»Was soll man denken, wenn man ganze Seiten voll mit bunten Unterschriften sieht«, fragt ein gewisser Anonymus in seinem Artikel »Triukšmas, melagystės ir dievo įsakymai« (Ein Lärm, lauter Lügen und die Gebote Gottes) die Leser der »Tarybine Klaipėda« (Sowjetisches Klaipėda). (Vergi. »Tarybinė Klaipeda« vom 5. 4. 1986)
Was würde wirklich ein normaler, gesund denkender Mensch dabei denken? Er würde zuerst denken, daß das Schreiben wahrscheinlich sehr wichtig ist, wenn eine so große Zahl von Menschen es befürworten, und er wird sich sofort mit besonderem Interesse in den Inhalt des Schreibens vertiefen. Diesen Anonymus können wir leider nicht zu solchen vernünftigen Menschen zählen, weil für ihn als erstes die Unterschriften sind: Ob sie »ordentlich sind, ob sie auch alphabetisch stimmen«, ob die Namen genau geschrieben sind, ob die Adressen und Berufe der Unterzeichner angegeben sind . . . Ihn interessiert also nicht das Wesentliche der Sache, sondern die Formseite. Man könnte also denken, daß wir es mit einem Formalisten, mit einem Bürokraten zu tun haben, an denen es in unseren Ämtern leider nicht mangelt.
Wenn wir aber weiter lesen, was der Anonymus schreibt, dann müssen wir noch traurigere Schlüsse ziehen: Es schreibt ein feindseliger Mensch, dem es nicht um die Wahrheit, nicht um die Gerechtigkeit geht, sondern der sogar mit allen Mitteln ein unverkennbares Unrecht verteidigt und rechtfertigt, nämlich eine schlimme Benachteiligung, einen schändlichen Skandal: die Wegnahme der durch die Spenden der Gläubigen errichteten Kirche von Klaipėda durch die sowjetische Regierung. Der Anonymus schreibt im rednerischen Stil: »Es ist schon an der Zeit, wahrhaftig an der Zeit, daß alle Bürger der Stadt Klaipėda endlich erfahren, was in ihrem Namen geschrieben wird.« Welch eine lächerliche Besorgnis! Es ist doch schon lange, schon seit beinahe zwanzig Jahren, nicht nur den Bürgern der Stadt Klaipėda, sondern ganz Litauens, ja sogar der ganzen Welt bekannt, daß die Gottlosen die schöne Kirche »Maria, Königin des Friedens« den Gläubigen weggenommen und sie in einen Philharmoniesaal umfunktioniert haben; sie wissen alle, daß die Gläubigen der Stadt Klaipėda in ihrem kleinen Kirchlein während der Gottesdienste keinen Platz mehr haben; sie wissen, daß bei den verschiedensten Instanzen um Gerechtigkeit ersucht wird, daß haufenweise Schreiben, Erklärungen, Beschwerden geschrieben worden sind, daß Hunderttausende von Unterschriften gesammelt wurden ... Sie wissen aber auch das, daß dieser ganze gerechte und hartnäckige Kampf der Gläubigen bis jetzt nur auf unmenschlich abgestumpfte Gefühle der Gottlosen gestoßen ist.
Wozu benötigt der Verfasser dieses Artikels die Unterschriften? Warum fragt er: »Wo sind eigentlich die genauen Namen, wo sind die Adressen, Berufe?«, wo er selbst nicht nur seine Arbeitsstelle, seinen Beruf oder Wohnort verschweigt und seinen Namen nicht bekannt gibt, sondern nicht einmal eine »zusammengekritzelte« Unterschrift beigefügt hat. Wozu die genauen Namen, Adressen und Berufe vom KGB benötigt werden, das wissen nicht nur die Gläubigen, sondern auch Ungläubige und Gleichgültige, die auf irgendeine Weise die Wahrheit zu verteidigen versuchen. Für die KGB-Leute ist das die beste Orientierung, in welchem Haus man eine Durchsuchung machen soll, welchen Beamten man so lange terrorisieren kann, bis dieser seine eigene Unterschrift bestreitet oder, wenn er nicht gehorcht, ihn in seinem Amt zu degradieren. Was können aber die Sicherheitsbeamten mit jenen anfangen, deren Unterschrift sie nicht entziffern und die sie nicht terrorisieren können? Es scheint, daß diese Frage auch dem Anonymus nicht fremd ist, wenn er fragt: »Und wer ist in der Lage, ganze Seiten von Gekritzel zu entziffern? Wer steckt hinter ihnen?« Hier möchte man am liebsten stehen bleiben und noch einmal fragen: Und wer steckt hinter der Maske des Anonymus?
