Priester Jonas Matulionis schreibt:

»Heute ist unser Feiertag: St. Kasimir. Ich bitte ihn um seinen Schutz und seine Fürsprache für alle. (...) Jede Stelle, jede Ecke, in der wir leben, ist ein Geschenk Gottes. Die dauernden Durchsuchungen, ungerechten An­sprüche, gedingten Spitzel und Gewalttäter, die mit ihren unbegreiflichen Erniedrigungen freilich nur soweit gehen können, soweit es ihnen erlaubt ist — immer ist der Herr mit uns. Ich bekomme Zeitschriften und Journale. Die öffentliche Rüge eines Vorstehers stört meine seelische Ruhe nicht. Ihnen gefallen gerade jene nicht, die mehr wissen, die gebildet, also geistig stärker sind, die Lesenden und Denkenden. Am 24. Februar hat mich der Leutnant der operativen Abteilung vorgeladen und mir gesagt, daß sie einen Brief vernichtet hätten, in dem 4 abfotografierte Fotografien oder Litho­grafien gewesen seien. Auf ihrer Rückseite sei ein litauischer Text gestanden. Wir haben uns eine gute halbe Stunde unterhalten, und schließlich gab er doch zu, daß er mir die Fotografien und die Adresse des Absenders hätte zeigen können.

Grüßen Sie die Heimgekehrten. Ob ich früher zurückkommen werde, das weiß nur Gott allein. Nur bei dem gerechten und barmherzigen Herrn bitte ich um Gnade, aber nicht bei ungerechten, falschen Menschen. (...) Gnade und Segen der Hl. Hostie für alle.«

Im März 1987

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Aus einem Brief des Priesters Sigitas Tamkevicius:

»Siehe, das erwartete Neujahr ist da. Möge Gott helfen, daß dieses Jahr sowohl in Ihrem Leben, wie auch im Leben aller Menschen, die mir lieb und teuer sind, sehr sinnvoll und schön werde. Sie wissen, daß es im Herzen eines Gefangenen immer viele verschiedene Wünsche gibt, aber wahrschein­lich ist der allergrößte Wunsch der, daß all jene, mit denen ihn die Vor­sehung auf dem Lebensweg zusammengeführt hat, in der Gnade und in der Liebe so wachsen wie das Kindlein von Bethlehem gewachsen ist. Auch dieses Jahr rollt der Zug meines Lebens auf denselben Schienen — monoton und grau. Aber das gibt es auch in der Freiheit. Unsere Pflicht ist es, die Fenster und die Türen unseres Herzens zu öffnen und Den hereinzulassen, in Dessen Anwesenheit alles nicht mehr alltäglich ist, sondern heilig. Wie kostbar ist diese Unterrichtsstunde von Bethlehem — graue Tage erleuchtet ein göttliches Licht, wenn man in dieser Alltäglichkeit nur Den nicht aus den Augen verliert, Der sich selbst »das Licht der Welt« genannt hat, wenn man sich mit Ihm hinlegt und aufsteht, wenn man nur mit Ihm arbeitet und leidet. Auch mir kommen manchmal Gedanken wie: Herr, wie lang sind die Jahre! Und wie viele sind es noch! Wie langweilig ist das Graue geworden, wie zuwider ist einem alles bis zum lebendigen Knochenmark. Wann wird das alles zu Ende sein? Kaum aber sind diese Gedanken aufge­stiegen, da redet auch jemand schon im Herzen zu dir und erinnert dich daran: Du darfst nicht jammern, du mußt immer stark sein, denn du hast vom Herrn sehr viel bekommen, weil dich, wie damals den Apostel Petrus, das Gebet der Kirche begleitet. (...)

