Die Verteidigungsrede und das Schlußwort von Vladas Lapienis, gesprochen vor dem Obersten Gericht der LSSR am 28. März 1985.

»Der Artikel 52 der Verfassung der UdSSR garantiert die Gewissensfreiheit, und die sowjetischen Gesetze erklären, daß die Gewissensfreiheit in weitem Sinne einem jeden Menschen die Möglichkeit gibt, nach eigenen Uberzeu­gungen und nach dem eigenen Gewissen zu handeln (J. Anicas, J. Rimutis, »Die sowjetischen Gesetze über die religiösen Kulte und die Gewissensfrei­heit«, 1970, Seite 3). Analog erklärt auch der Artikel 19 der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte: »Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfaßt die Freiheit, Meinungen unange­fochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungs­mitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu ver­breiten. «

Artikel 49 der Verfassung der UdSSR verkündet, daß »Verfolgung wegen Kritik verboten ist« und Artikel 57 besagt: »Die Achtung der Persönlichkeit, der Schutz der Rechte und Freiheiten der Bürger ist die Pflicht aller Staats­organe und Funktionäre.« Die Verfassung besitzt aber übergeordnete Macht, der keine Gesetze widersprechen dürfen.

Ich ließ mich bei meiner Arbeit leiten vom Naturrecht, von der Verfassung des Landes, besonders von ihren Artikeln 34, 39, 52 und 50 und von an­deren Artikeln der Gesetze der Sowjetunion; von der Allgemeinen Dekla­ration der Menschenrechte, besonders aber von ihren Artikeln 2, 19, 28 und 30; von internationalen Vereinbarungen bezüglich der Rechte der Bürger und von anderen Dokumenten über die Rechte und Grundfreiheiten der Bürger.

Die Auslegung mancher Beamter, die die Persönlichkeit und Würde der Bürger ihres Landes nicht achten und ihre Rechte nicht schützen, daß sie dies im Namen des Gesetzes tun, ist der Auslegung vergleichbar, derzufolge zu Zeiten des stalinistischen Personenkults Tausende unschuldiger Menschen hinter Gitter und Stacheldraht gesteckt oder in die Verbannung geschickt worden sind. Und erst als Stalin schon gestorben war, wurde zugegeben, daß die Mehrheit von ihnen unschuldig verurteilt war. Sie wurden nach­träglich rehabilitiert. Diese Taten, die, wie man sagt, »im Namen des Gesetzes« vollbracht wurden, hat der XX. Parteitag entschieden verurteilt, indem man sie als grobe Verletzungen der sozialistischen Rechtsordnung bezeichnet hat. »Es gab im Präsidium des ZK Menschen, die selber am Mißbrauch der Macht, an massenhaften Repressalien schuld waren... Tausende ganz un­schuldiger Menschen, staatliche und militärische Funktionäre sind umge­kommen.« (Das Material der XX. Vollversammlung der KPSU, Vilnius, 1962, Seite 220).

Im Anklagebeschluß vom 28. 2. 1985 steht geschrieben: »Mit der Absicht, die sowjetische Regierung zu schwächen, hat er (V. Lapienis) Literatur pro­duziert, die den sowjetischen Staat und seine gesellschaftliche Ordnung er­niedrigt; er hat sie verbreitet und zwecks Verbreitung aufbewahrt.

Von 1981 bis 1985 hat er an seinem antisowjetischen Werk »Tarybinio kalinio nemuarai« (Erinnerungen eines sowjetischen Gefangenen) geschrieben und es zwecks Verbreitung vervielfältigt.

Ende des Jahres 1983 begann er das 314seitige Werk »Erinnerungen eines sowjetischen Gefangenen« mit einer Schreibmaschine abzuschreiben.

Am 13. 2. 1983 wurde er in der Stadt Vilnius angehalten, als er das Manu­skript des obengenannten 314seitigen Werkes bei sich trug.

Vom Februar 1984 bis 1985 arbeitete er an einer neuergänzten Variante seiner »Memoiren« und schrieb sie mit der Schreibmaschine in nicht weniger als 2 Exemplaren ab.