Der Anonymus ist darüber entsetzt, daß in den Bittschreiben »im Namen der Bürger der Stadt Klaipėda gefordert wird, daß der Philharmoniesaal von Klaipėda. . . eine Kirche werden soll«. An allererster Stelle möchte man den Anonymus im Namen aller Bürger der Stadt Klaipėda und der Gläubigen Litauens bitten, die Wahrheit nicht zu verdrehen — nicht »der Philharmoniesaal ... soll eine Kirche werden«, sondern die Kirche darf nicht in einen Philharmoniesaal umgewandelt werden, wenn die Gläubigen dadurch gezwungen werden, kleine, als Kirche ungeeignete Räume zu benützen! Mit einer naiven Taktik, mit List und frechen Lügen wird in dem Artikel auch alles andere verdreht, und es bleibt auch die Absicht nicht verborgen, die Gläubigen einschüchtern zu wollen, die sich immer noch um Recht und Gerechtigkeit bemühen.
Und so wandelt die Feder des Anonymus die berechtigten Forderungen der Gläubigen um in »mit lügenhaften Begründungen zusammengesetzte und zusammengeleimte Beschwerden«, in »rätselhafte« (!), »geheimnisvolle« (!) und »anmaßende« Briefe; das Schreiben dieser Briefe und das Sammeln der Unterschriften nennt er Aufwiegelung der Bürger der Stadt Klaipėda, Zerrüttung der Ordnung, Verleumdung der Sowjetischen Regierung, Rebellion, Exzesse, rechtswidrige Aktionen; so ähnlich ist es mit den Unterschriften unter den Erklärungen, die angeblich »durch Lügen abgelockt«, gefälscht und durch irgendeine »Betrügerei« ergaunert sind; aber auch die Unterschriften selbst sind keine Unterschriften, sondern ein raffiniert geschnörkeltes Gekritzel; sie werden auch nicht hingeschrieben, sondern »hingepinselt« ... Auch der Bau der Kirche selbst damals war »kein Bau, sondern ein ganzer Haufen von Gesetzesverletzungen, von Betrügereien und gewöhnlichen Diebstählen . ..«
»Wenn seitdem auch schon eine lange Zeit vergangen ist, könnte es aber auch heute noch einfache Arbeiter geben, die für ihre vereinbarte oder auch schon ausgeführte Arbeit noch nicht ausbezahlt worden sind«, — jammert der Anonymus. Es ist wahrhaftig bedenkenswert: Die Regierungsvertreter nahmen die von Spenden der Gläubigen errichtete Kirche weg und alle Priester, die den Bau der Kirche organisiert haben, verhafteten sie zu Unrecht. Warum haben sie denn dann »vergessen«, die Arbeitskräfte für ihre Arbeit beim Kirchenbau auszuzahlen, die doch gerade wegen der Enteignung des Gotteshauses und wegen der Verhaftung der Priester nicht mehr voll ausgezahlt werden konnten?! Entwürdigt diese Tatsache die Regierungsvertreter vielleicht nicht, und was hat denn der Anonymus dabei gedacht, als er sich zugetraut hat zu schreiben, daß die Arbeiter immer noch nicht ausgezahlt worden sind??? Erlauben Sie mir bitte noch einmal eine Frage: Warum zahlen Sie die Arbeiter so lange nicht aus?!
