Erfreulicherweise finden sich unter uns Leute, denen die Verteidigung der Menschenrechte am Herzen liegt („Chronik der LKK"); der Anspruch des Menschen auf ein Leben in einer nicht nur moralisch, sondern auch physisch gesunden Umwelt bedarf desgleichen der Fürsprache. Die geistige Vernich­tung des Menschen ist eine Tragödie, eine nicht geringere stellt die Gefahr einer Vernichtung der Umwelt für sein leibliches Wohl dar. Es ist durchaus zu begrüßen, daß die Landwirtschaft in Litauen heute 20 bis 27 dz pro Hektar erntet, daß die Lebensbedingungen der Landbevölke­rung sich kaum noch von denen der Städter unterscheiden, daß der Bauer heute weniger arbeitet, jedoch mehr zu essen hat als vor dem Krieg. Das ist die helle Seite der Medaille, die Kehrseite ist bedenklicher... Gästen aus dem Ausland zeigt man gerne an der Autostraße Vilnius—Kaunas eine eingezäunte Eiche, welche zu bezeugen scheint: „Schaut her, wie man sich bei uns nicht nur der gesamten Natur, sondern auch einzelner Bäume an­nimmt". Diese Eiche dient gewissermaßen als Agitationsobjekt. Die in Litauen weilenden Touristen verspüren ein an die Sowjetregierung gerichte­tes Gefühl der Dankbarkeit für den Schutz, die diese der Natur angedeihen läßt. Wenn die Touristen dann auch noch Filme über das Naturschutzgebiet um den Žuvintas-See vorgeführt bekommen, werden sie von Tränen der Rührung übermannt. Die Eiche und diese Filme benebelten sogar einem so namhaften Naturschützer der USA wie Valdas Adamkas die Augen.

Am 22. März 1966 haben sich 21 litauische Intellektuelle an die Administra­toren von Litauen, A. Sniečkus und M. Šumauskas, gewandt. In einem 14 Seiten umfassenden Memorandum schilderten sie die recht bedenklichen Zustände der Natur in Litauen. Sie schrieben: „In der litauischen Öffentlich­keit, insbesondere in Kreisen von Wissenschaftlern und Kulturschaffenden, greift immer stärker eine tiefe Besorgnis über das Schicksal des Unterlaufes des Nemunas (der Memel), des Kurischen Haffes, der Ostseekurorte und der gesamten litauischen Meeresküste um sich ..."

Diese Besorgnis ist nicht unbegründet. Hier sollen einige Fakten aus der jüngsten Vergangenheit geschildert werden. Die Intellektuellen konstatier­ten einen solchen Verschmutzungsgrad des Nevėžis, daß „jegliches Leben in dem Flußwasser erstorben ist". Der Tod lauert in dem Unterlauf der Dangė und in den Gewässern bei Klaipėda (Memel). Die Seen bei Telšiai und Šiauliai, der Mūša-Fluß sind stark verschmutzt. Als in Kėdainiai ein Super-phosphat-Industriekombinat errichtet wurde, verdorrte der bei Kėdainiai befindliche Juodkiškiai-Wald. Später schrieb einer der Autoren des Memo­randums, Č. Kudaba, Doktor (habil.) der geographischen Wissenschaften, daß ein gleiches Schicksal die in der Nachbarschaft der Stickstoffdüngerfabrik von Jonava an der Nervis (Wilija) gelegenen Wälder ereilt hat, die als Er­holungslandschaft von Bedeutung sind.