Während seiner Festnahme am 4. Januar 1985 in Kaunas wurde er in der Wohnung der Bürgerin Ona Dranginytė (TSRS 50-cio prosp. 16 - 92) beim Weiterschreiben an seinen »Memoiren« ertappt.

In diesem Werk verleumdet V. Lapienis die sowjetische Gesellschaftsord­nung, ihre Staatsorgane, mißachtet das System der sowjetischen Justiz, inter­pretiert die Prinzipien der sowjetischen Demokratie falsch, schreibt über an­gebliche Verfolgungen der Religion in der Sowjetunion, verherrlicht die so­wjetischen Verbrecher (Priester A. Svarinskas, S. Tamkevičius) und fordert dazu auf, ihr Beispiel nachzuahmen.

Am 13. 2. 1984 trug er zwecks Verbreitung die Nr. 57, 58, 59, 60 der »Chronik der Litauischen Katholischen Kirche«, die Nr. 6 der »Lietuvos ateitis« (Die Zukunft Litauens) mit sich, hatte Manuskripte des »Gulago dantračiai triuškina AT« (Die Zahnräder des Gulags zermalmen AT), die mit Schreibmaschine geschriebenen Beschlüsse der Konferenz von Belgrad, »Lietuvių tautos dorovinės kultūros problemos« (Die Probleme der sittli­chen Kultur des litauischen Volkes) und »Kunigas D. Dodko del jo padaryto pareiškimo« (Priester D. Dudko über die von ihm gemachte Erklärung)...«

Über die in diesem Anklagebeschluß erhobenen Beschuldigungen muß man folgendes sagen: Die »Erinnerungen eines sowjetischen Gefangenen«, das sind meine eigenen Erlebnisse aus der Zeit meiner Gefangenschaft (1976 bis 1981), mit denen auf keine Weise versucht wird, die sowjetische Regie­rung zu schwächen; sie haben keine antisowjetischen Ziele oder die Absicht, unser Leben schlecht zu machen. Im Gegenteil, sie dienen dem Forschritt, denn die Memoiren sind Informationen für die Institutionen des Staates und der Partei, die verpflichtet sind, Mängel zu beseitigen, darunter auch solche, die in den Memoiren erwähnt werden.

Wenn auch meine Kläger, der Oberuntersuchungsrichter des Sicherheits­dienstes Vit. Pilelis und manche andere Beamte des Sicherheitsdienstes grund­sätzlich meine Memoiren während der Voruntersuchung verleumderisch, an­tisowjetisch nannten, so mindert das ihren Wert als Quelle der Information nicht im geringsten. Das ganze Unglück ist nur, daß diese Informationen nicht erfreulich sind, sondern schmerzliche Tatsachen des Lebens ausbreiten. Das Ziel dieser Information ist aber, das in unserer Gesellschaft wachsende Böse überwinden zu helfen; deswegen dürfen meine Memoiren nicht gegen mich als Nachweis eines Vergehens verwendet werden.

Die 1975 in Helsinki unterzeichnete Schlußakte sagt: »Die Teilnehmerstaaten werden im Bereich der Rechte und der Grundfreiheiten der Menschen nach der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte handeln. Sie werden außer­dem ihren Verpflichtungen so nachgehen, wie sie in internationalen Deklara­tionen und Vereinbarungen auf diesem Gebiet wie auch in den internatio­nalen Abkommen über die Menschenrechte festgelegt worden sind.« Wenn die Staaten nach der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte handeln, deren Artikel 19 jedem einzelnen Menschen das Recht gibt, seine eigenen Überzeugungen zu haben und sie frei und ungehindert zu verbreiten, dann geben sie damit auch jedem das Recht, sich ohne Rücksicht auf Grenzen mit allen Verständigungsmitteln Informationen und Ideen zu beschaffen, sie zu empfangen und zu verbreiten. Die Schriftstücke, die man mir weggenommen hat, sind eine Information; meine Aktion kann demnach kein Vergehen sein. Es ist doch in der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte nicht gesagt, daß man nur das Recht hat, sowjetische oder antisowjetische Informationen zu suchen oder zu empfangen, sondern Informationen ganz allgemein. Das bedeutet aber, daß es überhaupt nicht wichtig ist, wie man die Information nennt. Der Artikel 30 dieser Deklaration besagt: »Keine Bestimmung der vorliegenden Erklärung darf so ausgelegt werden, daß sich daraus für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person irgendein Recht ergibt, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu setzen, welche auf die Vernichtung der in dieser Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten abzielen.« Der Ar­tikel 11 dieser Deklaration sagt: »Niemand kann wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zu dem Zeitpunkt, da sie erfolgte, aufgrund des nationalen oder internationalen Rechts nicht strafbar war.«