Ich bitte in meinem Gebet den Herrn um Seinen Segen für jene, die die Christliche Liebe verwirklichen .. . auch in Gedanken an die Gefangenen.«

Am 7. Januar 1987 Povilas Pečeliūnas schreibt:

» ... In meinem früheren Brief habe ich geschrieben, warum mir schon seit meinen Jugendjahren >Brand< von Ibsen gefallen hat. Das Resümee sieht wie folgt aus: Mir hat es deswegen gefallen, weil die Gedanken aus >Brand< schon in meinem Herzen gewesen sind, nur sind sie dort klarer und mit­reißender formuliert; deswegen wäre es falsch, mich als Nachahmer von >Brand< zu betrachten. Es ist doch angenehm, wenn man in einem Werk Gedanken findet, die auch in deinem Herzen schon gewachsen sind. Soviel also als Zusatz zu >Brand<.

. . . Es stimmt, Danutė ist schwer zu Hause anzutreffen. Sie arbeitet und opfert schon seit drei Jahren ihre übrige Zeit meiner alten Mutter, die wegen ihrer Krankheit das Bett nicht mehr verlassen kann, die nur der unendlich große Wunsch, mich noch einmal zu sehen, noch am Leben hält.

...Sie schreiben, Sie »haben Hoffnung!« Einem solchen, wie ich es bin, gibt die Realität nicht den geringsten Grund für eine »Hoffnung«. Alle Illu­sionen führen nur zu einer absurden »Philosophie«..., die Sie mit einem Aphorismus beschrieben haben: »Der Bock ist gesättigt, und der Kohlkopf unversehrt.« Ich kenne die Philosophie und die Geschichte nicht schlecht, aber von so einem Fall habe ich noch nicht gehört. Ich habe über die sonder­barsten Wunder im Buch »Visu metų šventųjų gyvenimai« — »Das Leben der Heiligen des ganzen Jahres« gelesen. Leider habe ich auch dort nichts Ähnliches gefunden. Höchstens, daß der »Bock« zu der Zeit dank eines »Wunders« sich »satt« gefühlt hatte. Was hätte aber in diesem Falle der Kohlkopf für einen Sinn? Es fehlt doch dann der Zusammenhang. Und wenn auch der geringste Zusammenhang zwischen dem »Bock« und dem »Kohl­kopf« noch besteht, dann wird der Kohlkopf immer aufgefressen.

Oder ist das vielleicht die »allerneueste Philosophie«, die noch niemand ver­öffentlicht hat? Wenn es so ist, warum hat man mich dann nicht auf den »Philosophen« hingewiesen?

Nun, es ist genug davon. Das Thema ist derart nichtig, daß es schade um das Papier und die Zeit ist.

Bei uns wird es noch lange Winter bleiben, bei Euch aber wird wahrschein­lich schon ein Hauch von Frühling zu vernehmen sein. Ostern ist auch nicht mehr hinter den Bergen, am 19. April ist es schon soweit...

Schimpfen Sie mich nicht in Ihrem Herzen, wenn ich irgendwas grob ge­schrieben haben sollte. Wie Sie sehen, kann ich nicht sanft sein, wenn man jeden Tag dem beißenden Wind des Eismeeres begegnen muß .. .«

 

Igrim, am 4. März 1987

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An das Präsidium des Obersten Rates der SSR Litauen Brief

des Gintautas Iešmantas, wohnhaft im Rayon Wuktilo, Ort Potscharje

Mit Sicherheit haben Sie schon erfahren, daß ich mich geweigert habe, eine Erklärung zu schreiben, um darin eine Erlassung der weiteren Verbüßung meiner Strafe zu bitten. Meiner Überzeugung nach widerspricht die Auffor­derung zu einer Erklärung, in der man sich verpflichten muß, bestimmte Bedingungen zu erfüllen, wenn man in die Heimat zurückkehren will, den Prinzipien der Wahrheit und Gerechtigkeit und ist mit dem Geiste der Er­neuerung unvereinbar. Warum? Gab es nicht schon andere, die mit einem solchen Angebot einverstanden waren? Ob der Fall so oder so liegt, das ist unwichtig. Es gibt höhere Dinge.

Heutzutage wird ausdrücklich gewünscht, daß man die Wahrheit sagt, die Dinge beim Namen nennt und mutig die Mängel aufzeigt. Es heißt auch, daß es niemals genug Wahrheit geben kann. Davon war die Rede auf den Tribünen der 27. Vollversammlung wie auch des Plenums im Januar; Ge­danken über die neue Sicht der Wirklichkeit und Politik wurden auch in den Berichten und Reden führender Persönlichkeiten vorgetragen und sind auch jetzt noch zu hören.