 

Als sich die Errichtung des Wärmekraftwerkes von Elektrėnai noch im Pro­jektstadium befand, teilte die Presse dem Volk mit, daß dieses Kraftwerk mit Naturgas aus den Bruderrepubliken betrieben werden würde. Tatsäch­lich wird es indes ausschließlich mit Heizöl versorgt und „verbraucht ca. 2300 Tonnen schwefelhaltiges Heizöl pro Tag". Die vorherrschenden West­winde wehen die Abgase des Kraftwerkes sogar bis nach Vilnius und in seine Umgebung — in die Kiefernforste bei Grigiškiai — Kernavė und Vala­kampiai — Nemenčinė — Santaka. Durch die Schornsteine des Kraftwerkes entweichen als Rückstand des Heizöls ca. 74 Tonnen Schwefeltrioxyd pro Tag. Der Schwefel verbindet sich in der Luft mit Wasserdampf und somit ent­stehen ca. 200 Tonnen Schwefelsäure. Im Schnitt gehen, wie dies in dem Memorandum zum Ausdruck gebracht wurde, in einem Radius von 60 km und in einem Winkel von 90° — unter Erfassung der Ortschaften Dubingiai,

Nemenčinė, Vilnius, Rūdininkai, einschließlich der umliegenden Kiefernbe­stände — in einem Gebiet von 2500 qkm an die 290 kg konzentrierter Schwefelsäure je Hektar nieder.

 

Die Wärmezentrale von Vilnius vernichtete vorzeitig den Vingis-Park. „So wie der Vingis-Park, werden auch die Wälder von Sapieginė und Valakam­piai absterben, wenn weitere luftverschmutzende Industrieanlagen im Raum der Landstraße Žirmūnai—Veriai angesiedelt werden oder auch künftig nicht auf Naturgas als Heizmaterial übergegangen wird." In den seitdem vergan­genen neun Jahren erwies sich die Richtigkeit dieser Vorhersagen der litau­ischen Wissenschaftler.

Die Intellektuellen schrieben: „Die Eindämmung des Nemunas bei Kaunas ist ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen soll.. . Das Stauwasser des Wasserkraftwerkes löste im Flußabschnitt Darsūniškis—Birštonas (sogar noch 3 km oberhalb desselben) durch anschwemmende Schmutzteilchen eine Ver­sumpfung aus... Heute zeichnet sich das Heilbad Birštonas nicht mehr durch seine Strände, sondern durch den Morast im Ufergelände aus." Unter Hinweis darauf, daß die Eingriffe in die Natur „das biologische Gleichgewicht und ihre zyklischen Prozesse zerstört haben oder noch im Begriff sind zu zerstören", wurde von den litauischen Intellektuellen die Warnung ausgesprochen, daß eine weitere Industrialisierung von Westlitauen „unwiderruflich das gesamte Landschaftsbild ungünstig verändern würde und außerdem verheerende Folgen für den Unterlauf des Nemunas, das Kurische Haff und das Erholungsgebiet an der Ostseeküste der Republik haben würde". Die litauischen Wissenschaftler brachten bereits zu jener Zeit keinen großen Enthusiasmus für die Industrialisierung des Landes auf: „... die Möglichkeiten der Industrialisierung und Urbanisierung von Terri­torien werden durch Naturgesetze bedingt... Litauen ist ein Teil des Küsten­waldstreifens. Deshalb muß die Industrie von Litauen sich den Naturgege­benheiten dieses Landstriches anpassen." Die Intellektuellen erinnerten die Administratoren von Litauen (in einem an die Unionsregierung gerichteten Schreiben) daran, daß die Dauerpflanzendecke innerhalb des Territoriums von Litauen weniger als 50% betrage. In dem Moskauer Gebiet erreiche die mit Dauerpflanzen bedeckte Fläche 70°/o und in der Burjatischen ASSR so­wie in dem Pomorskij-Kraj 100°/o. Dort solle man die Industrie ansiedeln! Man kann den Intellektuellen insofern zustimmen, als „einige Wiesenpflan-zengesellschaften am Unterlauf des Nemunas internationalen Seltenheitswert besitzen und die Umgebung von Ventės Ragas (Windenburger Horn) ein Wildvogelreich darstellt, dessen Erhaltung Litauen allgemeines Ansehen in der Welt verschafft".