Da meine Tätigkeit gemäß dem internationalen Recht (konkret gemäß Artikel 12 der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte) nicht als strafbar an­gesehen werden kann, die internationalen Vereinbarungen aber das Priori­tätsrecht gegenüber den sowjetischen Gesetzen haben (denn das besagen die Mitteilungen des Obersten Sowjets der UdSSR des Jahres 1978, Nr. 99, Artikel 816), verletzen meine Ankläger, wenn sie mich zur strafrechtlichen Verantwortung ziehen, die Artikel 1 — 3, 11, 12, 17, 19, 28 und 30 der Deklaration der Menschenrechte, die Artikel 2, 5, 14, 18 des internationalen Abkommens über die bürgerlichen und politischen Rechte und das siebte Kapitel der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die 1975 in Helsinki stattgefunden hat.

Ich wiederhole, daß ich mich bei meiner Arbeit vom Naturrecht, der Ver­fassung des Landes, den gültigen sowjetischen Gesetzen, den internationalen Vereinbarungen über die Menschenrechte, die Meinungs-, Gewissens-, Re-ligions- und Überzeugungsfreiheit einbezogen, leiten ließ, aber nicht von Forderungen, die sich manche Beamte ausgedacht und erdichtet haben und die sich irren und andere irreführen, indem sie selber Rechtswidrigkeiten begehen. Die Achtung der unverletzlichen Menschenrechte gehört zu den Grundlagen des Friedens, und Frieden ist doch Gerechtigkeit, denn ein Krieg entsteht durch Verletzungen der Rechte. Wenn aber die Menschenrechte zu Friedenszeiten verletzt werden, dann entsteht eine empfindliche und in bezug auf den Fortschritt unverständliche Situation des Kampfes gegen den Men­schen, die unmöglich mit einem Programm in Einklang zu bringen ist, das sich »human« nennt. Man könnte es höchstens damit erklären, daß man nicht mit Menschen in Frieden leben kann, wenn man gegen Gott kämpft. Die Wahrheit kann nur durch den Menschen selbst und in diesem Sinne nur frei offengelegt werden; jeder physische oder geistige Zwang entstellt in erster Linie den ideologischen Kampf. Jede Vergewaltigung des Gewissens ist eine brutale Schändung des Menschen, mit der nur eine Unterwerfung unter die äußerliche Gewalt erreicht wird, niemals aber ein innerlicher Ge­winn des Menschen für die Wahrheit. Anstatt den Menschen für die Wahr­heit zu gewinnen, entzünden wir in ihm nur Haß gegen uns selber und gegen die von uns empfohlenen Gedanken.

Die Erfahrung aus der Geschichte zeigt uns sehr klar, wie verhängnisvoll die Versuchung war, Gewalt für die »Dienste der Wahrheit« anzuwenden. In einem Kampf der Ideen Gewalt anzuwenden heißt, nicht der Wahrheit dienen, sondern sie zu entweihen. Das Recht der Regierung basiert auf nichts anderem, als auf der Achtung der objektiven und unantastbaren Rechte der Menschen. Dieses gemeinsame Wohl, dem die Regierung eines Staates dient, kann nur dann vollkommen realisiert sein, wenn alle Bürger wegen ihrer

Rechte beruhigt sein können. Solange es das nicht gibt, kommt es zur Spal­tung, zu Ungehorsam der Regierung gegenüber oder zu einer Situation, bei der man Unterdrückung, Drohungen, Zwang und Terror anwenden muß. Beweise dafür haben die Diktaturen und totalitären Regime unseres Jahr­hunderts zur Genüge geliefert.

