Der Streik der Kolchosarbeiter

Im Dezember 1975 wurden zwei Kolchosen des Rayons Kapsukas fusioniert — Dovinė und Piliakalnis. Am Anfang des Monats Dezember fanden in bei­den Kolchosen Versammlungen statt, in denen beschlossen wurde, diese bei­den Kolchosen zu vereinen. Bei den Versammlungen war der erste Partei­sekretär des Rayons Kapsukas, Sinickas, anwesend. Er versprach öffentlich den Kolchosarbeitern, daß nach dem Zusammenschluß der Kolchosen eine Vollversammlung der Mitglieder der fusionierten Kolchosen stattfinden und dabei der neue Vorsitzende unter zwei Kandidaten gewählt werden würde, das bedeutete, entweder der ehemalige Leiter des Kolchos Dovine,Pranas Servytis, oder der ehemalige Leiter des Kolchos Piliakalnis, Stasys Narauskas.

Das Kolchos Dovine war ökonomisch viel schwächer, die Arbeiter wurden niedriger entlohnt, und abgesehen davon, hatten die Kolchosarbeiter dem ehemaligen Leiter Servytis gegenüber viele persönliche Vorbehalte. Am 10. Dezember fand im Saal der Schule in Daukšiai die Vollversamm­lung der fusionierten Kolchosen zur Wahl des neuen Leiters statt. Zur Ver­sammlung kam eine große Mehrheit der Mitglieder des ehemaligen KolchosPiliakalnis. Die Mitglieder des ehemaligen Kolchos Dovine nahmen an dieser Vollversammlung nicht teil, denn sie hatten zuvor eine Minderheitsver­sammlung ihres ehemaligen Kolchos abgehalten und beschlossen, P. Servytis zum gemeinsamen Leiter zu wählen.

Am 10. Dezember kam zu der Wahlversammlung der Erste Parteisekretär des Rayons Kapsukas, Sinickas, und der Instrukteur Jankauskas. Sie brach­ten den ehemaligen Leiter des Kolchos Dovinė, Servytis, mit.

Die Versammlung dauerte nur einige Minuten. Der Instrukteur Jankauskas machte den Wahlvorschlag, P. Servytis zum Leiter der fusionierten Kolcho­sen zu wählen. Der Instrukteur fragte, wer mit dem aufgestellten Kandida­ten einverstanden sei. Die Kolchosarbeiter gaben keine Stimme ab. Darauf­hin fragte der Instrukteur, ob jemand damit nicht einverstanden sei. Alle Versammelten hoben die Hand. Da wandte sich der Parteiinstrukteur Jan­kauskas an P. Servytis und sagte, indem er ihm die Schlüssel übergab: „Ich beglückwünsche Sie zur Wahl."

Im Saal erhoben sich Stimmen des Protestes. Sinickas und Jankauskas ver­steckten sich in einem anderen Klassenzimmer und kehrten später auf Um­wegen durch Igliauka nach Kapsukas zurück.

Die Teilnehmer an der Wahlversammlung verfaßten einen Protestbrief, in dem sie mitteilten, daß sie einen Streik ausrufen würden, diesen unterschrie­ben alle und brachten ihn am selben Tag noch der Landwirtschaftsverwal­tung in Kapsukas. Während des Streikes melkte niemand die Kühe des ehe­maligen Kolchos Piliakalnis, fütterte niemand das Vieh. Nur der ehemalige Leiter des Kolchos, S. Narauskas, zusammen mit den ehemaligen Büroange­stellten, verpflegte die Jungtiere. Es war ein Universalstreik der Kolchos­arbeiter.

Am 11. und 12. Dezember fand während des Streikes ein Plenum der KP des Rayons Kapsukas statt. Eine Gruppe von Kolchosarbeitern wandte sich mit einer Klageschrift an das Plenum der KP des Rayons Kapsukas und an den Staatsanwalt des Rayons, sie wurden aber nicht vorgelassen. Alle am Streik Beteiligten wurden in die Sicherheitsbehörde des Rayons Kapsukas vorgeladen und befragt, wer den Streik im Kolchos organisiert habe. Sie antworteten, daß sie deshalb streikten, weil der Erste Parteisekretär des Rayons, Sinickas, sein Versprechen, den Kolchosarbeitern die Wahl des neuen Leiters unter zwei Kandidaten zu ermöglichen, nicht gehalten habe. Außerdem hätten alle gegen den aufgestellten Kandidaten gestimmt, und trotzdem hätte der Instrukteur Jankauskas in Gegenwart des Ersten Partei­sekretärs den abgelehnten Kandidaten zu seiner „Wahl" beglückwünscht. Obwohl die Kolchosarbeiter später bei den Regierungs- und Parteiorganen der Republik, sogar bei den Zentralorganen der UdSSR Klage einreichten, versieht der nicht-gewählte Kolchosleiter P. Servytis sein Amt als Vorsitzen­der der fusionierten Kolchosen und niemand untersucht diesen Vorfall.

