Briefe und Darlegungen

An das Zentralkomitee der Litauischen Kommunistischen Partei

Dieser Brief sollte keine Überraschung für Sie sein. Ich bin Schriftsteller, Übersetzer und Literaturforscher. Auf all diesen Gebieten habe ich mich voll eingesetzt und denke, daß ich meinem Volke und dem Vaterland auch einigen Nutzen gebracht und mir somit mein Brot redlich verdient habe. Meiner Ansicht nach ist es noch zu wenig gewesen. Ich hätte mehr erreichen können, aber es ist nicht meine Schuld. Mein Vater Antanas Venclova war ein überzeugter Kommunist. Ich habe ihn verehrt und verehre ihn auch heute als einen wertvollen Menschen. Die Treue zum Prinzip habe ich von ihm gelernt. Aber noch im jugendlichen Alter studierte ich den Verlauf die­ses Lebens und nahm auch daran zur Genüge teil. Dabei entwickelten sich meine Anschauungen entgegengesetzt zu denen meines Vaters. Die Richtig­keit meiner Entwicklung hat sich dann später bestätigt. Meinem Vater und anderen war dies kein Geheimnis. Ich bin weit entfernt von der kommuni­stischen Ideologie. Meiner Ansicht nach enthält diese in großen Teilen Feh­ler. Dieses absolute Herrschertum brachte unserem Vaterland nur Unglück. Die gesamte Gemeinschaft wird in die Stagnation geschoben und das Land selbst ist rückständig. Dieses System führt nicht nur zur Vernichtung der Kultur, langfristig kann es eine Gefahr für das Land selber sein, wenn sol­che Methoden angewandt werden. Leider kann ich hier nichts verändern, auch dann nicht, wenn ich diese Macht besäße, wie Sie sie haben. Jedoch bin ich verpflichtet, öffentlich meine Ansichten und Feststellungen kundzu­tun. Es ist wenigstens etwas. Lange habe ich mich mit diesen meinen An­schauungen zurückgehalten, sagte nichts, schrieb nichts und widersetzte mich auch nicht diesen Machenschaften. Die kommunistische Ideologie sehe ich sehr ernst und deshalb bin ich weder mechanisch, noch betrügerisch mit der Wiederholung dieser Formeln einverstanden, obwohl ich mir hiermit eine Diskriminierung erwirken kann, was ich in meinem Leben schon zur Ge­nüge verspürt habe.

In meinem Land sind mir die Möglichkeiten zu großen gemeinschaftlichen pädagogischen und kulturellen Werken entzogen worden. Jeder human denkende Mensch muß eine gewisse Loyalität für die herrschende Ideologie aufbringen, um seiner Arbeit nachgehen zu können. Karrieremachern fällt dies leicht. Denjenigen, die vom Marxismus überzeugt sind, fällt es auch nicht schwer. (Obwohl diese Prozedur schon erniedrigend und ekelerregend erscheint.) Für mich ist dieses alles undenkbar. Leider kann ich nicht in die Schublade schreiben, denn ich suche Kontakt mit dem Auditorium und werde ihn mit allen Mitteln zu erreichen versuchen. Ein anderes Interesse außer für literarische und kulturelle Werke könnte ich nicht aufbringen. Aber die Möglichkeit für eine kulturelle Tätigkeit wird für mich immer geringer und meine Existenz in diesem Land wird immer fragwürdiger. All dieses, was hier von mir niedergeschrieben ist, betrifft auch meine Frau, die ihren Beruf als Theaterregisseurin ausübt, d. h. im kulturellen Bereich. Angesichts der Deklaration für allgemeine Menschenrechte und der fest­gelegten Grundgesetze bitte ich für mich und meine Familie um Aus­reisegenehmigung aus der Sowjetunion in die freie Welt. Die meinem Freund Jonas Jurasas u. a. erteilten Genehmigungen zeigen, daß dies nicht unmöglich ist. Da meine Frau Jüdin ist, können wir nach Israel ausreisen. Diese Entscheidung ist endgültig. Weiterhin bitte ich, meine Familien­mitglieder, die andere Ansichten als ich vertreten und die in Litauen weiter­hin leben möchten, nicht zu diskriminieren.

