An das Volksgericht des Rayons Radviliškis Klage

des Priesters Antanas Jokūbauskas, Sohn des Jonas, Gemeindeadministra­tor von Pociūnėliai, wohnhaft im Rayon Radviliškis, Pociūnėliai. Am 30. September d. J. hat die Administrativkommission bei dem Exeku­tivkomitee des Deputiertenrates für Werktätige des Rayons Radviliškis, bestehend aus dem Vorsitzenden A. Mikelis, Sekretärin R. Dirsienė, Mit­gliedern Vaičiūnas, Vaišutis und Vasiliauskas, mich zu 50 Rubel Bußgeld verurteilt, mit der Beschuldigung des Verstoßes gegen die Bestimmungen des Präsidiums des Obersten Rates der Litauischen SSR „wegen administra­tiver Pflichtverletzung der religiösen Kultgesetze". Doch diese Anordnung läßt nicht erkennen, welches Vergehen ich als Priester begangen haben soll: etwa, daß ich keinen Gottesdienst zelebrierte oder jemandem die Sakra­mente nicht verabreichte.

Die mündliche Anklage der Administrativkommission, ich hätte den Kin­dern Katechismus-Unterricht erteilt, wurde nicht bestätigt. Ich prüfte die Kenntnisse der Kinder, examinierte, ob sie entsprechend auf den Empfang der hl. Kommunion vorbereitet wären. Dazu habe ich als Priester das Recht und die Pflicht und habe somit gegen kein Gesetz verstoßen. Gemäß der sowjetischen Verfassung, Lenins Prinzipien sowie gemäß inter­nationalen Verträgen ist der private Religionsunterricht erlaubt. Deshalb hätte ich mich, auch wenn ich den Kindern voll Katechismus-Unterricht erteilt hätte, weder gegen die Verfassung noch gegen die Gesetze ver­gangen.

1.      Ich habe als Priester die von Gott und Kirche auferlegte Pflicht, jeden die von Christus verkündeten Glaubenswahrheiten zu lehren und die Kinder im Katechismus zu unterweisen.

2.      Die Verfassung der Litauischen SSR garantiert im Absatz 96: „Allen Bürgern wird die Freiheit der Ausübung der religiösen Kulte zuerkannt." Das Wesentliche der religiösen Kulte der katholischen Kirche besteht aber in der Verkündigung der Christuslehre, dem Zelebrieren der hl. Messe und der Vermittlung der Sakramente. Das bedeutet, daß die Verfassung in diesen drei Punkten Freiheit zugesteht. Folglich hat der Priester das volle Recht, Erwachsenen und Kindern die Lehre Christi zu verkünden und die Kinder auf den Empfang der Sakramente vorzubereiten.

3.      Lenins Prinzip hinsichtlich dieser Frage ist klar: „Jedermann hat das volle Recht, nicht nur sich an seinen Glauben zu halten, sondern auch den Glauben zu verbreiten." (Bd. VI, S. 365.)

4.      Im Paragraph 19 des am 23. Januar 1918 veröffentlichten Dekretes der „Trennung der Kirche vom Staat und Trennung der Schule von der Kirche" heißt es: „Die Schule wird von der Kirche getrennt. Der Religions­unterricht ist an allen staatlichen und öffentlichen sowie an den privaten Bildungsstätten, wo Allgemeinwissen vermittelt wird, untersagt. Die Bür­ger dürfen privat Religion lernen und unterweisen."

5.      Am 10. Dezember 1948 verkündete die Generalversammlung der Ver­einten Nationen die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", die auch von der Sowjetregierung unterzeichnet wurde. Absatz 18 der Deklaration besagt: „Jeder Mensch hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, dieses Recht umfaßt die Freiheit..., seine Religion allein oder in Gemeinschaft mit anderen durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten zu bekunden." Folglich ist es unter Berufung auf die Deklaration nicht nur erlaubt, den Katechismus, sondern auch die ganze Religionswissenschaft zu erlernen. Wenn das Lernen erlaubt wird, dann ist auch die Unterweisung selbstverständlich. Auch dem Priester ist es gestattet, zu unterrichten, denn er ist ein speziell vorbereiteter Glaubens­lehrer, und für ihn gilt kein besonderes Verbot.

6.      „Jeder hat das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit", hierzu gehört die Freiheit..., die eigene Religion oder Weltanschauung durch Gottesdienst, Observanz, Ausübung und Lehre allein oder in Gemein­schaft mit anderen, öffentlich oder privat zu bekunden." (Internationaler Pakt über staatsbürgerliche und politische Rechte, UN 16. XII. 1966.)

7.      In den vom 30. Juli bis 1. August in Helsinki geführten Verhand­lungen der KSZE wurde beschlossen: „Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit, für alle ohne Unter­schied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten." (Schlußakte, VII.) Diese Schlußakte unterzeichneten 35 Staats- bzw. Re­gierungschefs, darunter auch der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, L. Brežnev. Darum darf in der Sowjetunion und damit auch in Litauen niemand wegen seiner Uberzeugung eingeengt oder wegen Ka­techismus-Unterrichts bestraft werden.

8.      Die Verfassung der Litauischen SSR und die internationalen Abkommen stehen in keinem Widerspruch zum Paragraphen 143 des Strafgesetz­buches, denn dieser verbietet, wie auch Lenin, den Religionsunterricht an Schulen, besagt aber nichts über ein Verbot der Religionsunterweisung in der Kirche.

Angesichts dessen, was weiter oben dargelegt wurde, ist es augenschein­lich, daß der Beschluß der Administrativkommission der Konstitution, den Prinzipien Lenins, sowie den internationalen Abkommen widerspricht.

Deshalb ist dieser Beschluß nicht rechtmäßig.

Ich bitte das Volksgericht um Revision des Urteils und Aufhebung der ungerechtfertigten Strafe.

Pociūnėliai, 6. Oktober 1976        Priester A. Jokūbauskas

Am 20. November 1976 beriet das Volksgericht des Rayons Radviliškis die Klage des Priesters A. Jokūbauskas, in der er die Aufhebung des von der Administrativkommission auferlegten Bußgeldes in Höhe von 50 Ru­bel wegen Katechismus-Unterrichts für Kinder beantragt. In seiner Klage erklärt Priester A. Jokūbauskas, daß er die Kinder nur examiniert habe, ob sie auch angemessen auf die erste Beichte vorbereitet seien. Der Vorsitzende des Volksgerichts des Rayons Radviliškis, J. Surblys, be­stätigte unter Beisitz der Staatsanwältin Vaišnorienė die dem Priester A. Jokūbauskas auferlegte Strafe für das Unterrichten der Kinder und vermerkte, daß der Beschluß endgültig und unanfechtbar sei. Somit setzte er sich über jegliche Gewissensfreiheit, die Rechte der gläubigen Eltern und die Konstitution hinweg. Wieder einmal bewiesen die Atheisten, daß die Kirche in Litauen auf gröbste Weise verfolgt wird, die Priester daran gehindert werden, ihren unmittelbaren Pflichten nachzukommen und daß nicht einmal die Verfassung und die internationalen Abkommen geachtet werden.