Wenn wir annehmen, man könnte die bisher gültigen Anschauungen ab­schütteln, so müßte jeder gerechte und ehrliche Mensch erkennen können, daß ich genau deswegen angeklagt worden bin, weil ich mich von den bereits genannten Prinzipien leiten ließ, die jetzt von den Rednertribünen aus gepriesen werden; daß ich deswegen verurteilt worden bin, weil ich der Stimme der Wahrheit und meines Gewissens gefolgt bin, die mir nicht erlaubt haben, zu schweigen.

Gestützt auf die Dialektik habe ich die Realität kompromißlos analysiert, wie dies in dichterischen Werken eben geschieht; ich habe die in der Gesell­schaft um sich greifenden Übel mit Entschlossenheit verurteilt und die Miß­stände zur Sprache gebracht, von denen heute öffentlich und laut gesprochen wird. .. und das alles nicht am Sozialismus, an der Demokratie vorbei, wie man so sagt, sondern gerade so, daß es mehr Sozialismus und Demo­kratie geben kann. Der Gang der Entwicklung hat gezeigt, daß die in meinen Arbeiten (»Rubikonas« —»Rubikon«, »Tiesos liudijimas« — »Das Zeug­nis der Wahrheit«, »Laisvės paradoksas« — »Widersinn der Freiheit« u. a.) und auch in meinen poetischen Werken niedergelegten Erkenntnisse richtig waren und sind. Nehmen wir beispielsweise den in der »Tiesa« — »Die Wahrheit« abgedruckten Artikel von V. Lazutka »Visuomenės mokslai: be kritikos nėra kūrybos« — »Gesellschaftswissenschaft: Ohne Kritik gibt es keine Schöpfung (vom 11. 2. 1987). Darin werden Schlüsse gezogen und Gedanken formuliert, die ich schon vor 9 und 10 Jahren herausgestellt habe, nachdem ich sie lange und qualvoll im Herzen erwogen hatte. Ein Unterschied besteht darin, daß sich V. Lazutka in seinem Artikel auf eine Welt der Abstraktionen stützt, sich hinter den Begriffen versteckt und die Fragen abstrakt stellt, ich aber habe die Wirklichkeit analysiert und Kritik daran geübt, mich also auf konkrete Fakten, auf die Praxis gestützt. Auch meine Schlüsse daraus waren praktisch, konkret und klar, weil ich das We­sentliche, den wahren Gehalt der Dinge darlegte. Mit anderen Worten, für mich war die Dialektik keine schwerfällige Lehre, die bezahlte Professoren von ihrem Pult herunter verkünden und die nur die gegenwärtige Lage bestätigen soll, sondern ein revolutionäres, für alle Zeiten lebendiges Instru­ment der Wahrheit, ein Führer im Kampf für das Neue, der es nicht erlaubt, sich auszuruhen oder etwas Unwahres oder Ungerechtes zu rechtfertigen. Es ist richtig, daß diese Gedanken und Ideen, die ich geäußert habe, heute noch nicht alle in die Tat umgesetzt werden; über manche wird oft noch undeutlich, nur halblaut oder gar überhaupt nicht gesprochen. Aber bei dieser Reform sind ja erst die ersten Schritte gemacht worden. Wo sind also meine Vergehen? Die Wahrheit zu schreiben? Mängel und Fehler scharf und kompromißlos herauszuheben? Das eben muß doch geschehen!

