Man soll über allgemein geachtete Anschauungen nicht spotten, denn dadurch kann man ihre Anhänger nicht überzeugen, sondern sie nur beleidigen.

(L. de Vauvenarge, 1715 —1747)

Bei der Betrachtung der Kulturgeschichte der Welt sehen wir, daß bei allen Völkern, die mit der christlichen Zivilisation in Berührung gekommen sind, viele Jahrhunderte hindurch die Mutter Jesu, Maria, zur edelsten Personifi­zierung der Weiblichkeit und zum schönsten Ideal der Jungfräulichkeit und der Frau geworden ist. Sie ist die unbefleckte Jungfrau und gleichzeitig auch die hochherzige Mutter, die dem Opfer ihres Sohnes für die Menschheit zu­gestimmt hat. Wie blaß würde das Bild der Frau und Mutter erscheinen, wenn wir aus dem Kulturbild der Menschheit, aus der Malerei, aus der Dichtung und aus allen Traditionen all das austilgen würden, was durch die Jungfräulichkeit und durch die geheimnisvolle, außerordentliche Mutter­schaft Mariens angeregt worden ist!

Angefangen mit den Hymnen für Maria des syrischen Diakons Ephram im 4. Jahrhundert über Dante, Petrarca und Novalis, über den Helden von »Allerseelen« von Adomas Mickevičius, der sagt: »Ich werde nicht erlauben, den Namen der Muttergottes zu entehren«, bis zum Aufschrei des Jugend­lichen in dem litauischen sowjetischen Theaterstück, der seiner Freundin zu­ruft: »Sei du Maria...«, und noch weiter reicht die Verehrung des Ideals Maria. Nur Ihr ist zu verdanken, daß alle Generationen gewußt haben, wohin sie ihre Blicke richten sollten, woher sie die Schönheit der Seelen auch unter den einfachsten Lebensverhältnissen und unter dem einfachsten Arbeitsmilieu lernen sollen. Auch heute hat das Beispiel der Mutter Jesu auf Menschen, die den Glauben kennen, direkt und bewußt und auf jene, die den Glauben nicht kennen, durch Kunst- und Musikwerke, durch »Ave Maria«, »Stabat Mater«, »Magnificat«, »Salve, regina« unbewußt einen erhabenen Einfluß.

Und siehe da, ein Frauenjournal zieht gegen die edelste Frau zu einem Feld­zug aus . .. Ein Vertreter der Hochschule, die die zukünftigen Pädagogen vorbereitet, hat sich angeschickt, die Verehrung der idealsten Frau zu zer­stören: Vladas Balkevičius, »Die heilige Familie«, veröffentlicht im Journal »Sowjetische Frau«, 1986, Nr. 2 und 3. Die Begründungen haben mit dem Thema wenig gemeinsam; die Objektivität kümmert den Verfasser sehr wenig. Entweder erinnert sich der Verfasser nicht daran, daß auf seine ver­alteten Argumente schon längst geantwortet worden ist, oder er versucht ganz primitiv darüber zu spotten, was er nicht verstehen will oder nicht ver­stehen kann. Die Aufgabe dieses Feldzugs: die Verehrung Mariens mit Füßen zu treten und ihr die Aureole der Jungfräulichkeit und der Gottes­mutterschaft herunterzureißen.

Warum wird so etwas getan? Das Ziel könnte nur sein, den religiösen Glau­ben zu zerstören. Die Mittel und die geistigen Folgen, die sich daraus erge­ben, (wie eine unauffüllbare geistige Leere) sind uninteressant. In wessen Namen wird es getan, etwa im Namen einer objektiven Wissenschaft? In dem Artikel ist leider nichts zu finden, was er mit der objektiven Wissen­schaft gemeinsam hätte.

