In Litauen wird die atheistische Propaganda zusehends aktiver. Der Ver­waltungsapparat der kommunistischen Besatzungsmacht sucht ständig nach neuen verfeinerten Arbeitsmethoden. Man will den Eindruck erwecken, daß es an der atheistischen Propagandafront keinen Druck von oben gebe, daß die atheistische Propaganda wissenschaftlich ausgerichtet sei und man aus­schließlich nach marxistischen Grundsätzen verfahre.

Zu Beginn des Schuljahres 1977/78 wurden die Direktoren der Mittelschulen beauftragt, eine genaue Analyse der religiösen Eltern-Kind-Beziehung in der Familie und außerhalb derselben vorzunehmen. Um den Eindruck einer Dienstanweisung von höherer Stelle zu vermeiden, versuchte die Schulleitung die erhaltenen Anweisungen über Atheismusbeiräte (derartige Beiräte, bestehend aus einigen Mitgliedern, denen ein vom Direktor gestellter Vorsitzender vorsteht, fungieren in sämtlichen Schulen) zu verwirklichen. Zur Ausführung dieser Anweisungen soll nicht nur die Gesamtzahl gläubiger Eltern und Schüler festgestellt werden, sondern auch der Grad ihrer Religiosität. Der Grad der Religiosität soll hierbei die Eltern in ein Gespräch ziehen und sich ein Bild über die religiöse Ausstattung der Wohnung machen u.a.m. Auch mit den Schülern sollen Gespräche geführt oder Fragebögen an sie verteilt werden (die Fragen sind nicht genau festgesetzt), um folgende Auskünfte zu erlangen: sind nicht genau festgesetzt), um folgende Auskünfte zu erlangen:

1. über die Gläubigkeit der Familien,

2. über Familien, die ihre Kinder zum Kirchenbesuch anhalten,

3. über Familien, die eigentlich nicht gläubig sind, die Kirche jedoch aus Tradition aufsuchen,

4. über Familien, deren Kinder nicht zur Kirche gehen und doch gefirmt werden,

5. über Familien, deren Kinder nicht nur am Kirchgang, sondern auch aktiv am religiösen Leben teilnehmen, z.B. Meßdienste versehen, im Kirchenchor singen etc., und

6. eine gründliche Analyse ist vorzunehmen, wie stark die religiöse Bindung der Schüler und ihrer Eltern ist: ob diese die Religion aus Überzeugung praktizieren oder lediglich aus traditionellen Gründen, ob die Schüler zur Kirche aus eigenem Antrieb oder mehr auf Wunsch der Eltern gehen.

Die Klassenlehrer, zu deren Pflichten die Erkundung dieser Tatbestände gehört, werden somit zu den das Lehreramt herabwürdigenden Spionage­diensten gezwungen.

 

Vilnius

An den Staatsanwalt der Litauischen SSR

Durchschriften: an die litauische Bürgerinitiativgruppe zur Verwirklichung der Helsinki-Beschlüsse

Erklärung von:

Vytautas Bogušis, wh. Vilnius, Savičiaus 13-8 Juliaus Sasnauskas, wh. Vilnius, Garelio 15-15 Kęstutis Subačius, wh. Vilnius, Pionierių 6-1 Audrius Tučkaus, wh. Vilnius, Šaltkalviu 68-6

Wir, die Unterzeichner dieser Erklärung, waren im Jahre 1976 Schüler der zehnten Klasse der A. Vienuolis-Schule in Vilnius. Weil wir zur Kirche gingen, wegen unserer nationalen und religiösen Ansichten und wegen der Bekanntschaft mit ehemaligen politischen Gefangenen wurden wir mehrmals per Zwang in den Sicherheitsdienst und das Milizamt beordert und anderen Verfolgungen ausgesetzt. Im Sicherheitsdienst versuchte man uns zu falschen Aussagen gegen unseren gemeinsamen Bekannten, Viktoras Petkus, zu bewegen. Wir haben in Petkus einen wunderbaren, sehr erfahrenen und hochkultivierten Menschen kennengelernt. Die ihm vom Sicherheitsdienst vorgeworfenen Anschuldigungen entsprachen nicht der Wahrheit, deshalb konnten wir sie nicht bestätigen.