11. Mai 1975                                                                        T.Venclova

Am 23. Dezember 1975 fanden in Vilnius, Kaunas und anderen litauischen Städten Hausdurchsuchungen statt. Unter anderem wurden beim lang­jährigen politischen Häftling Kestutis Jokubynas Hausdurchsuchungen durch­geführt. Eine gewisse Zeit danach reichte Kestutis Jokubynas ein Gesuch bei der Regierung ein und bat um Ausreisegenehmigung aus der Sowjetunion. Die Visabehörden nahmen seine Papiere nicht an, weil bei ihnen hier ein Vermerk eingetragen war (gemäß Paßstatuts). Das Innenministerium hat diese Absage bestätigt. Danach schrieb K. Jokubynas einen offenen Brief an die höchste Instanz der Regierungsorgane der Sowjetunion. Er schrieb an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets; innerhalb von zwei Monaten bekam er eine negative Antwort.

Um die Emigration wie K. Jokubynas bemühte sich ebenfalls der Univer­sitätsprofessor an der Sorbona, Schriftsteller A. Siniavskij. Nachstehend veröffentlichen wir das Schreiben K. Jokubynas an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets, N. V. Podgorny.

Kestutis Jokubynas, geb. 1930, ist wohnhaft in Vilnius in der V. Put-nosstraße Nr. 10, Wohngemeinschaft 125 K, und tätig als Leiter in der technisch-pädagogischen Bibliothek der Litauischen SSR.