In diesem Artikel, der die Ehre Mariens in den Schmutz zieht, wird mit Texten operiert, die der von uns vorbereiteten Ubersetzung des Neuen Testa­mentes entnommen sind. Deswegen fühlen wir uns verpflichtet und haben dazu auch das Recht, uns zu Wort zumeiden und die Argumente wenigstens ein bißchen zu analysieren.

1. Das Leben Jesu kann nicht durch die Einwirkung des Heiligen Geistes begonnen haben, weil das Wort »ruach« in der aramäischen Sprache, genau wie das litauische Wort »dvasia« (Geist) weiblichen Geschlechts ist. Wie wenn die Leser nicht wüßten, daß das grammatische Geschlecht nicht unbe­dingt mit dem tatsächlich zutreffenden Geschlecht übereinstimmen muß (ein Fußballstar — litauisch »žvaigždė«, ist weiblichen Geschlechts — hört nicht auf ein Mann zu sein). Außerdem ist eine Geschlechtsfrage bei einer gött­lichen Einwirkung überhaupt nicht am Platze, denn es wird nicht von körper­lichen Beziehungen gesprochen, sondern über eine besondere, eine wunder­tätige Einwirkung, von der der Engel zu Maria gesprochen hat: »Bei Gott ist kein Ding unmöglich« (Lk. 1, 37).

2.     Der Verfasser zitiert Prof. A. Maceina nach dem Journal für das kultu­relle Leben der Litauer im Ausland »Aidai«, dort sei von der Version die Rede, wonach Maria im Gebirge vergewaltigt worden sei. Professor A. Ma­ceina hat mit Sicherheit auch eine Antwort auf diese von keinen Quellen begründete Vermutung gegeben. V. Balkevičius verliert aber darüber kein Wort. Man sieht, daß es ihm darauf ankommt, das Wasser zu trüben, keines­falls aber nach Klarheit zu suchen. Uns und dem breiten Publikum sind die Archive, wo die Jahrgänge der »Aidai« aufbewahrt werden, unzugänglich, wir können aber auf eine Antwort im Neuen Testament hinweisen. Das ist die Szene der Begegnung Mariens mit der Mutter des hl. Johannes des Täufers, Elisabeth (Lukas 1, 39 — 56). Elisabeth begrüßt ihre junge Ver­wandte als Mutter ihres Herren, Maria aber antwortet darauf mit einem Lied der Freude, dem »Magnificat«: »Hoch preist meine Seele den Herrn und mein Geist frohlockt in Gott, meinem Heiland .. .« Sind das vielleicht die Gefühle eines gekränkten, geschändeten Mädchens?!

3.     Der römische Philosoph Celsus, Vertreter der Philosophie Piatos, ist nur als Feind der Christen bekannt, er ist aber kein Historiker. Der Talmud ist nur »eine Sammlung der religiösen, juristischen und moralischen Normen des Judentums« (LTE 11, 82), ist also ein Dokument des Glaubens, aber nicht der Geschichte. Die Version dieser zwei Quellen über irgendeinen Soldaten Pantera oder Pandera als angeblichen Vater Jesu verneint die Jung­fräulichkeit Marien in keiner Weise, sondern bestätigt eher die Überzeugung der Christen von der Jungfräulichkeit Mariens: Der Name »Pantera« oder »Pandera« ist als Metathese aus dem Wort »Parthenos« (d. h. »das Mäd­chen«) entstanden, denn die Christen hatten so oft wiederholt, daß Jesus »ek Marias tes parthenou« geboren ist, daß die Gegner des Christentums diese Benennung benutzten, um ihre eigene Version zu schaffen. Unzählige Male untersuchte Dokumente der Geschichte und des Glaubens nach dem Evanglium beweisen sonnenklar, daß der Beginn des Lebens Jesu ein außer­ordentlicher ausschließlicher Fall ohne Verbindung mit einem Mann gewesen ist.