 

„Eine nicht weniger wertvolle baltische Landschaft stellt die seenreiche Aukschtaiter Hügelkette dar. Prüft man Europa hinsichtlich seiner Wasser­reservoire, Kiefernwälder und Badestrände, so bietet sich nichts Ebenbürti­geres an bis zum Ural, dem Kaukasus, der Krim, den Karpaten und den Alpen." Die Intellektuellen haben hierbei versäumt, die Kurische Nehrung und das Hochmoor von Čepkeliai anzuführen. Was blieb von diesen Natur-reichtümern nach 30jährigem, ständigem Bemühen seitens Partei und Sowjet­regierung übrig? Und was werden wir nach weiteren 30 Jahren vorfinden? Am Ventės Ragas (Windenburger Horn) wurde bereits im Jahre 1929 eine ornithologische Station errichtet. Im Frühjahr und Herbst schalteten über 5 Mill. Zugvögel hier eine Ruhepause ein. Sie wurden beringt, ihre Migration wurde verfolgt. Nach Errichtung einer Arbeitersiedlung wird Ventės Ragas von einer Großzahl der Vögel gemieden. Der Vorsitzende des Naturschutz­ausschusses, Giniūnas, bedauert, daß anderswo mehr für den Naturschutz getan wird: „In vielen Ländern wurden die Unterläufe der wichtigsten Flüsse zu Naturschutzgebieten erklärt." Nach Aufzählung der aussterbenden seltenen Vögel gesteht der Vorsitzende, daß „am Ventės Ragas künstliche Hindernisse für die Migration der Vögel und ihre Beringung geschaffen worden sind". Den Naturschützern sei es nach rund vierjährigen Verhand­lungen mit dem Ministerium für Melioration und Wasserhaushalt lediglich gelungen, so bekennt er, eine geringfügige Liste ichthyologischer Schutzge­biete abzustecken und an die 5% aller kleineren Flüßchen zu retten. Schon 1966 schrieb Dr. Kudaba: „Die Neris reinigt sich erst 100 km hinter Vilnius, wo dann von der Stadt Jonava die Verschmutzungsstaffel über­nommen wird. Die Venta ist im Begriff, ein totes und gefährliches Gewässer zu werden . . ." Der Hydrotechniker Dr. Lasinskas weist auf die Gefährdung der Flüsse Kulpė, Mūša, Venta und Šešupė hin. Sogar in unserer sowjetischen Presse wurden Stimmen litauischer Naturkundler über den Verfall einiger hundert Parkanlagen ehemaliger Gutsbesitzungen laut. Erwähnenswert sind unter ihnen der Park von Justinava, wo 1931 Emilija Pliaterytė, eine der Führerinnen der Aufständischen, gestorben ist, und der Park von Džiugėnai, Wohnsitz der Schriftstellerin Julija Žemaitė von 1961 bis 1963.

Unlängst stand in der Tageszeitung Tiesa ein offener Brief der Mitarbeiter des Pädagogischen wissenschaftlichen Forschungsinstitutes, in dem die Sorge um das Schicksal der Dünen auf der Kurischen Nehrung zum Ausdruck ge­bracht wurde. Die Dünen verfallen allmählich. Infolge der steigenden Erdöl­preise sucht man sogar auf der Nehrung nach öl. Als im Frühjahr 1968 aus den Ölbohrungen Salzwasser emporschoß, wurden dabei drei bis vier Hektar Wald vernichtet. Die Waldungen werden auch von Bauarbeitern und Haus­tieren zerstört. Statt der an einem Tag erlaubten Anzahl von 3000 Besuchern auf der Nehrung halten sich dort tatsächlich weit mehr auf, jährlich kommen schätzungsweise an die 100 000 Besucher. Rücksichtslos benehmen sich die Gäste aus den „brüderlichen" Republiken, die sehr wohl Bescheid wissen, daß die für den Naturschutz zuständigen Inspektoren seit 1962 nicht mehr das Recht haben, Rechtsbrechern Sanktionen zu erteilen. Die litauische Öffent­lichkeit wird damit vertröstet, daß die Kurische Nehrung bald zum Natio­nalpark erklärt werde. Es fragt sich, ob sie nicht das gleiche Schicksal ereilt wie das Čepkeliai-Hochmoor, Im Jahre 1948 wurde das Hochmoor zum Naturschutzgebiet erklärt. Nach einigen Jahren wurde diesem für Litauen landschaftlich einzigartigen Gebiet das Privileg eines Naturschutzgebietes wieder entzogen. Im Oktober dieses Jahres sind dem Hochmoor von Čep­keliai abermals die Rechte eines Naturschutzgebietes zugesprochen worden. Untersagt ist in diesem Hochmoor, auf Beschluß des Ministerrates, „eine jede Tätigkeit, welche in die natürlichen Umweltprozesse eingreift und den Aufgaben sowie Zielsetzungen eines Naturschutzgebietes widerspricht". Die­ser Beschluß kommt 25 Jahre zu spät. In der Zwischenzeit haben die den Prämien nachjagenden Melioratoren dem Hochmoor eine Wunde geschlagen, die nicht auszuheilen vermag.