Hinter allem steckt eine Tücke: »Wer hat das Recht, sich um die Angelegenheiten der Kirche zu kümmern?«, fragt der Anonymus. Und er gibt gleich auch eine Antwort darauf: »Ohne Zweifel nur die richtigen Hausherren.« Damit will man das gläubige Volk von den Sorgen um die Angelegenheiten der Kirche ausschließen, das Volk, das wie man bei uns sagt, der rechtmäßige Eigentümer des Gesamten ist. Es paßt den Feinden der Kirche recht gut, das
Kirchenkomitee oder seinen Vorsitzenden als den Hausherrn der Kirche zu betrachten. Sie haben sich ja das Recht vorbehalten, ihn abzusetzen oder nach Neuwahlen nicht zu bestätigen, wenn er ihnen nicht annehmbar ist: Mit dem Komiteevorsitzenden allein fertig zu werden, ist sehr einfach. .. Die Unterschriftensammler allein deswegen herabzuwürdigen, weil sie »nicht mehr jung sind«, weil sie »keine allzu hohe Bildung haben« oder nur den »bescheidenen Beruf« eines Taxifahrers ausüben, das ist in einem Staat der arbeitenden Menschen fürwahr unschicklich, denn damit wird die Ehre und die Würde der Person verletzt. Schon gar nicht verdienen sie den Namen »Betrüger« oder »Fälscher«.
»Aus alledem erhebt sich die Frage: Wer veranlaßt diese Menschen, sich so ganz abweichend zu verhalten, wer leitet sie an und unterstützt sie?«, fragt wieder der Anonymus. Wenn er schon wirklich nicht weiß, »wer« es ist, dann würden wir ihm vorschlagen, die Überzeugungen der Gläubigen anzunehmen: Das begangene Unrecht an den Gläubigen, die Gewalt veranlaßt sie zu handeln, die Lüge, die Unwahrheit und List veranlassen sie, sich zu wehren (auch in dem kleinen Artikel des Anonyms ist merkwürdigerweise viel davon die Rede), weil die gesunde menschliche Natur dem Bösen nicht zustimmen kann, sondern nach dem Guten, nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit sucht. Ihr christliches Gewissen veranlaßt diese Menschen, sich »abweichend zu verhalten« und die zehn Gebote Gottes unterstützen sie. Und die Begeisterung der Gläubigen im Kampfe gegen Unrecht und Ungerechtigkeit wird von den Regierungs- und Sicherheitsbeamten mit Drohungen, Strafen, Arrest, Gefängnis, Lager und sogar mit dem Tode »belohnt« . ..
Zum Abschluß dieses Artikels möchte man den anonymen Verfasser bitten, eine Frage beantworten zu wollen, die nicht nur die Gläubigen der Stadt Klaipėda, sondern auch die Gläubigen ganz Litauens interessiert: Wann wird denn endlich die durch Spenden der Gläubigen selber errichtete Kirche der Königin des Friedens von Klaipėda zurückgegeben? Werden die Gläubigen auch in Zukunft nur so viel Recht auf sie haben, daß sie, wenn sie eine Eintrittskarte gekauft haben, ein Konzert anhören dürfen? Wenn nicht daran gedacht wird, die Kirche zurückzugeben, dann könnte man wenigstens den Gläubigen der Stadt Klaipėda die in den Bau hineingesteckten Gelder zurückerstatten? Das Stehlen verbieten doch nicht nur die zehn Gebote, sondern auch die Verfassung der UdSSR und der LSSR!
Der Verfasser bietet den Schreibern der Bittgesuche an, »die zehn Gebote Gottes und die sieben Hauptsünden aufzufrischen«. Die Nächstenliebe fordert uns auf, die Unwissenden zu belehren: Lesen Sie bitte die Verfassung der UdSSR und der LSSR durch und schreiben Sie erst dann ähnliche Artikel. Wenn Sie auch danach Ihre Meinung über die ungerechte Enteignung der Kirche von Klaipėda noch nicht ändern, dann ist Ihr Artikel und Ihre Ansicht nicht nur in bezug auf das Schreiben der Bittegesuche wegen der Kirche von Klaipėda, sondern auch in bezug auf alle anderen Erklärungen, die die elementarsten Rechte der Gläubigen verdeidigen, völlig verständlich: Sie gehören zu der »erwählten« Gruppe der Gesellschaft, die, da sie »rein sowjetisch« ist, die Gläubigen außerhalb der Grenzen des Gesetzes sieht. Vielleicht ist es auch die Antwort auf die Frage, warum Sie anonym bleiben wollen...