Wie im normalen Menschenleben, gleichgültig, ob es sich um einen Gläubi­gen oder um einen Atheisten handelt, unbedingt Luft, Nahrung und Wasser benötigt werden, so brauchen auch alle Bürger die Rede- und Pressefreiheit.

Am 30. April 1984 begegnete ich in Vilnius einem mir schon lange bekann­ten Juristen, der seit langen Jahren auf verantwortungsvollem Posten bei den Überwachungsorganen der Justiz tätig ist. Ich erzählte ihm, daß die Sicher­heitsbeamten am 13. 2. 1983 den Entwurf meiner während der Gefangen­schaft geschriebenen Erinnerungen weggenommen und deswegen einen Pro­zeß gegen mich eingeleitet haben. Die Untersuchungsorgane hätten mir mit­geteilt, ich habe ein Vergehen begangen, das dem 2. Teil des § 68 des StGB entspreche. Er fragte mich: »Vielleicht hast du irgendwelche Regierungs­beamte in deinen Memoiren kritisiert, vielleicht hast du sie negativ erwähnt?« Ich antwortete ihm, daß mich Ende 1976 und in der ersten Hälfte des Jahres 1977 der Oberuntersuchungsrichter des Sicherheitsdienstes, Major Urbonas, und der Vorsteher der Untersuchungsabteilung, Major Rimkus, vernommen hätten, und deswegen hätte ich sie, den Staatsanwalt Bakučionis und manche andere in meinen Memoiren kritisiert. Mein bekannter Jurist überlegte und sagte zu mir: »Urbonas ist dienstlich aufgestiegen; er ist zum Oberleutnant befördert und zum Vorsteher der Unterabteilung des Sicherheitskomitees ernannt worden. Deswegen kann er sich für deine Kritik rächen. Und weder Verteidiger noch deine Klarstellungen werden dir etwas helfen.. .«

Wenn die Wut, der Haß oder gar die Rache die Gerechtigkeit niederringen, dann wird das Hauptmotiv seiner Aktion der Wunsch sein, wenigstens meine Freiheit einzuschränken oder mir seine Überzeugungen aufzuzwingen — was in sich schon der Verwirklichung der Freiheit widerspricht — falls er nicht die Absicht hat, mich ganz zu vernichten. Dann wird mir nur bleiben, mit dem Führer des indischen Volkes Gandhi, der selbst acht Jahre im Gefängnis verbracht hatte, zu sagen: »Der Zwang kann niemand überzeugen, sondern er zeugt nur Haß. Wenn ich unschuldig bin und trotzdem verurteilt werde, dann ist das Gefängnis für mich keine Schande.« Wahrhaftig, die hinter den Gittern oder hinter dem Stracheldraht verbrachte Zeit geht nicht verloren, sondern dient am schönsten der geistigen Erneuerung. Wenn das Gefängnis oder das Lager die Christen auch von der ganzen Gesellschaft isoliert, die eifrigen Christen bleiben auch als Gefangene immer noch Apostel und ge­winnen Seelen für Christus.

Die verlorene Freiheit um der Wahrheit willen, der eigenen Überzeugungen wegen oder weil man sich der Lüge nicht beugen will, die durchstandene

Not und das ertragene Leid geben den andern das eindrucksvollste Beispiel. Das dargebrachte Opfer von all dem, was auf dieser Erde am kostbarsten ist, verbreitet mehr Duft der Gnade in der lebendigen Kirche und in den Seelen als ein Erblühen (durch das Leben und die Taten) durch angeborene Gaben unter den Augen der Menschen in der Freiheit.