4.     In Seiner göttlichen Natur (als Sohn Gottes) existiert Jesus Christus ewig. Seit Seiner Empfängnis im Mutterschoß Mariens existiert er auch in der menschlichen Natur. Das begreifen sogar die Kinder ohne Schwierigkei­ten, die vor der Ersten Kommunion den Katechismus lernen. Sie sagen: »Im Himmel hat Jesus (als Gott) nur einen Vater, auf der Erde (als Mensch) nur eine Mutter.« Der gebildete Verfasser dieses Artikels ist aber entweder nicht in der Lage oder einfach nicht willens, das zu verstehen. Aus Maria hat nur der menschliche Körper Christi den Anfang gefunden, aber nicht seine ewige Göttlichkeit. Warum soll man dann sagen, daß aus einem Menschen kein Gott geboren werden kann? Ein Gott, der noch nicht existiert hat, kann aus einem Menschen nicht entstehen. Wenn aber so ein Sohn aus Maria seinen menschlichen Körper genommen hat, der schon vorher Gott gewesen ist und auch nachher Gott geblieben ist, dann trifft für Maria die Benennung Mutter Gottes zu.

5.     Kinder, die zur Erstkommunion gehen, erfahren, daß die Bezeichnung Mariens als »Unbefleckte Empfängnis« bedeutet, daß ihre Seele vor der Erb­sünde bewahrt geblieben ist, aber überhaupt nichts sagt über die Herkunft ihres Körpers. Die Kirche betrachtet sie also völlig natürlich und verehrt die Heiligen Joachim und Anna ebenfalls als natürliche Eltern Mariens im vollen Sinne des Wortes. Der Verfasser des Artikels spottet über den Titel der Unbe­fleckten Empfängnis, indem er auch ihm die Bedeutung der jungfräulichen Empfängnis gibt. Wenn man aber die Behauptungen der Religion angreifen will, dann sollte man zuerst wissen, was sie bedeuten. Andernfalls kann man sich nur lächerlich machen. Traut die Redaktion ihrem Mitarbeiter nicht viel­leicht doch zu viel zu? (Übrigens das Lied »Skaisčiausioj i« — Du Keuscheste — das vom Verfasser als von einem Anonymus geschrieben betrachtet wird, hat einen wohlbekannten Verfasser: Bischof Antanas Baranauskas).

6.     »Heos hou eteken hyion« — bis sie einen Sohn gebar (Math. 1, 25). Das Bindewort »bis« spricht nur über die Zeit bis zu dem genannten Termin, sagt aber nichts über die spätere Zeit. Zum Vergleich: »Das Mädchen ist ihrem Verlobten treu geblieben, bis er vom Kriegsdienst zurückkam.« Es wird nur für die Zeit so behauptet, solange der Bräutigam im Kriegsdienst war, soll aber diese Aussage die Meinung zulassen, daß das Mädchen später ihm untreu geworden ist? Oder verändert sich die Bedeutung der Aussage, wenn wir die Satzform so verändern: »Solange der Verlobte im Kriegsdienst war, ist das Mädchen ihm treu geblieben«? Vergl. das griechisch geschriebene 1. Buch der Makkabäer im AT 5, 54: »Weil kein einziger von ihnen bis zur glücklichen Rückkehr umgekommen war.« Es wird nicht ausdrücklich gesagt, was später mit ihnen war, man versteht aber von selbst, daß sie nach der Rückkehr erst recht nicht umgekommen sind. Genau wie die frühere Uber­setzung »Er (Josef) erkannte sie nicht, bis sie einen Sohn gebar«, so auch die unsrige »Er hat mit ihr nicht wie ein Mann gelebt, bis sie einen Sohn gebar«, spricht über die ganze Zeit, bevor Jesus geboren wurde und sagt überhaupt nichts darüber, was nachher war, und gibt keinen Grund zu den­ken, daß es später anders war.