Und noch etwas: Es sind Fabeleien über mich verbreitet worden, wonach ich angeblich ein »bürgerlicher Nationalist« sei und davon gesprochen hätte, daß sich Litauen von der Sowjetunion trennen solle. Aber sowohl vor Gericht wie auch sonst überall wurde verschwiegen, daß ich mich auf das von der Verfassung gewährte Recht gestützt habe, daß jede Unionsrepublik frei aus der Sowjetunion austreten dürfe. Im Gegenteil — ich wurde des­wegen verurteilt, weil ich geglaubt habe, daß ein solches Recht nicht nur auf dem Papier wie eine Mache oder ein Betrug existiert, sondern daß es möglich sei, es auch in der Wirklichkeit zu realisieren, und zwar zu realisie­ren nicht etwa mit dem Bestreben, eine mythologische Vergangenheit wieder zu beleben, sondern fortschrittliche auf den Grundlagen des Sozialismus. Nicht ich habe also die Verfassung verletzt, sondern jene, die mich verhaftet, angeklagt und verurteilt haben. In meinem angeblichen Nationalismus gibt es mehr Internationalismus als in den Worten und Taten derer, die sich rühmen, keine Nationalisten zu sein, die in Wirklichkeit aber nur die Lüge und Heuchelei bestärken. Internationalismus ist kein bedingungsloses Sich­verbeugen vor jeder unbefugten Macht und keine blinde Erfüllung ihres Willens, sondern die kompromißlose Sorge um die Sache des eigenen Volkes, ohne jedoch die Interessen anderer Völker zu verletzen. Jawohl, ich fürchte mich nicht, das zu unterstreichen: Ich war und bin dafür, daß Litauen als selbständiger sozialistischer Staat aus dem Verband der Sowjetunion aus­tritt. Das ist ein heiliges und auch mit heuchlerischen Ausflüchten nicht bestreitbares Recht eines jeden litauischen Bürgers.

Ich bin davon überzeugt, daß sich dies im Hinblick auf die internationale und innere Situation des Landes nur günstig auswirken würde und so ein Schritt sowohl dem Sozialismus als auch den Interessen des Friedens und einer wahren Völkerfreundschaft dienen würde. Wer wegen meines Be­mühens, den ewigen Traum des litauischen Volkes zu verwirklichen, auf mich mit Steinen wirft, der wendet sich sowohl gegen das eine wie gegen das andere.

Manche werden mir vorwerfen, ich hätte einen ungeeigneten Weg gewählt, um meine Gedanken zu äußern. Versuchen Sie aber offen und gerecht zu sein, wie das der Reformgeist von uns verlangt: War ein anderer Weg über­haupt möglich? Nach der Plenumssitzung vom Januar ist heute allen end­gültig klar, daß man das, was ich gesagt habe, auf andere Weise nicht sagen konnte. Es herrschte Unduldsamkeit gegen alle nichtkanonisierten An­schauungen und Gedanken; sie wurden als Anschlag auf den Sozialismus betrachtet, und wenn man die Übel auf politischem und ideologischem Ge­biet hervorhob, so galt dies als Lüge, Verleumdung und bestenfalls als An-schwärzung. In einer Atmosphäre stereotypen Denkens erschien jede nicht standardisierte Beurteilung von vornherein als zweifelhaft und verdächtig.

Außerdem gab es damals nicht nur keine Tribüne, sondern auch sonst keine Möglichkeit, Gedanken zu äußern, die der gegenwärtigen Lage widerspre­chen. Es gibt sie auch jetzt noch nicht. Es ist doch kein Zufall, daß man spürt, daß ein kritisches, d. h. ein selbständiges Denken fehlt. Man weiß doch seit langem, daß man ohne ein solches Denken, ohne Auseinander­setzung mit alternativen, oppositionellen Meinungen keinen Schritt voran­kommt. Früher oder später führt dies zu einer Erstarrung und zu einem allmählichen Mißbrauch der Regierung. Gerade deswegen wird heute die Frage der Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens mit ganzer Schärfe herausgehoben. Und sie wird nicht grundlos herausgehoben, sondern des­wegen, daß man die Wahrheit über unsere Zeit, unser Leben, unsere Welt sagen kann, um sich so aktiv an den Anstrengungen um das Neue und Fort­schrittliche zu beurteilen. Wollte ich denn nicht dasselbe?

