener Kraft die Sünde Adams und den Geist Judas abwerfen woll­ten, dabei aber vergessen, daß Du gesagt hast: »Ohne mich könnt ihr nichts tun.«

Wir, o Herr, haben es zugelassen, daß sich Händler und Heuchler in Deinem Hause eingenistet haben. Wir sind jene, die vor Deinem Kreuz weglaufen, obwohl wir versprochen haben, es zusammen mit Dir zu tragen.

Wenn wir verfolgt und geschmäht werden, hast Du, Herr, uns reiche Beloh­nung im Himmel dafür versprochen. Solange ich aber gezögert habe, an

Deine Versprechen zu glauben, waren die anderen um mich besorgt. Sie haben mir — um es mit den Worten eines Dichters unserer Zeit zu sagen — angeboten

 

»Eine Stelle, Geld, Anerkennung . . . und große Verehrung noch dazu,

Dies alles wird heute Nacht dir angeboten

Gegen einen im Vergleich sehr geringen Preis:

Für deinen Glauben, nach dem du gelebt hast,

Dies alles ohne Wunden, ohne Herzleid und Schmerzen ...«

 

Ich willigte aber ein, denn sie erinnerten mich daran:

»Du weißt es schon, was auf dich warten wird in dieser Nacht, Wenn du in Ruhe auf dies alles verzichtest. . .«

Selbstverständlich, mich bringt diese Warnung etwas aus der Ruhe:

» .. . weißt du aber, was auf dich warten wird, Wenn du dies alles angenommen hast? . . .«

 

Du hast auf Deinem Erlösungsweg, o Herr, keine diplomatischen Tricks benützt, Du hast den Versprechungen des bösen Geistes nicht nachgegeben, bist nicht vor Deinem Versucher niedergefallen, um ihn anzubeten, obwohl er Dir alle Reichtümer der Erde, alle Freuden und Annehmlichkeiten ver­sprochen hat. Wir aber, die wir den Geist der ersten Christen und die Erge­benheit Dir gegenüber vergessen haben, sind nicht selten sehr leicht bereit, den fremden Abgott mit Weihrauch zu beräuchern.

Wir wollen im Nachvollzug des Leidensweges Christi, im Glauben an die Kraft des Heiligen Geistes und an die Vergebung unserer Sünden, in der Hoffnung auf das ewige Leben, der erlösenden Einladung »Kommet zu mir alle« unsere Augen und Ohren nicht verschließen. Wir beten oft, daß der Sohn unseres Volkes Erzbischof Jurgis Matulaitis heiliggesprochen wird, wir wollen aber seine Worte nicht verstehen, daß es heilbringend sei, ein ein­facher Putzlumpen zu sein, mit dem man wenigstens einen kleinen Winkel der Kirche reinigen kann . . . Ähnlich wie seiner Zeit der heilige Franziskus begreifen wir den Sinn der Aufforderung Gottes nicht: »Baue meine zerfallene Kirche wieder auf!«

Es gibt aber noch sehr viele bewundernswerte Beispiele dafür, daß Gestrau­chelte die Kraft haben, wieder umzukehren, und daß jene, die den Weg der Wahrheit verloren haben, ihn mit Tränen in den Augen und mit einem schweren Seufzer wegen des sinnlosen Umherirrens wieder finden.

Herr, wir wollen mit Dir sein! Komm, hilf uns! Vertreibe mit dem Strahl deines göttlichen Lichts die Schatten des Judasgeistes. Wir wollen den Staub der Irrwege von uns abwaschen, alle Winkel unserer Seele reinigen und wieder an Deinem Tisch dabei sein und Deine Stimme hören: »Ich bin das Brot des Lebens! Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben! Folge mir!«