Deswegen verurteilt zu werden, weil ich als Gefangener (1976 — 1981) meine Erinnerungen aufgeschrieben habe, weil ich die »Chronik der LKK«, die Zeitschrift »Lietuvos ateitis« (Die Zukunft Litauens), das von J. Girnius geschriebene Buch »Žmogus be Dievo« (Mensch ohne Gott), (das mir die Tschekisten weggenommen und als ideologisch schädlich vernichtet haben) und anderes gelesen habe, ist für mich nicht nur keine Schande, sondern eine Ehre, denn dann stehe ich als Christ, der seine Pflichten gewissenhaft erfüllt hat, vor der Ewigen Wahrheit, die zu mir sagt: »Selig, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und lügnerisch alles Böse gegen euch sagen um meinetwillen. Freuet euch und frohlocket, denn euer Lohn ist groß im Himmel.« (Mt. 5, 10—12).

Es ist mir eine Ehre, für die Kirche, für das eigene Volk, für die Rechte und Grundfreiheiten des Menschen und die Gerechtigkeit den schweren Weg des Gulag zu gehen.

Diese Opfer sind nicht vergebens. Sie sind Samenkorn der zukünftigen Frei­heit, die auf die mit dem Blut unserer Eltern und Ahnen besprengte und mit Tränen begossene Erde gefallen sind.

Die beste Sendung ist es doch, zu leiden mit den Leidenden. »Eine größere Liebe hat niemand als die, daß er sein Leben hingibt für seine Freunde«, sagt uns Christus (Joh. 15, 13). Deswegen müssen wir die Treue zu Gott höher schätzen als alle Reichtümer, die Freiheit und sogar das Leben. »Omnia vincit veritas — die Wahrheit besiegt alles.«

Das Gerichtsurteil

Abschrift, Strafprozeß Nr. 8

Beschluß

im Namen der Sowjetischen Sozialistischen Republik Litauen

am 28. März 1985

Vilnius

Das Gerichts-Kollegium für Strafprozesse des Obersten Gerichts der SSR Litauen, bestehend aus dem Vorsitzenden Gerichtsmitglied J. Riepsas, den Volksräten A. Grigalavičienė und A. Gudalevičius, der Sekretärin S. Bruso-kienė, unter Teilnahme des Staatsanwaltes J. Murauskas, behandelte in einer öffentlichen Gerichtssitzung die Strafprozeßakte gegen Vladas Lapienis, Sohn des Antanas, geboren am 6. Juni 1906 in der Stadt Dünaburg, SSR Lettland, Bürger der UdSSR, Litauer, wohnhaft in Vilnius, Gelvonų 27-7, Pensionist, verurteilt am 27. Juli 1977 gemäß § 68 Teil 1 des StGB der LSSR zum Freiheitsentzug für drei Jahre und Verbannung für zwei Jahre, die Freiheitsstrafe verbüßt am 20. 10. 1979 und die Verbannung im Juni 1981, verheiratet, Hochschulbildung, beschuldigt nach § 68, Teil 2 des StGB der SSR Litauen.

Nach der Überprüfung der Akten stellte das Gerichtskollegium fest:

Der Angeklagte V. Lapienis hat von 1981 bis Januar dieses Jahres mit der Absicht, die sowjetische Regierung zu schwächen, den sowjetischen Staat und seine gesellschaftliche Ordnung erniedrigende verleumderische Literatur produziert, verbreitet und zwecks Verbreitung aufbewahrt.

Zu dieser Zeit schrieb und vervielfältigte er zwecks Verbreitung die »Erin­nerungen eines sowjetischen Gefangenen«. Im Gartenhaus von J. Puodžiukas, das im Garten »Riesutas« bei Vilnius steht und in der Wohnung der Ona Dranginytė in der Stadt Kaunas schrieb er sie mit der Schreibmaschine ab.