Im Herbst 1985 kam der KGB-Beamte Urbonas in das Lager, in dem ich gefangengehalten wurde. Er wagte es, mir zu sagen: »Ja, Sie haben in vielen Fällen recht; Ihre Ideen und Gedanken werden möglicherweise realisiert, aber Sie hätten sie nicht vorzeitig herauslassen dürfen; Sie hätten warten sollen, denn es wird auch ohne Sie geschehen.« So geht man an die Sache heran! So sieht die Moral aus! Du siehst die Mängel, siehst, daß Fehler gemacht werden und daß man in die Irre geht, hast aber zu schweigen und nicht den Kopf in die Höhe zu strecken; es soll so bleiben, wie es ist, bis von oben Schritte unternommen und Anweisungen gegeben werden.

Hat nicht M. Gorbatschow in einer seiner letzten Reden eine solche Einstel­lung als schädlich und amoralisch verurteilt? Ich würde das eine verbreche­rische Einstellung nennen. Leute, die dies aktiv praktizieren, die solche »bürgerlichen« Anschauungen propagieren, entscheiden über Schicksale und »legen fest«, was richtig und falsch, was gut und was schlecht ist. Mit anderen Worten, sie maßen sich das Entscheidungsrecht der höchsten Instanz an, das nur sie über die Wahrheit besitzen. Sie lassen sich, wie E. Mieželaitis sagt, durch die gegenwärtigen — d.h. jetzt verurteilten, aber noch nicht be­seitigten — Gegebenheiten Stempel aufdrücken und bekommen für ihre eifrigen Bemühungen Auszeichnungen; weil sie noch nicht gebraucht werden, werden sie gehegt und gepflegt. Welche Moral verwirklicht man auf diese Weise? Eine Moral des Mitläufertums, des Konformismus, die sich nicht auf das Gewissen und die Wahrheit stützt, sondern auf sie verurteilende Postulate. Wieso sollen dann nicht auch Literatur, Kritik und Philosophie in einer solchen Atmosphäre nicht der Politik nachhinken, indem sie die dargebotenen Behauptungen nur erörtern und illustrieren, statt sie selb­ständig auszusondieren und die Wege für die Zukunft zu erforschen? Natür­lich könnte ich es auch so machen wie viele andere und brauchte mir meinen Kopf nicht mit gefährlichen Fragen zu zerbrechen; ich könnte auch meine Augen verschließen vor dem, was man ohnehin nicht sehen will und sehen kann (es gibt auch solche), solange man nicht von oben darauf hingewiesen wird. Ich konnte aber nicht so leben und wollte es auch nicht. Ich freue mich darüber und bin glücklich, daß es mir gelungen ist, die Schranke der Angst und Anpassung zu überwinden, um einen, wie man heute gern sagt, nicht standardisierten Weg zu finden.

Ich habe auch vor dem Gericht darüber gesprochen, wo ich begründet und motiviert die schablonenmäßigen Anschuldigungen und Schlüsse verworfen habe, die bewußt die Wahrheit und das Wesentliche verdrehen. Das war ein beschämender Prozeß für jene, die ihn vorbereitet und durchgeführt haben. Er hat sie selber demaskiert und ihren Konservativismus, der jeden Fortschritt hemmt, geoffenbart. Die Ankläger stießen auf eine unerschütter­liche Entschlossenheit und eine starke Überzeugungskraft und beeilten sich in einem Anfall kraftlosen Zornes die anfangs vorgeschriebenen Strafzeiten bis zur erlaubten Grenze zu verlängern. Ihnen war weder die Wahrheit mehr wichtig noch die Gerechtigkeit.

Über welche Wahrheit oder Gerechtigkeit soll man aber reden können, wenn der Kern der Anklage Überzeugungen oder gar nur Meinungen waren, die sich mit den damals gültigen Normen nicht vereinbaren ließen? Nicht zufällig gereichte dieser Prozeß zu einem bürgerlichen, moralischen und geistigen Sieg der Angeklagten. Und was soll man über das Vorgehen bei den Voruntersuchungen sagen? Hier ein vielsagendes Beispiel:

