Kapsukas. Am 14. Januar 1988 wurde in der Abteilung für innere Angelegenheiten der Stadt Kapsukas ein Strafprozeß gegen den Hilfsarbei­ter der Kirche von Sasnava, Petras Gražulis, eröffnet. Petras Gražulis wird der vorsätzlichen Weigerung, eine militärische Ausbildung in der sowje­tischen Armee zu absolvieren, beschuldigt.

Die für den 26. Januar anberaumte Gerichtssitzung fand nicht statt, weil von drei Zeugen, die gegen Petras Gražulis aussagen sollten, zwei nicht erschienen waren. Die Gerichtsverhandlung wurde auf den 2. Februar ver­legt. Am 2. Februar wurden die Verwandten und einige Dutzend Freunde und Bekannte von P. Gražulis in den Gerichtssaal hineingelassen. Die rest­lichen Freunde von P. Gražulis mußten im Freien frieren. Sie wurden von der Miliz und vom KGB aufmerksam bewacht und von Zeit zu Zeit auf­gefordert, sich zu entfernen. Die Menschenmenge wurde dauernd von speziell zu diesem Zweck hierher gerufenen Mitarbeitern des litauischen Fernsehens gefilmt.

Die Gerichtsverhandlung begann um 10 Uhr. Der Vorsitzende Z. Pečiulis eröffnete sie mit der Befragung des Angeklagten:

„Ihr Name, Familienname, Name des Vaters?" „Petras Gražulis, Sohn des Antanas." „Ihre Nationalität?" „Litauer."

„Ihre Staatsangehörigkeit?" „Bürger Litauens." „Nicht Bürger der UdSSR?" „Nein."

„Parteizugehörigkeit ?"

„Ich bin Katholik."

„Sind Sie militärdienstpflichtig?"

„Ich betrachte mich nicht als ein der Sowjetarmee Dienstpflichtiger."

Petras Gražulis hat in einem offenen Brief an den Verteidigungsminister der UdSSR, Jasow, vom 11. Januar 1988 auf die Anschuldigung der „vorsätz­lichen" Verweigerung einer militärischen Ausbildung in der sowjetischen Armee geantwortet:

„Als ich meine Einberufung zur dreimonatigen Spezialausbildung vom Kommissar der Stadt Kapsukas am 5. Januar erhielt, begriff ich, daß Vorbe­reitungen zum 16. Februar im Gange sind. Veranlaßt wurden sie vom KGB, deswegen weigere ich mich, an dieser Ausbildung teilzunehmen. Ich wei­gere mich auch aus den unten angeführten Gründen:

1.        Die Gläubigen werden vom Staat verfolgt, die Priester Alfonsas Svarinskas, Sigitas Tamkevičius und andere werden gefangengehalten. Bischof Julijonas Steponavičius, der schon seit 26 Jahren ohne Gerichtsbeschluß nach Žagarė verbannt ist, wird nicht erlaubt, sein bischöfliches Amt auszuüben. Viele Kirchen sind den Gläubigen weggenommen und geschändet worden. Ein besonders großes Unrecht ist den Gläubigen zugefügt worden, indem man ihnen die Wiege des Christentums in Litauen - die Kathedrale von Vilnius - weggenommen und in eine Bildergalerie umgewandelt hat, wie auch dadurch, daß man die Kirche des einzigen Heiligen Litauens, des hl. Casimir, durch die Einrichtung eines atheistischen Museums in dieser Kirche entweiht hat.

Wie kann man noch verlangen, daß die Gläubigen die Interessen eines solchen Staates verteidigen sollen?