Im Jahre 1937, als die Naturpflege noch nicht weltweit in das Bewußtsein gedrungen war, wurde in Litauen der Žuvintas-See unter Naturschutz ge­stellt. Erst 31 Jahre nach dem „endgültigen Sieg des Sozialismus in Litauen" wurde Litauen die Erlaubnis für ein zweites Naturschutzgebiet erteilt. Litauen ist das am wenigsten bewaldete europäische Land (25%). Obwohl wir nur 5,6% an Schlagwald haben, wurde in jüngster Zeit der Holzein­schlag intensiviert. Von den mächtigen Labanoras-, Užventės- und Žalioji-Waldmassiven blieb nicht mehr viel übrig. Einige Zeit standen sie unter Schlagverbot und wurden nur „in Ausnahmefällen" geholzt. Im Frühjahr dieses Jahres ist die Schlagverbot-Beschilderung des Labanoras-Großwaldes entfernt worden. Dem Großwald droht nun sein Ende. Den Forstleuten wer­den Prämien nicht für die Pflege, sondern für seine Ausfällung gezahlt. Dr. Č. Kudaba schrieb, daß im Jahre 1959 der Holzfällungsplan mit 171% er­füllt wurde. Die den Kolchosen gehörenden Wälder (0,5 Mill. ha) werden ohne jegliche Kontrolle geschlagen. In den staatlichen Wäldern wird alljähr­lich ca. 2,5 Mill. cbm Holz gefällt, Moskau verlangt jedoch, daß der Jahres­plan bis zu 6 Mill. cbm erhöht wird. Seit etwa 30 Jahren steht der Forstwirt­schaft von Švenčionėliai ein gewisser Nester Averijanenko vor. Ihn ficht es nicht an, wenn die Direktoren nachbarlicher Forstbetriebe ihm einen Teil ihres Holzfällpensums übertragen. Seine Pensionierung soll mit einer nicht weniger als hundertprozentigen Erfüllung des Holzfällplanes für den Laba­noras-Wald gekrönt werden.

 

Im Jahre 1966 erklärten die Intellektuellen: „Die Entwässerungsmelioration erbringt zwar primär einen spürbaren ökonomischen Effekt, nichtsdestotrotz bedeutet sie einen großen Eingriff . . . Wird dem Wasser keine Sammelmög­lichkeit geboten, so wirkt es durch seinen gewaltsamen Ablauf zerstörerisch auf das Gelände ein und fügt somit der Volkswirtschaft Schaden zu. Der Wasserentzug führt außerdem zu Erosions- und Austrocknungserscheinun-gen und zu Wassermangel für die Industrie in den Sommermonaten u. a. m."