Offener Brief

Als 17jähriger Gymnasiast hatte ich mich in den Nachkriegsjahren einer aufständischen Gruppe angeschlossen, die über ganz Litauen verstreut gegen die sowjetische Besatzungsmadit Widerstand ausübte. 1948 begann ich an der Universität in Vilnius zu studieren, kurz darauf wurde ich verhaftet wegen Herausgabe und Redaktionsarbeit an einigen Schreibmaschinenblät-tern einer Untergrundzeitung. (Es hieß: wegen der Teilnahme an anti­sowjetischer nationalistischer Organisation.) Mit Wirkung OSO wurde ich zu zehn Jahren Besserungsstraflager verurteilt. Man benachrichtigte bald dar­auf meine Eltern, daß sie lebenslänglich nach Sibirien ausgewiesen würden. Als Grund wurde angegeben, daß ein Sohn zu zehn Jahren Haft verurteilt sei und es unbekannt sei, wo der zweite Sohn sich aufhalte. (Mein Bruder ist 1944 nach Deutschland zur Zwangsarbeit abgeholt worden, später stellte sich aus Briefen heraus, daß er nach Kanada ausgewandert sei, wo er auch heute noch lebt.) Meine Eltern waren keine reichen Bauern, hielten sich immer abseits der Politik und lebten in Litauen fern von mir, nichts ahnend von meinem Handeln. Ohne Rücksicht hierauf, gab man ihnen nur zwei Stun­den Zeit zum Packen ihrer Sachen. Sie wurden in Viehwagen ins sibirische Gebiet Krasnojarsk abtransportiert. Mich selbst brachte man in den Norden, und zwar in das Städtchen Ibtos. Sieben Jahre verbrachte ich dort im Speziallager, dort reifte ich heran, wuchs auf, machte Bekanntschaft mit Leben und Tod. Laut Beschluß des Präsidiums des Obersten Sowjets wurde ich 1954 frühzeitig entlassen, weil ich z. Z. des Vergehens noch nicht voll­jährig war. Meinen Paß bekam ich mit einem Paß-Status. Auch heute noch wird dieser sogenannte Paß-Status bei Personen eingetragen, die als staats­feindlich gelten und für Vergehen gegen den Staat verurteilt wurden. Dieser Status verbietet den längeren Aufenthalt in Großstädten und erlaubt nicht, sich dort niederzulassen, außerdem bestimmt er weitere Einschränkungen. Aus dem Norden fuhr ich zu meinen Eltern nach Sibirien, wohin sie damals zwangsvertrieben waren. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in dem winzigen Ort in Sibirien waren nicht beneidenswert, besonders für mich als früheren politischen Sträfling. Es erwartet diese auch hier eine an­dauernde Überwachung. Die Bewegungsfreiheit ist gehemmt. Bei ange­spannter harter Arbeit mit laufenden Uberstunden, versuchte ich meine Existenz zu erhalten und wurde zu einem stillen und unscheinbaren Men­schen. Aber all dies bewahrte mich nicht vor den Argusaugen des KGB, bewahrte mich auch nicht vor Verdächtigungen und weiteren Formen der Diskriminierung. Immer öfter kam mir der Gedanke, daß es einem früheren Häftling unmöglich sei, sich von diesen Fesseln zu lösen. Als einzige Aus­weichmöglichkeit blieb, dieses Land zu verlassen. 1956 häuften sich dann die täglichen Unwahrheiten aufeinander, bis dann der KGB beschloß, mich als Spitzel anzuwerben. Des öfteren wurde ich diesbezüglich bedroht und immer wieder zu Gesprächen aufgefordert. Sie belangten mich mit provo­katorischen Beschuldigungen. Legal aus dem Lande auszureisen wäre damals unmöglich gewesen. Ja, sogar solche Gedanken zu hegen, war schon ein Vergehen. Nun wartete ich auf einen günstigen Augenblick, auf den Schiffs­verkehr auf dem Flusse Jenisej. Am 8. August 1957 beschloß ich, das Wag­nis zu riskieren und mich auf ein ausländisches Schiff zu schmuggeln. In der Nähe eines Ausländers (den ich an der Kleidung erkannte), es war der Mechaniker des griechischen Schiffes „Anoula", den ich ansprach und ihn um Hilfe bat, ging in einiger Entfernung ein KGB-Agent in ausländischen Kleidern, der mich beobachtete und dann auch verhaftete. In dem Jahr der quälenden Verhöre wurde mir immer wieder unterstellt, daß ich zur eng­lischen Agentengruppe gehöre. Der einschlägige Beweis hierfür wäre der, daß ich die englische Sprache beherrsche, auch besäße ich einige Briefe von einem Freund, der mit mir im Lager war. Ich korrespondierte mit ihm, er war Engländer. Diese Spionagegeschichte war an das Oberste Sowjetgericht abgegeben worden. Von dort aus kam die Anzeige an das Gericht in den Kreis Krasnojarsk mit verändertem Text. Auf einer nicht öffentlichen Verhandlung wurde ich wegen eines Fluchtversuches aus der Sowjetunion und als gemeingefährliche Person zu zehn Jahren Freiheitsentzug verur­teilt. Zum zweiten Mal kam ich ins Lager Königreich, wo ich keine we­sentlichen Veränderungen vorfand (trotz Machtwechsels). Ebensowenig und schlechtes Essen, noch strengeres Regime, verschärfte Bewachung gegen­über der Zeit Stalins. Bei meiner Wanderung von Lager zu Lager erinnerte ich mich an die Vergangenheit, überdachte die Gegenwart und hatte mir nichts vorzuwerfen. Ich kam zu der Uberzeugung, daß alle meine grund­sätzlichen Entschlüsse ihre Richtigkeit hatten. Ich sah keinen Grund, mein Handeln zu bereuen, obwohl die Lagerleitung mich in der letzten Zeit dazu zwingen wollte. Ich habe nur versucht, die Menschenwürde zu wahren, und jede freie Minute benutzte ich dazu, mich weiterzubilden in Elektrotechnik und in Sprachen. Nach einer zehnjährigen Haft brauchte ich auf nichts Er­freuliches mehr zu warten und es wunderten mich auch deshalb nicht mehr die Schwierigkeiten, die jenseits des Lagertors auf mich zukamen. Nach einigen Versuchen, nach der Entlassung hier Fuß zu fassen, kehrte ich in meine Heimatstadt Vilnius zurück, die ich vor 20 Jahren zwangsweise ver­lassen mußte. Meine Sprach- und technischen Kenntnisse erwiesen sich als nützlich in der Bibliothek der Technischen Fachliteratur (ausländische Ab­teilung). Es wurde hier ein Informationsstand gegründet und man stellte mich als Bibliothekar ein. Gleichzeitig nahm ich am Fernunterricht an der Universität in Vilnius teil. 1974 beendete ich dieses Studium. Wie auch frü­her verhielt ich mich still und zurückgezogen, auch umgeben von Menschen, die sich ebenso verhielten.