Die gegen uns durchgeführten Repressalien erstreckten sich auf die Schule. Uns wurde ein angeblich schlechter Einfluß auf das Kollektiv vorgeworfen. In einer Lehrerkonferenz vom 17. Juli beantragte der Schuldirektor unsere Entfernung aus der Schule. Die Lehrerschaft pflichtete jedoch diesem Antrag nicht bei. Ungeachtet dessen wurden wir aus der Schule ausgeschlossen. Hierbei wurde auch nicht der Umstand berücksichtigt, daß 43 Schulkameraden eine Forderung, uns wieder in die Schule einzugliedern, unterzeichnet haben. Wie oben dargelegt, halten wir unsere Entfernung aus der Schule unge­rechtfertigt.

Vilnius, 27. Oktober 1977

V. Bogušis, J. Sasnauskas, K. Subačius, A. Tukus

Šiauliai

In der Mittelschule Nr. 9 von Šiauliai behielt am 6. Oktober 1977 die Klassen­lehrerin der zehnten Klasse, Petravičiene, die Schülerin Dalia Judikavičiūtė nach Unterrichtsschluß zurück, um ihr „etwas Wichtiges" mitzuteilen. Es entspann sich folgendes Gespräch: „Nun, Dalia, wirst du nun in den Komsomol (kommunistische Jugendorganisation) eintreten oder nicht?" wurde sie von der Lehrerin gefragt. „Nein", antwortete das Mädchen kurz. „Doch schau mal, liebes Kind, wie kommst du sonst zum Hochschulstudium?" —„Wenn ich nicht studieren darf, dann eben nicht." — „Und weshalb willst du nicht in den Komsomol?" — „Ich bin gläubig und trete deshalb nicht ein. Der Kommunistische Jugendverband verträgt sich nicht mit meiner religiösen Weltanschauung."

Im weiteren Verlauf des Gesprächs beschuldigte die Klassenlehrerin das Mädchen, die anderen Mädchen vom Eintritt in den Jugendverband abzu­halten mit dem Resultat, daß noch zehn weitere aus der Klasse keine Komso­molzinnen geworden seien. Dalia wies dies mit den Worten zurück: „Als ob die nicht einen eigenen Kopf zum Denken hätten!"

Nach einem längeren Hin und Her begleitete die Klassenlehrerin Petravičiene die Schülerin nach Hause und beschwor die Mutter, doch ihre Tochter Dalia Komsomolzin werden zu lassen. Doch auch die Mutter erklärte, an Gott zu glauben und deshalb ihrer Tochter nicht zureden zu können. „Wird sie wenigstens in der elften Klasse (der letzten Mittelschulklasse in Litauen) in den Komsomol eintreten?" fragte die Lehrerin. „Niemals", sagte die Mutter. An allen litauischen Schulen werden die Schüler ab der 7. Klasse gedrängt, in den Komsomol einzutreten. Die Lehrer, die meist nur ihr persönliches Fortkommen im Auge haben und nur ungern an die tragische Besetzung ihres Vaterlandes denken, bedrängen die Schüler auf jede erdenkliche Weise zum Eintritt in die Pionier- bzw. Komsomolorganisation, wobei sie selber von der Schulleitung und dem Rayon-Bildungsamt unter Druck gesetzt werden. Sie raten den Schülern, den Eltern nichts darüber zu erzählen, fordern sogar zum heimlichen Kirchenbesuch auf, flehen die Schüler an, sie, die Klassenlehrer, nicht durch ihre störrische Haltung zu ruinieren u.s.w.

Musninkai (Rayon Širvintai)

Im Sommer 1977 waren in dem sich im Städtchen Musninkai befindlichen Erholungs- und Arbeitslager Schüler aus Vilnius untergebracht. In der Nacht des 3. Juli geschah auf dem Friedhof des Ortes eine barbarische Tat: 16 Denk­mäler wurden zerstört, andere umgestoßen, Statuen des Gekreuzigten zerschlagen. Die Täter sind, laut Feststellung der Milizbehörde, Bradauskas und Reimeris, beides Schüler der 10. Klasse.

Der Stellvertretende Vorsitzende des Rayon-Exekutivkomitees von Širvintai, D. Tverbutas, wandte sich mehrmals mit der dringenden Bitte an den Pfarrer, die aufgebrachten Eigentümer der verwüsteten Grabstätten zu beschwichtigen. De Einwohner von Musninkai hätten gerne die Aufmerksamkeit des Stellver­tretenden Vorsitzenden auf die moralische Erziehung der Jugendlichen gelenkt. In Musninkai gehören Trunksucht und wüstes Fluchen zur Tagesordnung der ortsansässigen Komsomolzen.

Telšiai

In der Mittelschule Nr. 5 wurde es zur Gepflogenheit, nachzuprüfen, ob die Schulkinder keine religiösen Anhänger trügen.