Für die Unberührtheit Mariens auch später spricht die Uberzeugung des Christentums in den ersten Jahrhunderten, die schon im 2. Jahrhundert von berühmten Bischöfen und Märtyrern, wie dem Oberhaupt der Christen in Syrien und Apostelschüler Ignatius von Antiochien (etwa 50 —110), von Irenaus (140 — 202), von dem Kirchenlehrer Origenes (185 — 255) und anderen bestätigt und weiter von der Kirche bewahrt wurde. Die Christen der ersten Jahrhunderte kannten und verstanden das Evangelium nicht we­niger als die Verfasser unserer Zeiten und für ihre Uberzeugung von der Jungfräulichkeit Mariens in ihrem ganzen Leben waren weder die Aussage »bis sie gebar«, noch die »Brüder Jesu«, über die wir noch später sprechen werden, ein Hindernis.

Der Ubersetzer und der Redakteur des Neuen Testamentes erklären nach einem gründlichen Studium der Stilistik und der Psychologie des tiefreligiösen Menschen diese alte Tradition der Kirche (aber in der Anmerkung, nicht im Text), entstellen aber das Wort Gottes nicht.

7.     Nach der persönlichen Meinung des Verfassers soll spätestens nach der Geburt Jesu das intime Verhältnis des Ehepaares von Nazareth — Josef und Maria — begonnen haben. Der Verfasser meint persönlich, »andernfalls wäre es für Josef unsinnig gewesen, Maria zu heiraten (von uns kursiv gesetzt, C. K., V. A.). Wenn ein ungläubiger Mann unserer Zeit keinen Sinn darin sieht und meint, daß er auf gar keinen Fall sich so verhalten hätte wie der hl. Josef, dann ist es seine rein persönliche Angelegenheit, aber diese Mei­nung gibt ihm auf keinen Fall das Recht, für den hl. Josef zu urteilen. Dieser hatte die durch einen Engel überbrachte religiöse Verpflichtung, der recht­liche Mann Mariens, der rechtliche Vater Jesu und der wirkliche Beschützer der beiden zu sein. Und aus diesem Grunde »tat« er so, »wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte« (Mat. 1, 24).

8.     Der Verfasser ignoriert viele erwiesene Tatsachen und Umstände aus der Geschichte vollständig, beispielsweise das, daß beim jüdischen Volk die patriarchalische Ordnung herrschte, wo der Mann das Haupt der Familie war und nach seinem Tode nicht die Mutter, sondern der erstgeborene Sohn. So war es auch, als der hl. Josef starb: Das Haupt der Familie von Nazareth wurde Jesus. Und als dieser hinausging, um seine neue Lehre zu verkünden, mußte seine Mutter, die jetzt allein geblieben war, den Schutz ihrer männ­lichen Verwandten annehmen. Das Evangelium erwähnt nichts von Onkeln Jesu, offensichtlich gab es keine, aber es erwähnt die Schwestern Mariens, die mit ihr lediglich mitfühlen, sie trösten, aber ihr öffentlich keinen Schutz bieten durften. Es blieben also nur die älteren Vetter Jesu als Beschützer der Mutter Jesu, die aber sein Wirken und seine Ziele nicht verstanden und sich auch berechtigt fühlten, Jesus »in Zucht nehmen« zu dürfen.

Die patriarchalische Ordnung erlaubte einem jüngeren Bruder nicht, seinen älteren Bruder zurechtzuweisen. Daß die »Seinigen« das Verhalten Jesu tadeln, das zeigt nur, daß sie älter sind als Jesus. Diese Brüder Jesu sind also keine echten Brüder, denn Jesus ist der Erstgeborene!

Bewußt oder aus Unachtsamkeit mischt der Verfasser auch die Mutter unter die »Zurechtweiser«, als ob auch sie nicht an die Sendung ihres Sohnes geglaubt hätte. Das Evangelium spricht darüber nicht. Das Evangelium er­wähnt Maria mit seinen »Brüdern«, als sie zu ihm kamen, um mit ihm zu reden; erwähnt sie aber nicht dort, wo von seiner »Zurechtweisung« die Rede ist.