In dem schon erwähnten Häuschen und in der Wohnung von J. Puodžiukas hat er folgende illegale Veröffentlichungen aufbewahrt: Die Nr. 10, 38, 46 der »Chronik der LKK«, die Ausgabe 36 der »Chronik der laufenden Ereig­nisse«, »Socialismas«, »Asmenybė ir tautinis sąmoningumas« (Persönlichkeit und das nationale Bewußtsein), »Atsiskyrimas ir suartėjimas« (Entfrem­dung und Annäherung), »Dabartinės visuomeninės-ekonominės sistemos ir jų perspektyvos« (Die derzeitigen gesellschaftlich-ökonomischen Systeme und ihre Perspektiven), einen mit der Schreibmaschine geschriebenen offenen Brief von Raisa Dort an die Redaktion der Zeitung »Trud«, »Atwiras laiškas Leonidui Pliuščiui« (Ein offener Brief an Leonid Pliuschtsch), einen Band des Buches »Lietuvių archyvas« (Litauisches Archiv), die Broschüre »Ar­kivyskupas Mečislovas Reinys« (Erzbischof Mečislovas Reinys) und das Buch von J. Girnius »Lietuvisko charakterio problemos« (Probleme des litauischen Charakters). Er ließ diese Texte auch Puodžiukas lesen.

In der Stadt Vilnius trug er mit sich und hielt aufbewahrt: die illegalen Ver­öffentlichungen »Chronik der LKK« Nr. 57, 58, 59 und 60, »Lietuvos ateitis« (Die Zukunft Litauens) Nr. 6, die Manuskripte »Gulago dantračiai triuškina AT« (Die Zahnräder des Gulag zermalmen AT), »Belgrado kon-ferencija« (Die Konferenz von Belgrad), mit der Schreibmaschine geschrie­bene Texte »Lietuviu tautos dorovinės kultūros problemos« (Die Probleme der sittlichen Kultur des litauischen Volkes), »Kunigas D. Dudko dėl pa­daryto pareiškimo« (Priester D. Dudko über die von ihm gemachte Erklä­rung). Außerdem hielt V. Lapienis zu Hause Manuskripte aufbewahrt, die mit den Worten beginnen: »Pagal Tarybinę Konstituciją, wisi...« (Nach der sowjetischen Verfassung sind alle ...), » . . . dėja, šiuos teiginius patvir­tina ...«(... leider bestätigen diese Behauptungen ...), »Šią knygą saugoju* (Ich hüte dieses Buch), » Teroru kovotojų nepalauši« (Mit dem Terror wirst du die Kämpfer nicht bezwingen), »Daumantai-10«, eine Broschüre »Mano gyvenimo kryžkelės« (Die Scheidewege meines Lebens). In der Stadt Kaunas trug er mit sich die illegalen Veröffentlichungen »Chronik der LKK« Nr. 62 und 63, »Lietuvos ateitis« (Die Zukunft Litauens) Nr. 8 und » Aušra « (Die Morgenröte) Nr. 42.

In allen diesen Werken wird der sowjetische Staat und seine gesellschaftliche Ordnung verleumdet, werden die Prinzipien der sowjetischen Demokratie verdreht dargestellt, die marxistisch-leninistische Ideologie kritisiert, die Politik der UdSSR in bezug zur Religion verleumdet.

V. Lapienis bekennt sich für schuldig. Er gibt die Tatsache zu, daß er die »Erinnerungen eines sowjetischen Gefangenen« geschrieben hat, daß er die erwähnte illegale Literatur in Vilnius und Kaunas bei sich getragen und zu Hause aufbewahrt hatte. Es könnte auch die im Häuschen von J. Puodžiukas gefundene illegale Literatur ihm gehören, ausgenommen das Buch »Lietuvos archyvas« I. (VI.) Band, die Broschüre »Erzbischof Mečislovas Reinys«, »Die Probleme des litauischen Charakters«. Diese Veröffentlichungen sollen nicht ihm gehören, er habe sie J. Puodžiukas auch niemals zu lesen gegeben. Er habe außerdem diese Literatur nicht zwecks Verbreitung, sondern als Information aufbewahrt. Die »Erinnerungen eines sowjetischen Gefangenen« habe er, um unsere Mängel überwinden zu helfen, den entsprechenden Or­ganen der Partei und der Sowjetunion übergeben wollen.