Während der Voruntersuchung wurde mir eine zusammenfabrizierte An­schuldigung vorgelegt, wonach ich angeblich den Ersten Sekretär des ZK der KPL durch eine Morddrohung genötigt hätte. Die Untersuchungs­beamten zogen viele Texte und Aussagen zu Hilfe, die nicht von mir stamm­ten; sie besorgten sich sogar eine graphologische Expertise, obwohl auch schon für einen Laien ihre Tendenziösität offensichtlich war. Zum Glück gab es noch andere vom KGB unabhängige Experten, die genügend Mut besaßen, um gegen die Schlußfolgerungen der KGB-»Spezialisten« anzu­treten. Damit nicht zufrieden, wandte sich das KGB an die dritten Experten, diesmal in Moskau. Die oberste Instanz wies endgültig die Fehlerhaftigkeit der ersten Expertise nach.

Hat sich daraufhin das Gericht, die Staatsanwaltschaft oder irgendeine andere Instanz dafür interessiert, warum die Untersuchungsbeamten bewußt eine solche Expertise vorgelegt haben, wie sie zustande gekommen ist, und was sie und die Anklage selber für einen Zweck verfolgte? Ich stelle diese Frage nicht einfach nur, um zu zeigen, was mir widerfahren ist, sondern als Im­puls zum Nachdenken darüber, wohin solche Versuche bei der Vernehmung führen, wenn man »gewichtigere Anschuldigungen« vorlegen möchte. Mit gutem Grund wurde darüber gesprochen in dem Artikel »Prawda v glaze« — »Direkt in die Augen schauen«, der in der »Literaturnaja gazeta« (17. 12. 1986) abgedruckt war. Darin wird erklärt, daß es »unsere Sache« sei, eine Anschuldigung vorzubereiten, — »dich zu verteidigen, ist deine Angelegen­heit. Wenn du dich herauswinden kannst, ist es gut, ersäufst du dabei, ist es noch besser. Da können wir nichts dafür, wir waschen unsere Hände wie Pontius Pilatus, und die Sache ist für uns erledigt.« Es sieht also ganz so aus, als ob der Verfasser sagen wollte: »Die Rettung der Schiffbrüchigen ist eine Angelegenheit der Schiffbrüchigen selbst.« Dies gilt in verstärktem Maße bei politischen Prozessen, wo man vor der Gerichtsverhandlung den Rechtsanwalt nicht in Anspruch nehmen darf, obwohl er ohnehin kaum eine Rolle spielt.

Der Reformgeist verlangt von uns, die Vergangenheit mit wachem Auge zu betrachten, durch die unsere Gesellschaft auf verschiedenen Gebieten in eine Erstarrung geraten ist. Man muß endlich auch die ganze Wahrheit über die Auswirkungen des Personenkultes auf Litauen sagen. Alle Tabus, die bis jetzt auf diesem Gebiet die Gedanken in Ketten gelegt haben, müssen endgültig fallen. Deswegen will und muß ich die Aufmerksamkeit auf die mit meiner Person verbundenen Ereignisse im Herbst 1974 lenken.

Damals haben die KGB-Organe aus einem selbst erfundenen Grund in meiner Wohnung eine Durchsuchung gemacht. Die Anzeige, wonach ich angeblich ein 15 Strophen langes Gedicht über R. Kalantas geschrieben und bei meinen Reisen als Journalist in Litauen verbreitet hätte, hat sich selbst­verständlich nicht bestätigt. Aber das hat die Mitarbeiter des KGB auch gar nicht interessiert; ihr Ziel war es, meine dichterischen Schöpfungen mitzu­nehmen, die sie als »antisowjetische Gedichte« deklarierten — so ist dies damals im Durchsuchungsprotokoll formuliert worden. Meine Dichtungen, die man mir weggenommen hat, wurden als Grund verwendet, mich aus der Partei auszustoßen, mir die Arbeit zu nehmen und mich aus dem Journa­listenverband hinauszuwerfen. All das geschah selbstverständlich aus »auto­ritären« und heuchlerischen Scheingründen. Kann man nicht jeden auf diese Weise mit Leichtigkeit fertig machen? In einem in der »Prawda« anfang dieses Jahres veröffentlichten Artikel wurde ein sehr ähnlicher Fall einer Durchsuchung und ihres Zweckes beschrieben.