Die Apostelgeschichte berichtet, daß die sogenannten Brüder Jesu nach der Auferstehung Jesu sich den Aposteln angeschlossen haben. Das bedeutet, daß auch sie die Auferstehung Christi von Seiner Göttlichkeit überzeugt hatte. Daß seine Nächsten zuletzt an ihn glaubten, ist doch nichts Besonderes: Das bisherige alltägliche, ganz gewöhnliche Zusammensein mit ihm hat sie daran gehindert.

9.        In der Einleitung des Johannesevangeliums (1, 1 — 14) werden allgemeine Probleme behandelt: Das Kommen des Ewigen Wortes auf diese Welt und der Unwille der sündhaften Menschheit, Sein Licht anzunehmen. Deswegen sagt er auch, daß die Seinigen es nicht annehmen wollten — kai hoi idioi auton ou parelabon — als es zu seiner Schöpfung (eis ta idia) kam. Markus spricht in 3, 21 über eine konkrete Situation, über die leiblichen Nächsten Jesu: hoi par autou. Deswegen wird auch übersetzt bei Johannes 1, 11 »die Seinen«, und bei Markus 3, 21 »seine Angehörigen«. Zu behaupten, daß Johannes 1, 11 über Verwandte oder über die Mutter spricht, ist fürwahr unwissenschaftlich. Der Verfasser befürchtet aber nicht, daß die Leser sich im Text des Neuen Testamentes vergewissern werden: Es wurdevor 14 Jahren in einer Auflage von elfeinhalb Tausend gedruckt, die »Tarybinė moteris« (Sowjetische Frau) hat mehr als eine habe Million. Das bedeutet, daß sich höchstens jede fünfzigste Frau vergewissern könnte ...

10.        Nicht nur die alten Juden nannten die Vettern »Brüder« (als »Brüder« werden Vettern auch an folgenden Stellen des Alten Testamentes bezeichnet: Gen. 13, 8 und 29, 12; Lev. 10, 4; Chron. 23, 22). Auch in heutigen slawischen Sprachen werden sie so genannt (russisch, weißrussisch, polnisch »brat«, und nur wenn es nötig ist, wird der Genauigkeit wegen hinzugefügt »brojurodnij«, »stryjeczny« und ähnlich). Daß die im Evangelium erwähnten »Brüder« nicht die Kinder der Mutter Jesu sind, kann man ersehen durch einen Vergleich zwischen Matthäus 13, 55 und Markus 15, 40. In dem letztgenannten Text wird unter den Frauen die von weitem der Kreuzigung zuschauten, eine Frau erwähnt, die ebenfalls den Namen Maria trägt, die Mutter des Jakobus des Jüngeren und des Josef, die im ersten Text unter den »Brüdern Jesu genannt werden. In unseren Erläuterungen zum Neuen Testament ist dieser Vergleich verzeichnet, er ist aber der Behauptung des Verfassers unbequem, deswegen erwähnt er ihn auch nicht und begnügt sich nur mit der erstgenannten Textstelle. Statt einer sachlichen und geschichtlichen Analyse bringt der Verfasser dauernd seine eigene Logik: »Es ist sinnvoll«, »es ist nicht sinnvoll«, »es wäre geringfügig«, »welchen Sinn würde es haben« und ähnlich.