Die Schuld von V. Lapienis ist durch folgende Beweise erwiesen:

Bei der Ergreifung von V. Lapienis am 13. Februar 1984, während der Durchsuchung im Gartenhäuschen von J. Puodžiukas, bei der Festnahme von V. Lapienis in der Wohnung von O. Dranginytė in Kaunas am 4. Januar 1985 wurden gefunden und mitgenommen: Die »Erinnerungen eines so­wjetischen Gefangenen«, Manuskripte, Schreibmaschine, Papier. Die Exper­tise der Schreibmaschine hat ergeben, daß V. Lapienis die Manuskripte ge­schrieben hat. Die technische Expertise der Unterlagen hat ergeben, daß die Schreibmaschinenschrift der Erinnerungen von den im Gartenhäuschen von J. Puodžiukas und in der Wohnung der O. Dranginytė gefundenen Schreib­maschinen ist. Wie schon erwähnt, hat V. Lapienis selbst zugegeben, die »Erinnerungen eines sowjetischen Gefangenen« geschrieben und verviel­fältigt zu haben. Daß diese Erinnerungen zwecks Verbreitung geschrieben wurden, zeigten bestimmte Formulierungen, mit denen er sich an die zu­künftigen Leser wendet: »Verzeiht mir, wenn ich nicht alles gesehen habe und mich nicht an alles erinnern kann ...« u. ä. Auch die Vervielfältigung in mehreren Exemplaren offenbart den Zweck der Verbreitung. Die Begrün­dung von V. Lapienis, daß er vorgehabt habe, diese Erinnerungen den so­wjetischen und Parteiorganen zu übersenden, ist nicht stichhaltig; der Inhalt dieses Werkes läßt eine solche Absicht nicht erkennen. Die »Chronik der LKK«, »Lietuvos ateitis« und die anderen erwähnten illegalen Veröffent­lichungen sind bei V. Lapienis während seiner Ergreifung in Vilnius und Kaunas, während der Durchsuchung im Gartenhäuschen von J. Puodžiukas, in seiner Wohnung und in der Wohnung von O. Dranginytė gefunden worden. Die Schriftexpertise hat ergeben, daß V. Lapienis das Manuskript »Die Zahnräder des Gulag zermalmen AT«, »An die Belgrader Konferenz«, die während der Durchsuchung am 13. Februar 1984 in der Wohnung von V. Lapienis gefundenen Manuskripte geschrieben hat.

Die große Zahl der illegalen Literatur, ihr Umfang, das Vorliegen einzelner Werke in einigen Exemplaren, das Abschreiben dieser Veröffentlichungen — all das zeigt, daß V. Lapienis diese Werke zwecks Verbreitung aufbewahrt hat.

Es ist ebenfalls bewiesen, daß V. Lapienis die Bücher »Lietuvos archyvas«, »Arkivyskos Mečislovas Reinys«, »Lietuvisko charakterio problema« auf­bewahrt hatte. Diese Werke wurden während der Durchsuchung in der Wohnung von J. Puodžiukas gefunden. J. Puodžiukas hat folgerichtig be­wiesen, daß V. Lapienis diese Werke in sein Gartenhäuschen gebracht und zu ihm gesagt hatte: »Wenn du einmal Zeit hast, kannst du sie lesen.« Er hat diese Bücher zu sich nach Hause genommen und hat das Buch »Lietuvisko charakterio problema« durchgelesen. Die in seiner Aussage vorkommenden unterschiedlichen Angaben über das Datum sind seinem verhältnismäßig hohen Alter und der langen Zeit zuzuschreiben. Dadurch, daß er J. Puod­žiukas das Buch »Lietuviško charakterio problema« zu lesen gab, verbreitete der Angeklagte dieses Werk. Die anderen zwei Werke bewahrte er ebenfalls der Verbreitung wegen auf, weil er J. Puodžiukas erlaubt hat, sie zu lesen.