Auch diese Vorhersage ging in Erfüllung. Wie von der populärwissenschaft­lichen Zeitschrift „Mokslas ir gyvenimas",Nr. 6, zugegeben wird, sind in dem Rayon Zarasai über die Hälfte aller Böden von der Erosion betroffen; das gleiche geschieht jedoch auch in den Rayons Utena und Molėtai. Der Hauptzweck besagten Memorandums war die Verhinderung der Errich­tung eines Erdölraffinerie-Chemiekombinates in Jurbarkas (Jurburg). Nach Meinung der Wissenschaftler würde eine solche Anlage jährlich 135 t Erdöl-rückstände in den Nemunas-Fluß ausstoßen, und 230 t würden als natürliche Verluste in der Umgebung von Jurbarkas einsickern. „Es besteht kein Zwei­fel darüber, daß durch die Westwinde ein großer Teil der bei der Erdölverar­beitung entstehenden Oxide in die Atmosphäre über der Republik gelangen würden. Der Großwald bei Tauragė wäre somit dem Absterben preis­gegeben."

Die Autoren des Memorandums hielten mit ihrer Auffassung nicht zurück, daß der Bau einer Erdölraffinerie in Litauen durch keinerlei wirtschaftliche Notwendigkeit begründet sei: „Im Namen des Landschaftsschutzes und des Schutzes der Ostsee, im Namen der guten Beziehungen zu den skandina­vischen Ländern, sollte die Sowjetunion als großer Industriestaat den für den Westen der nördlichen Erdhälfte bestimmten Export von Erdölprodukten und deren Industrie in dem weiteren Raum um den Hafen von Murmansk ansiedeln, wo die Bedingungen zur Schaffung von Kurorten nicht vorhanden sind, wo die Bevölkerungsdichte gering ist und außerdem die Weiten des Eis­meeres angrenzen. Zum Schutze der Ostsee, eines untiefen Meeres, ist es lebensnotwendig, auf der Grundlage der internationalen Konvention ,Über die Beseitigung der Verschmutzung des Meeres mit Erdölprodukten', die spe­ziell für die Ostsee geschaffenen zeitweiligen Regeln zur Liquidierung der Verschmutzung des Meeres mit Erdöl' einzuhalten. Das bedeutet, daß es un­verantwortlich ist, das Erdöl in Jurbarkas zu bearbeiten und in das halbge­schlossene Kurische Haff auch nur im geringsten mit öl verschmutztes Was­ser abzuleiten."

Nach Schätzung der litauischen Wissenschaftler würde ein Erdölraffinerie­betrieb mit einer Kapazität von 12 Mill. Tonnen innerhalb eines Fünf jahres­planes nur 165 Mill. Rubel einbringen, während in derselben Zeit die Staats­einnahmen für Spirituosen in Litauen an die zwei Milliarden Rubel betragen. Die Wiesen des Nemunas-Unterlaufes, deren Ertragsfähigkeit mit zuneh­mender Flußverschmutzung abnimmt, bringen Litauen innerhalb eines Fünf­jahreszeitraumes ca. eine Milliarde Rubel ein. Sowohl die Einnahmen aus der Erdölbearbeitung, wie auch der Gewinn aus dem Verkauf der Spirituosen, fließen in das Gesamt-Unionsbudget ein. Zur Begründung ihrer Forderung, den Bau der Erdölraffinierie zu stoppen, wurde von den Intellektuellen auch auf die internationalen Verpflichtungen der Sowjetunion zur Bewahrung der Natur hingewiesen: „Der Obhut der Naturkundler der ganzen Welt unter­liegt die Bewahrung der wichtigsten Gewässer, der Sümpfe und anderer Feuchtigkeitsspender in Europa und Nordafrika vor wesentlichen Eingriffen und ihrer Zerstörung . . . Mit dem Schutz solcher Orte sind die ,Internatio­nale Vereinigung zum Schutze der Natur und der Naturschätze' und andere internationale Vereinigungen der Naturkundler betraut. Die Sowjetunion ist Mitglied aller dieser internationalen Organisationen und unterstützt deren Tätigkeit. Die Verschmutzung des Nemunas-Unterlaufes mit Indu­strieabfällen steht in Widerspruch zu den wissenschaftlichen und kulturellen Intentionen der Sowjetunion. Die Errichtung einer Erdölraffinerie in Litauen ist nicht gerechtfertigt."