11.        Der Verfasser glaubt, daß es »für alle selbstverständlich« sei, »daß der Begriff >Erstgeborener< nur in dem Fall sinnvoll ist, wenn nach dem ersten Kind noch weitere geboren werden«. Spricht der Verfasser nicht zu sicher im Namen »aller«? Vielleicht ist er der Ansicht, daß alle Leser dieses Journals überhaupt keine Ahnung von der religiösen und rechtlichen Bedeutung des Erstgeborenen beim Volk der Israeliten haben? Alle Erstgeborenen männlichen Geschlechts mußten der Ehre Gottes geopfert werden (Exod, 13, 2), der Erstgeborene ist der Erbe und der Richter des ganzen Geschlechts und das Oberhaupt der Familie nach dem Tode des Vaters. Auch Jesus war nicht im »übertragenen Sinne« der Erstgeborene, sondern im wahren Sinne des Wortes (er war doch nicht der Zweite.. ., nicht der Fünfte oder sogar der Neunte . . .). Wenn jemandem die rechtlichen Bestimmungen der Israeliten nicht genügen, dann wollen wir uns an eine Tatsache erinnern: 1930 wurde im Nahen Osten eine Inschrift auf einem Grabmal aus der Zeit Christi gefunden, wo eine Mutter geehrt wird, die bei der Geburt eines Erstgeborenen, also eines einzigen Sonnes, gestorben ist.

Es ist ein unvorsichtiger Vorwurf, wir hätten in der Ubersetzung von Mattäus 1, 25 das Wort »Erstgeborener« ausgelassen. Es genügt ein Blick in die kritische Ausgabe des Neuen Testamentes in der griechischen Sprache, damit wir erfahren können, daß dieses Wort in den Urschriften des Evangeliums von Mattäus nicht zu finden ist (vergl. The Greek New Testament Edited by Kurt Alland etc. UBS 3 1975). Warum erwähnt der Verfasser nicht, daß wir dieses Wort bei Lukas 2, 6 ruhigen Herzens gelassen haben?

12.        Der Verfasser sucht nicht nur einseitig seine Zitate aus — die einen erwähnt er, die anderen wieder nicht, obwohl sie dieselbe Frage betreffen — sondern er zitiert sie auch willkürlich. Nehmen wir beispielsweise die Episode aus der Kindheit Jesu. Nach den Osterfeiertagen bleibt der zwölfjährige Jesus im Tempel von Jerusalem. Als Ihm Seine Mutter, die Ihn am dritten Tag dort gefunden hat, Vorwürfe macht, antwortet er: »Warum habt ihr mich gesucht? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meinem Vater gehört?« (Lk. 2, 49). Der Verfasser greift nur nach dem ersten Teil der Antwort Jesu — »Warum habt ihr mich-gesucht?« — in der Meinung, daß sich diese Stelle besser eignet, um seine These über den ungehorsamen Buben, der nicht weiß, wo er hingehört, zu bekräftigen, läßt aber den zweiten Teil aus, der zeigt, daß er nicht aus kindlichem Eigenwillen handelt. Gerade aus dem zweiten Teil kann man ersehen, daß sich der zwölfjährige Jesus schon dessen bewußt ist, daß er auf Erden keinen Vater hat, daß er Sohn Gottes ist und daß er in dem sein muß, was seines himmlischen Vaters ist! Nur einen Vers später werden kurz die weiteren Beziehungen Jesu zu seiner Mutter und dem hl. Josef geschildert: »Dann kehrte er mit ihnen nach Nazareth zurück und war ihnen gehorsam« (Lk. 2, 51). Nachdem der Verfasser lang und breit die Begebenheit im Tempel zitiert hat, hält er es nicht für nötig, das Thema auch wirklich erschöpfend darzustellen, und die Redaktion hat das von ihm auch nicht verlangt.

13. Das von Jesus vorgetragene Gleichnis von dem gehorsamen und unge­horsamen Sohn (Mat. 21, 28 — 31) zeigt, daß die Kinder sich zu ihrem Vater mit dem Wort »Herr« in der Öffentlichkeit wenden. Die Ausdrucks­weise »Was willst du von mir« wurde sehr oft verwendet und hatte viele Bedeutungen. Die wahre Bedeutung wurde erst aus dem Textzusammenhang oder aus der Akzentuierung klar. Genauso ehrerbietig ist auch die Anrede der Mutter mit »Frau«. Die Mutter hat die Worte Jesu »Was willst du von mir, Frau« als wohlwollend verstanden, denn sie sagte gleich zu den Dienern: »Was er euch sagt, das tut!« (Joh. 2, 5).