2.        Meine Forderungen, die ich in meiner Erklärung vom 23. November dargelegt hatte, bleiben nur Traumbilder und Illusionen. Man kann nicht hoffen, daß die Rechte der Gläubigen in der sowjetischen Armee respektiert werden. Es gibt Anlaß anzunehmen, daß man mich während der Ausbildungszeit fertigmachen könnte. Diese Annahme rufen die ungeklärten Todesfälle zweier Jugendlicher hervor, die in der sowjetischen Armee gedient haben und die sich besonders durch ihr nationales Bewußtsein, durch ihr lobenswertes und sittsames Benehmen und ihren tiefen Glauben von den anderen unterschieden haben. Das ist der Tod des Ricardas Gris-kaitis, Sohn des Romas, wohnhaft in Kybartai, Komjaunimo 36-54, ermor­det durch Aufhängen (beerdigt am 29. Oktober 1987 in Kybartai), wie auch der Tod des Antanas Svinkūnas, Sohn des Antanas, wohnhaft in Alytus, Dorf Daugirdai (beerdigt am 17. November 1987 in Kriokialaukis). Sie sol­len sich angeblich selber erhängt haben, aber die schweren Verletzungen an ihren Körpern und die Stichwunden erregen Zweifel daran. Außerdem ist ein Selbstmord mit der Moral eines Christen nicht zu vereinbaren. Irgend­eine unsichtbare Macht stand hinter den wahren Tätern. Die Leute reden offen, daß das eine Tat des KGB ist.

Die Gläubigen werden in der sowjetischen Armee verfolgt. Das bezeugt das Beispiel von Robertas Grigas, Sakristan der Kirche von Kiaukliai. Er ist öfters während seines Dienstes geschlagen worden, es wurde ihm mit dem Tode und Afghanistan gedroht, er wurde verspottet. Als er an Ruhr erkrankte, wurde er vier Tage lang im Karzer auf Betonboden gehalten, ohne ihm eine medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Er behauptet, daß es vom Sicherheitsdienst angeordnet worden sei, so mit ihm umzugehen.

Als ich selbst meine Militärdienstpflicht in den Jahren 1977 bis 1979 in Podolsk erfüllte, bin ich diskriminiert worden, man hat mir gedroht, mich zu erledigen, wenn ich meinen Glauben öffentlich bekennen würde. Als ich aus der Unteroffiziersschule verwiesen wurde, erklärte man mir, daß ein Gläubiger kein Unteroffizier werden dürfe. Aus diesem Grunde wurde ich nach Briansk ins Arbeitsbataillon 1270 VSO versetzt. Daß ich während meines Militärdienstes ständig vom KGB beobachtet wurde, habe ich von einem meiner Kameraden erfahren, der, wie er selbst berichtete, vom Sicherheitsdienst beauftragt wurde, mich zu beobachten. Man versuchte auch, mich umzubringen.

Der vom Sicherheitsdienst angeworbene Sergej Trusow, der in der Sanitäts­abteilung gedient hat, verplapperte sich mir gegenüber oft, wenn er nicht ganz nüchtern war, daß ich, wenn ich auch weiterhin an Gott glauben und weiter so Dienst leisten würde, nicht mehr nach Hause käme.

Die Verfolgung in Form von Verhören, Durchsuchungen und anderen Schi­kanen hörte auch dann nicht auf, als ich aus der Armee nach Hause zurückkam. Ich wurde beispielsweise vom Vorsteher der Ortsautoinspek­tion von Alytus, Brusokas, angehalten, weil ich angeblich einen Autounfall verursacht hätte. Das war eine Lüge, denn es gab weder ein beschädigtes Auto noch eine ,verletzte' Person.

Der hinterlistige Zweck einer Vorladung war, mich zu beschuldigen, daß ich beim Unterschriftensammeln für die Befreiung der Gefangenen in der Kirche in Alytus geflucht und die Gläubigen beim Beten gestört haben solle. Welch ein Unsinn, wo ich überhaupt niemals fluche, erst recht nicht in der Kirche. Es gab noch etwa 20 Personen, die Unterschriften gesam­melt haben und die es bezeugen könnten. Der Richter muß aber die Anweisungen des Sicherheitsdienstes befolgen, sonst würde er selbst dar­unter zu leiden haben, und deswegen verurteilte mich der Richter Sabickis zu 10 Tagen Arrest.

In Šakiai wurde ich ebenfalls angehalten. Das Motiv war angeblich der Ver­dacht, ich hätte an einem Garageneinbruch teilgenommen. Während des Verhörs verlor aber der Abteilungsleiter für Untersuchung von Kriminal­fällen, ein Major, über den Garageneinbruch kein einziges Wort. Weder bei der persönlichen Durchsuchung bei mir und meinem Freund, noch bei der Durchsuchung des Autos wurde ein Durchsuchungsbefehl vorgezeigt und die Durchsuchung wurde nicht protokolliert.