Es half aber alles nichts, mich vor dem allmächtigen KGB zu verstecken. Ihre Augen verfolgten mich nicht nur bis zum Tor der Universität, auch in den Brotladen, ganz zu schweigen von weiter entfernten Reisen. All dies erinnerte mich immer wieder an mein Leben im Arbeitslager. Es scheint so, als ob eben erst die Tore geöffnet wurden und nur die Tagesordnung anders verlaufe. Anstelle der Bewacher im Lager verfolgen meine Spuren die Agen­ten. (So ist es auch klar, daß bei den Verhören jeder meiner Schritte be­kannt war.) Mein Schicksal hängt sehr von den Launen und der „Un- oder Zuverlässigkeit" meiner Bewacher ab, denn danach werden Entscheidungen von den Zuständigen getroffen. Ganz neue Fakten zeigten dies, als in der Universität Vilnius am 23. Dezember 1974 eine Konferenz abgehalten wurde. Das Thema lautete: „Revolution in der Bibliothek für Technische Fachliteratur in diesem Jahrhundert". Hierzu war auch ich eingeladen. Drei Minuten vor der Eröffnung kam eine Person in Zivil zum Organisator der Konferenz, D. Wladimirow, zeigte seinen Ausweis und verlangte von ihm, mich aus dem Saal zu holen. Die mir schon sehr bekannten Sätze fielen: „Kommen Sie mit." Im KGB-Auto brachte man mich nach Hause, wo schon weitere Beamte warteten, die in der Gemeinschaftswohnung eine Durch­suchung durchführen wollten. Sechs Personen durchsuchten mein Zimmer auf Befehl von Unteroberst Kowalow. Drei Stunden versuchten sie auf 6 qm etwas zu finden. Laut Beschluß suchten sie bei mir verleumderisches antisowjetisches Material für die Akte Nr. 345. Wie sich später aus Ge­sprächen mit dem KGB herausstellte, suchten sie den Herausgeber der „Chro­nik der Litauischen Katholischen Kirche" und anderer Literatur. Da sie nichts dergleichen fanden, nahmen sie meinen Gummianzug mit, den ich zum

Angeln gekauft hatte. Sie stellten sich vor, daß ich mit diesem Anzug ge­tarnt über die Grenze kommen könnte. Später bei den Verhören verlang­te der KGB von mir eine Aussage gegen meine Freunde in Litauen und Moskau. Genauso wie früher wollten sie mich zwingen, eine von ihnen zu­sammengesetzte Aussage zu unterschreiben und ich sollte Stillschweigen über diese Verhöre wahren. Ich weigerte mich. Dieses Beispiel, das sich immer wiederholen kann, zeugt nur zu einem kleinen Teil von dieser verlogenen Atmosphäre, mit welcher man ewig leben muß, still, zurückgezogen, aber auf der schwarzen Liste des KGB. Ich bin 44 Jahre alt, 17 Jahre hiervon verlebte ich in Lagern und Gefängnissen. Bestätigt kann dies auch von den­jenigen werden, die ebenfalls diese Verhältnisse kennengelernt und erlebt haben, was man alles ertragen muß. Ich habe keine Familie gegründet, weil ich nicht möchte, daß sie wegen meiner Vergangenheit zu leiden hätte. Auch habe ich keinen Reichtum erworben, denn für meine Arbeit bezahlte man mir ein Minimum. Abgesehen von den letzten sieben Jahren, habe ich nicht einmal ein Heim gehabt, da ich immer wieder von den Wohnungsämtern zum Narren gehalten wurde (was auch ein Verdienst des KGB ist). Wegen meiner Vergangenheit habe ich Recht und Anspruch auf alles, was ein nor­maler Mensch beanspruchen kann, verloren. Bürgern anderer Länder er­scheint dies vielleicht nicht so wichtig. Ebenso habe ich kein Recht auf ein Wiedersehen mit Verwandten jenseits der Grenzen. Ein hoher Funktionär des KGB erklärte mir mit Ironie, daß keine Rede davon sein könne, über die Grenze zu fahren, schon gar nicht wie ich es dächte. Hier kann man wieder die Worte benutzen, die von denen gesprochen sind, die in Lagern gehalten werden: Das Leben erweist sich als ein gewaltiger Spalt, den man nicht überspringen kann, und zwar weil Moskau niemandem verzeiht, der einmal gegen seinen Strich gearbeitet hat. Ich habe keine Zukunftsperspek­tiven und so versuche ich, auf legalem Wege die Sowjetunion zu verlassen. Mein Bruder in Kanada hat einen Antrag gestellt, ich könnte zu ihm fah­ren, ebenso gewähren meine Freunde in Israel mir Asyl. Am 29. Januar 1975 reichte ich ein Gesuch dem Außenministerium in Vil­nius ein, aber leider weigerten sich die Angestellten, mein Gesuch anzuneh­men, da in meinem Paß ein Vermerk enthalten ist. Ja, wegen dieses Ver­merkes will ich doch die Ausreise aus der Sowjetunion erwirken, weil ich in diesem Land mit diesem Vermerk keine Rechte wie ein normaler Bürger habe. Warum werde ich hier zwangsweise festgehalten. Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land zu verlassen, auch sein Vaterland, genauso hat er das Recht, wieder zurückzukehren. Dieses besagt die allgemeine Deklaration für Menschenrechte. Die Sowjetunion unterschrieb ebenfalls diese Deklaration. Ich bitte Sie, den entsprechenden Instanzen die Anweisungen zu geben, daß mir die Genehmigung zur Ausreise aus der Sowjetunion erteilt wird.