Auch die Anrede Jesu an seine Mutter, die unter dem Kreuz stand: »Frau, siehe dein Sohn!« und zu seinem Lieblingsschüler Johannes: »Sohn, siehe deine Mutter« (Joh. 19, 26 — 27) waren nicht eine Unanständigkeit, sondern feierlich. Diese Worte zeigen zwei wichtige Sachen: 1. Jesus vergißt auch im Leiden und im Sterben seine Mutter nicht, er läßt sie nicht in Obhut seiner Verwandten zurück, sondern er bestimmt wie in einem Testament für sie einen liebenden Beschützer; 2. diese testamentarische Verfügung bestätigt ganz klar die Tatsache, daß Maria, außer Jesus, keine Kinder mehr gehabt hat, weil dieser bei seinem Tode für sie einen Beschützer besorgen muß.

Die Folgerung daraus ist traurig.

1.     Der Verfasser kennt das Neue Testament in griechischer Sprache nicht, das er als Grundlage zu nehmen versucht. Er hat sich keinerlei Klarheit über die Situation und die Gesetze der alten Israeliten verschafft, und auch nicht über viele Begriffe der katholischen Theologie. Seine Logik und die wissen­schaftlichen Gewissenhaftigkeit hinken sehr stark.

2.     Das populärste Journal Sowjetlitauens, besonders beliebt wegen der Mode, der Beratungen für das Haus, die Landwirtschaft und die Beziehungen der Familie, herausgegeben in zwei Sprachen, mit einer Auflage von mehr als einer halben Million, das also beinahe jede litauisch oder polnisch sprechende Familie erreicht, scheint seine Leser sehr zu mißachten (der größte Teil von ihnen sind Gläubige), weil es ein Schriftstück in verletzendem, verspottendem Ton bedruckt, das so schwach geschrieben ist, daß man sich schämen sollte. Es ist aber noch wahr, daß die Leser, besonderns die Gebildeten noch soviel Abwehrkraft gegen die antireligiöse Propaganda besitzen und einfach solche antireligiösen (besonders von diesem Verfasser geschriebenen) Artikel nicht lesen, weil sie nicht annehmen können, darin eine objektive Information zu finden. Nur in den weniger gebildeten Schichten gibt es noch Menschen, die sich noch nicht abgewöhnt haben, jedem beliebigen gedruckten Wort zu glau­ben. Durch die Veröffentlichung eines solchen oberflächlich zusammenge­bastelten Artikels hat die Redaktion gezeigt, daß sieihre Leser für ungebildet und unkritisch hält.

Vielleicht sollten die Gläubigen sich sogar darüber freuen, daß ihre Uber zeugungen so unqualifiziert angegriffen werden. Die Gläubigen aber und die Kirche sind der Kultur des Volkes gegenüber nicht gleichgültig und hoffen mit Recht, daß der Kampf der Weltanschauungen (wenn er nicht mehr ver­meidbar ist) ehrenvoll, also in einer kultivierten Weise ausgetragen wird.

Man kann nur bedauern, daß ausgerechnet eine Frauenzeitschrift damit an­fängt, Maria, das leuchtende Ideal als Frau und Mutter, zu entehren und daß Menschen mit so zweifelhaften ethischen Eigenschaften, wie sie der Verfasser des besprochenen Artikels hat, die Erziehung des zukünftigen Lehrpersonals in Litauen übertragen wird.

Priester Česlovas Kavaliauskas Übersetzer des Neuen Testamentes

Priester Vaclovas Aliulis

Redakteur der Ubersetzung des Neuen Testamentes

Molėtų Joniškis — Vilnius, am 30. April 1986.