Wie kann man denn mutig und entschlossen vorangehen, solange der Schat­ten drohender Verletzungen nicht beseitigt wird? Und das ist nicht das Einzige und auch nicht nur in meinem Fall geschehen.

Es ist leicht, eine Erklärung zu schreiben mit der Bitte um Entlassung und sich zu verpflichten, »in Zukunft gesetzwidrige Tätigkeiten zu unterlassen«, wie es in der Vorlage formuliert war. Das würde aber bedeuten, daß ich zugebe, irgendwann solche Tätigkeiten ausgeübt zu haben, was wiederum der Wahrheit nicht entsprechen würde. Das würde bedeuten, daß ich jene Ungerechtigkeiten akzeptiere, die mir und anderen Gefangenen zugefügt worden sind. Es würde bedeuten, daß ich mich mit der total falschen und bewußt verdrehten Interpretation meiner Überzeugungen und Ansichten einverstanden erkläre, die die Organe des KGB und das Gericht mir unter­stellen. Das würde bedeuten, daß ich alle im Lager erfahrenen Kränkungen, alle durchgestandenen physischen und psychischen Leiden und Verhöhnun­gen nur einfach mit einer Handbewegung abtue. Das würde bedeuten, es einfach hinzunehmen, daß meine Schöpfungen damals bei der Festnahme (die Sammlung »Lūkestys« — »Die Sehnsucht«, wie auch das von mir zusammengetragene Material für eine Arbeit über Entfremdung) und auch während der Voruntersuchungen (im Gefängnis des KGB habe ich 270 Gedichte und die Dichtung »Kelias« —»Der Weg« geschrieben, die alle in die Hände der Kläger geraten sind) weggenommen wurden.

Das würde auch bedeuten, den Demokratisierungsprozeß einfach mit der Hand abzuwinken, als ob er gar nicht meine Angelegenheit wäre. Im Ge­genteil! Nicht jene, die mich verfolgt, verurteilt und im Gefängnis gehalten haben, nicht jene, die mich von den Tribünen aus mit Flüchen bedachten, sind mit Herz und Verstand für die Demokratisierung. Heute selbstver­ständlich sind sie auch für die Erneuerung, aber aus den bekannten Grün­den. Der ganze Weg der Leiden und Erprobungen, wie ich und andere politische Gefangene ihn zurückgelegt haben, all meine geistigen Anstren­gungen, meine politisch-philosophischen Arbeiten, meine dichterischen Schöpfungen dagegen, gehören zu den unendlich vielen inneren und äußeren Gründen und Ermutigungen, die mich gedrängt und mir geholfen haben, für die Idee der Erneuerung reif zu werden, damit neue Winde wehen. Das sage ich ohne alle Nebengedanken.

Deswegen muß ich ohne vorhergehende Bedingungen und Verpflichtungen vorzeitig entlassen werden.

Ich bin mir bewußt, daß ich durch diesen Brief einen neuen Zornesausbruch derer auf mich zu ziehen riskiere, die auf ihre Herrschaft und Macht setzen. Aber mir ist mein persönliches Leben nicht wichtig. Wichtig ist mir die Zukunft der Wahrheit, wichtig ist mir das Morgen. Alles, was ich getan habe, habe ich aus dieser Sorge heraus getan und aus der Beunruhigung um das Morgen Litauens und des litauischen Volkes. Aus diesem Grund habe ich auch diesen sorgenvollen, aber auch glaubens- und hoffnungsvollen Brief geschrieben. Der Rubikon muß endgültig und ohne Rückkehr überschritten werden.

Am 19. Februar 1987

 

Auf diesen Brief von Gintautas Iešmantas antwortete der Staatsanwalt der LSSR:

»Die in Ihrem Brief dargelegten Ausführungen entsprechen nicht dem Pro­zeßmaterial und den Beweisen und bieten keinen juridischen Grund, Maß­nahmen zu ergreifen, um Sie von der weiteren Verbüßung der Strafe zu befreien, die Ihnen das Gericht am 22. Dezember 1980 zugesprochen hat.«