Während der Durchsuchung wurde nach Texten mit Unterschriften gesucht und während des Verhörs wurde uns eingeschärft, keine Unterschriften mehr zu sammeln, weil das ein Vergehen sei. Wie wir sehen, überall nur Tücke, Betrug, Lüge. Man wird aus einem Grund angehalten, aber wegen völlig anderer Sachen vernommen. Heimlichtun, mit fremden Händen arbeiten - das ist die Methode des KGB.

Im Jahre 1987 hatte ich die Gelegenheit, am Jahrestag des Todes von Prie­ster J. Zdebskis teilzunehmen. Nach dem Jahrestagsgottesdienst fuhr ich Bischof J. Steponavičius nach Žagarė. Als sich ein Teil der AutoSteuerung löste, kam es beinahe zu einem Unfall. Beim Versuch, den Fehler zu beheben, merkte ich, daß auch beim Gegenstück der Steuerung der Splint fehlte. Da der fehlende Splint und losgeschraubte Muttern die Ursache für die Lösung der Autosteuerung waren, konnte dies keinesfalls von selbst ge­kommen sein. Dies ist erst recht unwahrscheinlich, weil das Fahrverhalten des Wagens und die Bremsvorrichtung einige Tage vorher vom Autodienst in Alytus in meinem Beisein überprüft worden waren... Diesen Unfall wollten finstere, böse Kräfte vorbereiten, die Bischof J. Steponavičius und mich loswerden möchten.

Dies alles ist mit Menschlichkeit nicht vereinbar. Ein Mitglied der Armee eines solchen Systems, das nach Leben und Freiheit der Menschen und der Völker trachtet, kann ich nicht sein.

3. Eine weitere sehr wichtige Ursache meiner Weigerung, die ich in meiner Erklärung vom 23. November erwähnt habe, ist die Besetzung Litauens, die 1940 vollzogen wurde. Diesen schändlichen Molotow-Ribbentrop-Pakt zu verheimlichen, der in der ganzen Welt bekannt ist, ist unmöglich, und er wird ständig die Welt daran erinnern, auf welche Weise die Baltischen Staaten der sowjetischen Union beigetreten' sind, solange die Baltischen Staaten unterjocht bleiben.

Es steht also in Litauen eine Besatzungsarmee und es bestehen vom Besat­zer eingesetzte Regierungskräfte, Gerichte und andere Behörden, die durch ihre Amtsausübung nicht der Gerechtigkeit dienen, sondern den Willen des Besatzers erfüllen." (Der Text ist gekürzt worden - Bern. d. Red.)

Nach Abschluß der Verhandlung wurde dem Angeklagten P. Gražulis Gele­genheit gegeben, das Letzte Wort zu sagen. P. Gražulis sagte: „Was kann ich in meinem Letzten Wort sagen? Bald werde ich ihren Beschluß hören. Ich glaube nicht, daß er gerecht sein wird, weil das, aufgrund der jetzigen Gesetze, auf die man für alle Zeiten verzichten sollte, völlig unmöglich ist. Sie tun mir, als Christ, wirklich leid, denn Sie werden möglicherweise gezwungen, dies gegen den eigenen freien Willen und gegen Ihr Gewissen zu tun.

Ich erbitte nichts von Ihnen, vertraue nur Gott und überlasse mich den Gebeten."

P. Gražulis bedankte sich bei seinen Eltern für den Glauben, seinen Brüdern, Schwestern, Gästen, dem Senator der Vereinigten Staaten von Moynihan für ihre Gebete und ihren Beistand.