Es wurde festgestellt, daß es in allen diesen Werken den sowjetischen Staat und die Gesellschaftsordnung erniedrigende verleumderische Erdichtungen gibt. In den »Erinnerungen eines sowjetischen Gefangenen« wird z. B. ge­schrieben, daß es » . .. den sowjetischen Bürgern nicht erlaubt ist, die (ihnen gewährten) Rechte in Anspruch zu nehmen . . . diese Rechte stehen bloß auf dem Papier, aber nicht im Leben.« In »Scheidewege meines Lebens« wird geschrieben: »Die Partei braucht nicht davon zu träumen, daß die kommu­nistische Ideologie, die unserem Lande soviel Unheil gebracht hat, die Katho­lische Kirche aus dem Leben verdrängen wird . . .« Ähnliche Behauptungen sind auch in anderen Werken zu finden.

Das Bestreben von V. Lapienis, durch solche Aktionen die sowjetische Re­gierung zu schwächen, zeigt das Produzieren, Aufbewahren und Verbreiten von die sowjetische staatliche und gesellschaftliche Ordnung erniedrigender verleumderischer Literatur über längere Zeit hin, nämlich einige Jahre, ferner ihre große Menge und schließlich auch der Inhalt dieser Werke selbst. V. Lapienis hat also das in § 68 des StGB der SSR Litauen genannte Ver­gehen begangen, indem er die sowjetische staatliche und gesellschaftliche Ordnung erniedrigende verleumderische Werke produziert und zum Zweck der Verbreitung aufbewahrt hat in der Absicht, dadurch die sowjetische Regierung zu schwächen. Da er schon einmal wegen besonders gefährlicher Vergehen gegen den Staat verurteilt worden war, ist seine verbrecherische Tätigkeit nach § 68 Teil 2 des StGB der SSR Litauen richtig eingestuft wor­den. Das Kollegium berücksichtigt beim Bemessen der Strafe für V. La­pienis, daß er schon früher wegen desselben Vergehens verurteilt gewesen ist, daß er nach der Verbüßung der Strafe keine Schlüsse daraus gezogen hat und auch weiter dieselbe verbrecherische Tätigkeit fortgesetzt hat. Es wird aber auch sein hohes Alter und seine Gesundheitslage (er ist an Arterio­sklerose erkrankt) berücksichtigt. Es soll als Strafe Freiheitsentzug ver­hängt werden, der in einer Besserungsarbeitskolonie mit strengem Regime zu verbüßen ist. Außerdem ist eine zusätzliche Strafe der Verbannung vor­zusehen, weil ein besonders schweres und gefährliches Vergehen gegen den Staat vollbracht worden ist.

Das Gerichtskollegium hat unter Beachtung der Artikel 331 — 333 der StPO der SSR Litauen beschlossen:

Vladas Lapienis, Sohn des Antanas, ist für schuldig zu erklären, ein Ver­gehen gemäß § 68 Teil 2 des StGB der SSR Litauen begangen zu haben und mit vier Jahren Freiheitsentzug zu bestrafen. Ihm ist außerdem noch eine Zusatzstrafe von zwei Jahren Verbannung auszusprechen.

Die Strafe des Freiheitsentzuges ist für V. Lapienis in einer Besserungs­arbeitskolonie mit strengem Regime zu verbüßen. Der Beginn der Verbüßung der Strafe ist ab 4. Januar 1985 zu berechnen, die Zeit der Untersuchungs­haft vom 13. Januar 1984 bis 28. Februar ist der Strafverbüßungszeit hin­zuzurechnen.

Das Sachbeweismaterial — eine Schreibmaschine »Unis« wird beschlag­nahmt, das restliche Sachbeweismaterial wird mit der Prozeßakte aufbewahrt.

Der Beschluß ist endgültig, nach der Berufungsordnung nicht einklagbar und nicht anfechtbar.

Der Vorsitzführende (Unterschrift) J. Riepšas

Die Volksräte (Unterschrift) A. Grigalavičienė und A. Gudelevičius

Die Abschrift ist echt: Mitglied des Gerichts J. Riepšas