 

Die Unzufriedenheit über das von Moskau geplante Erdöl-Chemiekombinat in Litauen schlug solche Wellen, daß sogar der Kreml etwas zurückstecken mußte. Die litauische Öffentlichkeit wurde jedoch insofern irregeführt, als ihr eingeredet wurde, daß die Errichtung eines solchen Werkes in Mažeikiai der Natur weniger Schaden zufügen würde, da die Rückstände über die ver­schmutzte Venta durch Lettland ins Meer geleitet würden. Erst am 23. Okto­ber dieses Jahres haben wir erfahren, daß die Erdölrückstände mit dem ver­schmutzten Wasser über einen 90 km langen Kanal in die Šventoji abgeleitet werden sollen. Durch die Errichtung der Erdölraffinerie in Mažeikiai statt in Jurbarkas wird die Gefahr einer Verschmutzung der litauischen Ostseeküste nicht nur nicht verringert, sondern sogar noch erhöht. Dies voraussehend, schrieben die litauischen Intellektuellen: „Es ist kaum anzunehmen, daß die Gefahr für die Ostseeküste durch die Verlegung des geplanten Chemiewerkes an die lettische Grenze in die Nähe des Šventoji-Hafens gebannt würde ... Das modische Bestreben, die Erstellungskosten so gering wie möglich zu hal­ten, läßt kaum die Hoffnung zu, daß die Einmündung der Abflußwasser in gebührender Entferung von der Küste erfolgen wird ... Dieses Chemiekom­binat ist ein vergifteter Pfeil im gesunden Fleisch der Natur ... Bei Aufkom­men von Nordwestwinden wird das verseuchte Wasser in den Šventoji-Hafen und an den Strand des Kurortes Palanga (Polangen) gelangen ..." Das Gift der Okkupanten griff bereits unheilvoll in die litauische Natur in der Umgebung von Mažeikiai ein, wo zum Bau dieses Werkes einige hundert Hektar Wald gerodet wurden. Der restliche Wald geht zugrunde, sobald das Chemiekombinat 1976 in Betrieb genommen wird.

Am 22. März 1974 wurde in Helsinki von der Sowjetunion, der DDR, Po­len, Finnland, Schweden, Dänemark und der BRD eine Konvention der Ost­see-Anrainerstaaten unterzeichnet, die die Verschmutzung der Ostsee mit öl verbietet. Das Jahrzehnt 1970 bis 1980 ist zum Internationalen Ozeanogra-phischen Jahrzehnt erklärt worden. Wegen der zur Zeit noch bestehenden in­tensiven Verschmutzung der Ostsee ist das „Begehen" dieses Jahrzehntes von den litauischen Wissenschaftlern vorläufig aufgeschoben worden. Die Erdöl-

Pipeline von Polozk bis Mažeikiai soll von den Polen gezogen werden. Doch weshalb errichten denn die Polen dieses Erdöl-Chemikombinat nicht in Weißrußland? Weshalb denn wird nicht gleich ein solches Chemiewerk in Polen errichtet?

Die Autoren des Memorandums bedauern, daß „Litauen nur ein einziges (im Original unterstrichen) Naturschutzgebiet besitzt". Sie wagten nicht hin­zuzufügen, daß sogar dieses in den angeblich „gegenüber Kultur und Natur in Litauen so gleichgültigen Zeiten" gegründet wurde. 1973 durfte der Bio­loge Dr. K. Lekevičius in den USA während einer Studienreise sich mit den dortigen Naturschutzverhältnissen vertraut machen. Er hebt in seinem Be­richt hervor, daß in den USA sogar 33 Nationalparks bestehen und daß der Umweltschutz eines der zur Zeit aktuellsten Probleme in den USA darstellt. Nach Auffassung unserer Naturkundler könnten in Litauen acht National­parks gegründet werden.