An den Ersten Sekretär des Zentralkomitees der KP Litauens, P. Griškevičius

Am 27. Oktober 1975 reichten meine Frau und ich im Ministerium für innere Angelegenheiten der Litauischen SSR, Abteilung für Visa und Registratur, die Dokumente mit dem Ansuchen um Ausreise ins Ausland ein, gemäß der

Einladung, die wir vom leiblichen Bruder meiner Frau, wohnhaft in Israel, bekommen haben.

Kurz nach Eingabe der erwähnten Dokumente, wurde ich aus der Künstler­vereinigung ausgeschlossen und befand mich in einer Situation, in der mir alles Recht auf Anstellung oder Arbeit genommen war. Meine ganze schöpferische Arbeit von 1965 an bis zum heutigen Tag wird von den offiziellen Staatsorganen als „Formalismus" gewertet, der den An­forderungen des sogenannten sozialistischen Realismus nicht gerecht werde. Und deshalb bin ich einer nachhaltigen moralischen und materiellen Dis­kriminierung ausgesetzt, man verbietet mir, meine Bilder auf offiziellen Ausstellungen in Litauen und anderswo auszustellen.

Die Profanierung und Isolierung meiner Werke und auch die allgemeine Falschheit und das Absterben des kulturellen und schöpferischen Lebens in Litauen haben mich schließlich davon überzeugt, daß eine weitere schöpfe­rische Tätigkeit in der Heimat keinen Sinn mehr für mich hat. Als Mensch und Künstler empfinde ich die Prinzipien des sogenannten sozialistischen Realismus zutiefst als fremd und unlogisch. Meiner Überzeugung nach vul­garisieren sie die schöpferische Tätigkeit des Menschen, machen sie zu einem Handwerk, das nur nützlich und bequem für die Regierung ist. Der Dogma­tismus des Sozialismus, der alle übrigen künstlerischen Konzeptionen leugnet, versperrt auch den Weg zu einer individuellen schöpferischen Gestaltung einer Idee.

Jeglicher Zwang ist meiner Natur fremd, ungeachtet der hohen Ideale, mit denen er sich rechtfertigen oder hinter denen er sich verstecken mag. So habe ich auch in Zukunft nicht vor, auch nur irgendeiner bürokratischen Order be­treffs meines Schaffens zu gehorchen.

Auch bin ich nicht damit einverstanden, daß die Probleme künstlerischen Schaffens für das Volk von Beamten entschieden und bewertet werden, die nicht einmal die elementarsten Kenntnisse darüber aufweisen. Auf diese Weise wird das geistige Leben des Landes falsifiziert und jeglicher Vielfalt beraubt.

Auf Grund all dessen möchte ich in einem anderen Staat leben und arbeiten, wo mein Schaffen nicht profaniert wird und möglicherweise sogar interessant und gefragt ist.

Die Verweigerung der Genehmigung durch das Ministerium für innere Ange­legenheiten der Litauischen SSR für mich und meine Frau, aus der Litauischen SSR auszuwandern, mit der Begründung, daß ja in Litauen all unsere Ver­wandten blieben, halten wir für subjektiv und ungerecht. Denn weder für den Bruder meiner Frau, noch für viele andere, deren nächste Verwandte ebenfalls in Litauen zurückgeblieben waren, wurde diese Tatsache zum Vor­wand genommen, sie nicht aus der Litauischen SSR auswandern zu lassen. Ich und meine Frau, die voll und ganz meine Uberzeugung und Entscheidung teilt, bilden eine selbständige Familie, leben allein und unabhängig von un­seren Verwandten. Und die verlangten schriftlichen Einverständnisse der letzteren sind den eingereichten Dokumenten für das Ministerium für innere Angelegenheiten beigelegt.

Wir verlangen eine objektive Uberprüfung unseres Antrages um Ausreise aus der Litauischen SSR. Unser Entschluß ist fest und unabänderlich.

Vilnius, den 23. Januar 1976        V. Žilius, G. Žilienė

Vladislovas Žilius, wohnhaft in Vilnius, Sluckio g. 13-9 (geb. 1939 im Rayon Šilalė), beendete 1964 die Kunsthochschule für Graphik. Mit seinen Werken nahm er an einer Reihe von Ausstellungen in der Heimat und im Ausland teil. (Malberkel in Polen — 1967 und 1969, Krakau 1969, Bareslav 1969.) Er illustrierte Bücher, gestaltete den Kinofilm Jausmai (Gefühle), das Trauer­spiel von J. Stavinski Spūsties valanda (Die Stunde des Andrangs) im Dra­mentheater zu Klaipėda. Er arbeitete als Leiter der Redaktion des Kunstver­lages Vaga und von 1971 im Verlag Mintis als leitender Graphiker. Sein Hauptgebiet ist die Gravurtechnik. Zur Zeit befindet sich V. Žilius mit sei­ner Familie bereits im Ausland. — Red.