Nach einer einstündigen Pause wurde der Gerichtsbeschluß vorgelesen, nach dem P. Gražulis beschuldigt wird, ein Vergehen gemäß 1. Teil des §211 des StGB der LSSR begangen zu haben. Ihm wurde eine Strafe von 10 Monaten Freiheitsentzug zugesprochen. Nach der Verlesung des Gerichtsbeschlusses versuchte P. Gražulis, sich an die im Gerichtssaal ver­sammelten Feunde zu wenden mit der Aufforderung, das Gedenken des 16. Februar mit einem Fasten von 10 Tagen zu begehen, aber Beamte in Zivilkleidung sprangen auf ihn zu, drehten seine Hände nach hinten und hielten seinen Mund zu. Es wurden P. Gražulis einige Schläge ins Gesicht versetzt. Aus seiner Nase ergoß sich Blut. Sicherheitsbeamte packten ihn an Händen und Füßen und trugen ihn aus dem Saal. Später sagte P. Gražulis während eines Wiedersehens mit seinen Brüdern, den Priestern Antanas und Kazimieras, daß die Sicherheitsbeamten während des Gerangeis irgend­welche chemische Substanzen angewendet hätten, die ihm die Sprache genommen und das Bewußtsein beeinflußt hätten (die eine Gesichtshälfte und ein Auge waren noch einige Tage rötlich geblieben).

Nach dem Abschluß der Gerichtsverhandlung begannen Milizmänner mit Schäferhunden die auf der Straße versammelten Freunde von P. Gražulis zu „bewachen". Auch Feuerwehrautos standen in der Nähe alarmbereit. Ein Sicherheitsbeamter in Zivilkleidung gab den Milizmännern Anweisun­gen, wer aus der wartenden Menschenmenge festgenommen werden soll. So wurden folgende aktivere Teilnehmer der Katholischen Bewegung fest­genommen: A. Bumbulis, Organist von Gargždai (später mit einer Strafe von 20 Rubel belegt). Die Haushälterin des Pfarrhauses von Sasnava, Bronė Valaitytė, der Sakristan der Pfarrei Gerdašiai, Gintas Sakavičius, der Bürger der Stadt Šiauliai, Vincas Danielius, der Bürger der Stadt Kapsukas, Matulaitis, wurden alle mit 15 Tagen Arrest bestraft. Antanas Dapkus, der aus Alytus zu diesem Prozeß gekommen war, wurde mit der Strafe von 10 Rubel bestraft.

Aus Protest gegen diese ungerechte Erledigung von P. Gražulis durch den KGB wurden nach der Gerichtsverhandlung Unterschriften unter eine Erklärung an den Generalsekretär des ZK der UdSSR, Gorbatschow, gesammelt. In der Erklärung schreibt man: „Wir sind erschüttert über die gerichtliche Erledigung des jungen Katholiken Petras Gražulis, die am 2.2.1988 vor dem Volksgericht in Kapsukas stattgefunden hat. P. Gražulis hat sich geweigert, zu einer militärischen Spezialausbildung zu gehen, mit der Begründung, daß sein christliches Gewissen ihm nicht erlaubt, in einer Armee zu dienen, die in Afghanistan unschuldiges Blut vergießt, die seine Heimat Litauen besetzt hat und die die atheistische Ideologie verteidigt, die Kirche aber verfolgt. Die von diesen Prinzipien diktierte Verweigerung sah das Gericht als „eine Verweigerung aus eigennützigen Gründen, ohne triftigen Anlaß, an militärischen Übungen teilzunehmen", an.

Die Gewissensüberzeugungen eines Menschen zu mißachten, erst recht einen Jugendlichen der Eigennützigkeit zu beschuldigen, der bereit ist, dafür ins Gefängnis zu gehen, ist inhuman und amoralisch. In anderen sozialistischen Staaten bietet man jenen Personen, die aus Gewissensgrün­den oder wegen ihrer religiösen Überzeugungen nicht beim Militär mit der Waffe in der Hand dienen können, alternative Dienstmöglichkeiten an. Wir fordern auch in der Sowjetunion eine solche Möglichkeit und verlangen, Petras Gražulis unverzüglich freizulassen."

Am 3.2.1988.

Es unterschrieben:

In Prienai - 909 in Kalvarija - 1072 in Simnas - 510 in Šakiai - 813 in Liudvinavas - 274 in Veiveriai - 91

in Daukšiai - 165 in Šiluva - 560 in Pilviškiai - 281 in Sasnava - 139 in Lazdijai - 919 in Skriaudžiai - 102

in Kapsukas - 2585 in Kriokialaukis - 344 in Kazlų Rūda - 201 in Alytus 2 - 3720 in Alytus 1 - 201 Personen