Vilnius, 19. Februar 1975                                                  K. Jokubynas

An Leonid Breznev, den Generalsekretär des Zentralkomitees der KP Durchschrift an: den Bevollmächtigten in Religionsangelegenheiten im Ministerrat der UdSSR und für die Litauische SSR; das Präsidium des Obersten Sowjets der Litauischen SSR und die Kurie des Erzbistums von Vilnius

Eingabe des Komitees der Pfarrei von Ignalina.

Vor dem Zweiten Weltkrieg hatten wir, die Gläubigen der Stadt Ignalina, mit dem Bau einer neuen Kirche begonnen. Die Gottesdienste wurden in der Zeit in einem Privathaus abgehalten. Während des Krieges war es nicht mehr möglich, die Kirche zu Ende zu bauen, es fehlte das Dach ... Nach Kriegsende wurde durch die Regierung das noch vorhandene Material und sogar die Kirche beschlagnahmt. Die Regierung gab uns das Versprechen, die Kirche fertigzustellen, also das Dach noch zu decken, wir sollten dagegen die Arbeiter hierfür entlohnen. Als nun die Kirche endlich fertig war, wurde sie nicht an uns übergeben, sondern es wurde eine Stadthalle aus ihr ge­macht. Verschiedene kulturelle Veranstaltungen sollten hier stattfinden. 1971 erfuhren wir, daß in unserer Stadt Ignalina eine neue Stadthalle ge­baut werden sollte. Jetzt wandten wir uns zum zweitenmal an den Stell­vertretenden Vorsitzenden des Exekutivkomitees der Stadt Ignalina, A. Vaitonis, mit der Bitte, uns nun unsere Kirche wieder zur Verfügung zu stellen. Dieser Mann antwortete uns ziemlich barsch: „Nichts wird dar­aus, die Kirche bleibt für die Zwecke reserviert, für die sie bisher benutzt wurde, mit Euren Wünschen hättet Ihr 1950 an uns herantreten müssen, da­mals wäre es möglich gewesen, Euch die Kirche zu überlassen. Jetzt ist es zu spät. Laut Beschluß des Vorsitzenden des Exekutivkomitees des Kreises, A. Gudukienė, wird das Gebäude für kulturelle Zwecke benötigt." Weiterhin antwortete man uns auf unsere Bedenken, daß die Kirche doch wohl kein geeigneter Platz für derartige Veranstaltungen sei, mit den Wor­ten: „Dies ist doch kein Argument." Wir wandten noch ein, daß doch auch die Säulen für kulturelle Veranstaltungen störend seien. Dies sei richtig, sagte man uns, aber es seien keine Mittel vorhanden, um ein neues Kultur­haus zu bauen, im Fünfjahresplan sei ein solcher Bau nicht geplant. Wir reichten im selben Jahr noch zwei weitere Gesuche ein, an den Obersten Sowjet der Litauischen SSR und an den Sekretär der Litauischen Kommu­nistischen Partei. Von diesen Gesuchen sandten wir Abschriften an den Vor­sitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der LSSR und an den Stell­vertreter des Beauftragten des Rates für Religionsangelegenheiten der

LSSR. Unser erstes Gesuch unterschrieb nur ein Teil der Gläubigen aus unserer Gemeinde, 1026 Personen. Auf unser Gesuch hat nicht eine der an­geschriebenen Personen geantwortet. Als wir dann unser zweites Gesuch dem Beauftragten für Religionsangelegenheiten des Ministerrats der Li­tauischen SSR, dem Herrn Rugenis, persönlich abgaben, beschimpfte man uns als Saboteure und riet uns, nicht weiter wegen dieser Angelegenheit vorzusprechen, da wir hierbei keinen Erfolg haben würden, denn wenn man uns diese Bitte erfüllen würde, kämen wir bald mit weiteren Forderungen. Man empfing uns hier auch sehr unhöflich, laufend wurden wir angeschrien. Es verging eine gewisse Zeit, dann besuchte unsere Stadt eine Person und verlangte unseren 80jährigen Vorsitzenden des Kirchenkomitees zu spre­chen. Er wurde zu einer Aussprache vorgeladen. Unsere Kirche wurde von diesem Fremden von außen besichtigt, mit Schritten vermessen und er be­merkte, daß die Kirche groß genug sei. Wir erfuhren später, daß dieser Mann der Bevollmächtigte für Religionsangelegenheiten im Ministerrat der LSSR war. Nach diesem Besuch des Vertreters der Regierung erklärte der Stellvertreter des Vorsitzenden des Exekutivkomitees, Ignalina, daß unser Gesuch, die Kirche wieder als Gotteshaus zu benutzen, abgelehnt sei. Schriftlich bekamen wir diese Absage jedoch nicht zugestellt. „Es hindert Euch ja niemand am Beten in Eurer provisorischen Kirche, denn dort ist Platz genug vorhanden, Eure Kirche ist für andere Zwecke bestimmt, die gibt Euch niemand zurück, wir benötigen sie für kulturelle Veranstal­tungen", bekamen wir zur Antwort. Dies ist eine furchtbare Verhöhnung aller Gläubigen. Am Beten werden wir nicht gehindert, aber was machen die Atheisten?