 

Es gab Litauer, welche dem Tod des Vorsitzenden des ZK der KPdLit. SSR, Sniečkus, nachtrauerten, er habe doch so viel für das kulturelle Wohl des Landes geleistet und Litauen vor den Moskauer Intentionen bewahrt. Nur wenige wissen, daß Sniečkus viele Jahre in seinem Schreibtischfach das von litauischen Naturwissenschaftlern erstellte Projekt eines Nationalparkes in Ignalina zurückhielt, weil er nicht wagte, es Charazov vorzuzeigen. Sein Nachfolger Griškevičius hat es gewagt. Wieviel Papier und Tinte wurde zum Lobe der Partei für die Gründung des Nationalparkes verschwendet! Dem Architekten Dr. VI. Stauskas gelang es, durch eine Unachtsamkeit des Glavlit-Zensors, zu bemerken, daß zum Jubel eigentlich kein Anlaß be­stünde: Der Nationalpark umfaßt nur 0,45% der Gesamtfläche der Repu­blik, während ähnliche Parks in England 5,6°/o und in Deutschland 8,9°/n der Gesamtfläche einnehmen.

Kurz darauf erfuhren die Litauer, daß Moskau zu einem weiteren schmerz­lichen Einschnitt in die Natur von Litauen ansetzt, und zwar durch die Er­richtung eines Atomkraftwerkes. Nach Ansicht der Naturwissenschaftler würde dieses Atomkraftwerk die litauische Natur noch weit intensiver schä­digen als das Erdöl-Chemiekombinat von Mažeikiai. „Das Problem des Schutzes der Binnengewässer wird viel zu langsam behandelt" — so klagt der Chef des Geologischen Amtes Mikalauskas. Weiterhin sagt er: „Doch das hängt nicht von uns ab, sondern von den Industrieorganisationen — den Fabriken und größeren Werken ..." Es wäre hinzuzufügen: „... welche der Einwirkungsmöglichkeit des Wissenschaftsrates entzogen sind." In einem Jahr wurde das Hochmoor von Čepkeliai unter Naturschutz ge­stellt, im nächsten Jahr wurde der Schutz wieder aufgehoben. Um zur Ver­sorgung der großen Städte der Sowjetunion mehr Fleisch- und Milchpro­dukte aus dem unfruchtbaren Boden von Litauen herauszuholen, mußten die Sümpfe und Moore trockengelegt und der Wasserspiegel der Seen gesenkt werden. Dafür bekamen wir von Moskau die Genehmigung zur Gründung eines zweiten Naturschutzgebietes. Eines schönen Tages hat man uns sogar einen Nationalpark genehmigt. Am Tage darauf mußten wir erfahren, daß neben dem Park ein Atomkraftwerk entstehen soll, durch welches der Park zugrunde gehen wird.

 

Mit unserer Natur geht Moskau stiefmütterlich um. Tausende unserer Lands­leute sind ermordet und nach Sibirien verbannt worden, wäre es da nicht naiv zu glauben, unsere Natur würde höher eingeschätzt! Litauen wurde zur Stillung von Moskaus imperialistischen Gelüsten okkupiert. Unsere Natur wird dabei nur aus dem Blickwinkel ihres ökonomischen Nutzwertes be­trachtet.

Die Errichtung des Erdölraffinerie-Chemiekombinates und des Atomkraft­werkes geschieht vor allem aus strategischen und politischen Gesichtspunk­ten:

1.      Im Falle eines Krieges würde Litauen zum Erdöldepot und zur Zwi­schenstation im Versorgungsnetz mit Elektrizität.

2.     Litauen wird noch enger an die russische Wirtschaft gebunden.

3.      Der Nordwesten und der russifizierte Nordosten von Litauen werden zum Objekt einer erneuten Einwanderungswelle aus Rußland.