Zu den Lehrerinnen Šiluvienė und Povilioniene sowie der Schulinspektorin Matuzienė wurden nacheinander die Schüler gerufen und von ihnen verlangt, ihre Kirchgänge zu gestehen und ihre Schulfreunde zu verraten. So ähnlich geht es auch in der J. Žemaite-Schule vor sich. Die Lehrerinnen Bartkienė, Šerelytė, Austytė und Karnišovą zwingen die Schüler zur Beant­wortung atheistischer Fragebögen, drohen mit Strafen gegen Kirchgänger; die Lehrerin Karnišovą zieht dabei die Schulkinder an den Ohren. Dabei verkündet sie, die Kinder noch ganz anders an den Ohren vom Altar fortzu­ziehen, falls sie dort einen erwischen würde.

Die Eltern informierten über diese Vorkommnisse den Schuldirektor, der daraufhin erwiderte, daß sie ja ihre Kinder statt von der Schule, vom Pfarrer unterrichten lassen könnten.

Videniškiai (Rayon Molėtai)

Am 30. November 1977 kam Apolonija Rimšienė, ehemalige Verkäuferin im Schulkiosk von Videniškiai, bei einem Autounfall ums Leben; bereits ein Jahr vorher, am 10. Dezember 1976, war ihr Mann Ignas gestorben. Zurück blieben drei Waisen: Sigitas, Vida und Valentinas, Schüler der 4., 7. und 11. Klasse. Die Familie Rimša war religiös, ihre Kinder benehmen sich stets vorbildlich.

Das Begräbnis von Frau Rimšienė auf dem Friedhof von Videniškiai fand am 2. Dezember mit allem religiösen Zeremoniell statt. Die Teilnahme an der Beerdigung war den Mitschülern der Mittelschule durch den Direktor

A. Marcinkevičius streng untersagt worden. So wurde in den Klassen 4, 7 und 11 bekanntgegeben: „Da Rimšiene kirchlich beerdigt wird, nehmen die Schüler an dem Begräbnis nicht teil. Ich möchte dort keinen einzigen Schüler erblicken."

Das vom Direktor Marcinkevičius erlassene Verbot stellt nichts Ungewöhn­liches in Litauen dar. Entweder wird den Schülern die völlige Teilnahme an religiösen Begräbnissen verboten oder sie müssen sich während des Gottes­dienstes im Kirchenhof aufhalten und dürfen sich erst hinterher dem Trauerzug zum Friedhof anschließen.

Dubičiai (Rayon Varėna)

Für den Besuch der Kirche wurde im Schuljahr 1977/1978 folgenden Schülern der Achtklassenschule von Dibičiai die Betragensnote nach dem ersten Halbjahr vermindert: Alfredas Avižinis (2. Klasse), Virginija Adamavičiūte (7. Klasse), Marytė Skaramaitė (7. Klasse), Rita Kirkliauskaitė (7. Klasse), Marytė Aviži-nytė (8. Klasse) und Danutė Skaramakaitė (8. Klasse). Auf Befragen der Lehrerin hatten sich diese Schulkinder furchtlos dazu bekannt, in die Kirche zu gehen. Darauf sagte ihnen die Lehrerin: „Wer zur Kirche geht, der hat kein tadelloses Betragen".

Raseiniai

Im Dezember 1977 haben vier Schüler der Mittelschule von Raseiniai — Šatas, Sohn des 2. Sekretärs des Rayonskomitees, Stankus, Sohn des Redak­teurs der Zeitung „Naujasis rytojus" (Neuer Morgen), sowie die beiden Elfklässler, Jonyla und Jokūbauskas, die Opferstöcke der Kirche von Šiluva entleert. Ein Strafantrag wurde jedoch wegen Geringfügigkeit des Schadens nicht gestellt, die Beute habe ja nur einige Rubel betragen.

Taurage

In der Schule Nr. 4 von Taurage prüfte die Lehrerin Elena Bakutienė nach, ob alle Schulkinder der Klasse 4c ein Pionierhalstuch trügen. „Weshalb trägst du kein Halstuch?" fragte sie Arūnas Lorancas, der ohne ein solches erschienen war. Der Knabe erklärte daraufhin, daß er nicht zu den jungen Pionieren gehöre.

„Dann bist du ja ein Priesterchen!...", verhöhnte ihn die Lehrerin.

Eine litauische Lehrerin sollte einen litauischen Jungen nicht verhöhnen,

auch wenn die sowjetische Behörde nichts dagegen einzuwenden hat.