Der Verwalter der Stadthalle warf einen Stein ins Fenster, während wir unseren Gottesdienst abhielten, ganz zu schweigen von der Musik, dem lauten Orchester, den Veranstaltungen, die neben der Kirche stattfinden, und zwar zur gleichen Zeit, während wir unseren Gottesdienst abhalten. Unsere Kirche (die provisorische) ist sechs Meter von der eigentlichen Kirche entfernt (die als Stadthalle dient). Platz genug hätten wir in dieser provi­sorischen Kirche, behaupten diejenigen, die uns unsere Kirche, die wir ge­baut haben, nicht zurückgeben wollen. Die provisorische Kirche ist ein ein­faches Haus von insgesamt 100 qm Fläche, Nutzfläche etwa 70 qm. Heute hat Ignalina über 4000 Einwohner, die zum großen Teil katholisch sind. Auch ist Ignalina Kreisstadt. Hierher kommen die Gläubigen aus vielen Gemeinden an Sonn- und Feiertagen, um dem Gottesdienst beizuwohnen. Ignalina ist Kurort, und rund um die Stadt erholen sich Tausende aus vielen großen Städten wie Leningrad, Moskau, ja von ganz Rußland. Viele Kur­gäste, Touristen und Urlauber besuchen unsere Gottesdienste hier. Wie sol­len und können all diese Menschen Platz finden bei nur etwa 200—250 Plätzen. Mit Recht sprechen die Touristen von der Stadt Ignalina, wo Gläubige diskriminiert werden und wundern sich, daß in solch einer Stadt mit so vielen Gläubigen keine richtige Kirche für Gottesdienste zur Ver­fügung steht. Die Leute sind gezwungen, während des Gottesdienstes auf der Straße zu stehen, auch bei schlechtem Wetter, weil die Kirche einfach zu klein ist. Im Winter ist es in der provisorischen Kirche sehr feucht und stickig. Es wird heute zielstrebig auf den Frieden zugesteuert, ebenso auf die Zusammenarbeit und das Verständnis aller Völker der Erde. In Helsinki sind Verträge zur Sicherung des Friedens und für die europäische Gemein­schaft und Freundschaft unterschrieben worden. Auch die Sowjetunion war zugegen, für sie unterschrieb der Erste Generalsekretär. Hat nun die Sowjet­union die internationalen Pflichten übernommen? Die Verfassung dieses Landes räumt dem Glauben ein Recht ein, dann müssen auch die erforder­lichen Voraussetzungen geschaffen werden. Deshalb pocht die Stadt Igna­lina auf ihr Recht, auf ihre Kirche. In diesem Jahr wird in Ignalina ein Kulturzentrum gebaut und nur verschiedene Verschönerungen und Verbes­serungen sind noch zu beenden. Hiermit ersuchen wir Sie, die von uns er­baute Kirche wieder für den Zweck, für den sie bestimmt ist, an die Gläu­bigen abzutreten. Die früher eingereichten Bittschriften an die Regierung der LSSR waren von über 1000 Gläubigen unterschrieben. Für diese Unter­zeichnung waren die Gläubigen verschiedenen Repressalien ausgesetzt, und deshalb unterschreiben wir diesmal nur als Mitglieder des Kirchenkomitees. Wir bitten nochmals, den Gläubigen von Ignalina zu helfen, die ihnen zu­stehende und von ihnen auch erbaute Kirche an sie abzutreten.

Ignalina, 10. September 1975.

Diese Bittschrift haben 19 Mitglieder des Kirchenkomitees unterschrieben.