Vladas Lapienis schreibt:

». . . Vom 9. Dezember 1977 bis zum 27. Januar d. J. (1978) war ich im Kran­kenhaus.

Am 17. Februar d. J. hat der Lagerleiter gesagt, daß die >Ärztekommission< (die ich nicht gesehen habe) mich als gesund, voll arbeitsfähig befunden habe und mir die Invalidität der dritten Kategorie zuerkannt habe, die ohne Einschrän­kung der Administration der Kolonie das Recht gewähre, zu jeder beliebigen Arbeit einzuteilen. Man hat mir sofort befohlen, in den Heizungsraum zu gehen und als Heizer zu arbeiten. Diese Arbeit ist nicht leicht: man muß von draußen die Kohle heranschleppen, Holz sägen, die ausgebrannte Kohle und Asche nach draußen bringen und Tag und Nacht den im Heizraum befindlichen Ofen hei­zen. Ich habe ihm geantwortet, daß ich wegen fortgeschrittenen Alters und schwacher Gesundheit (ständiges Ohrensausen, öfters vorkommende und lästi­ge Kopfschmerzen, niedriger Blutdruck, Radikulitis und Herzschwäche) nicht imstande sei, eine solche Arbeit zu leisten. Dann wurde der Lagerleiter wütend und hat mit Karzer und anderen Strafen gedroht. Und in der Tat hat die Admi­nistration der Kolonie dafür, daß ich nicht als Heizer gearbeitet habe, mir eine schriftliche Mißbilligung erteilt, mich sieben Tage lang in den Karzer einge­sperrt, den Empfang eines Lebensmittelpakets in diesem Jahr verboten und im Monat Februar das Einkaufen von Lebensmitteln in der Lagerkantine verboten. In den anderen Monaten war es erlaubt, in der Lagerkantine für fünf Rubel Lebensmittel einzukaufen.

Einen Menschen zu bestrafen, der wegen fortgeschrittenen Alters und schwa­cher Gesundheit keine schwere Arbeit mehr zu leisten vermag, und für ein Ver­gehen sogar mit vier Strafen zu belegen, ist eine grobe Verletzung der elementar­sten Menschenrechte. Diese Tatsachen bezeugen, wie in unserem Lande die Menschenrechte respektiert werden. Ich habe doch schon beinahe 10 Jahre vor meiner Verhaftung nicht mehr gearbeitet und eine Rente bezogen. Deshalb nicht mehr gearbeitet, weil ich nicht mehr konnte. Einem jeden gesund denkenden Menschen ist es klar, daß nach Verlauf von mehr als 11 Jahren, von denen ich anderthalb hinter Gittern verbracht habe, meine Gesundheit keineswegs besser werden konnte. In Wirklichkeit hat sich meine Gesundheit merklich verschlech­tert. Und außerdem habe ich keine Ärztekommission gesehen. Nach Ankunft im Krankenhaus hat ein Arzt einige Minuten Zeit für Fragen nach meiner Ge­sundheit benötigt, ähnlich war es auch bei der Entlassung aus dem Kranken­haus. Eine sonderbare Ärztekommission! Wie kann ein einziger Arzt eine Ärztekommission bilden?

Im Karzer war ich vom 24. Februar bis zum 3. März eingeschlossen. Nach dem Karzeraufenthalt ist meine Gesundheit noch schlechter geworden. Der Lagerlei­ter hat keine Rücksicht darauf genommen und mir befohlen, in die Werkstatt zum Nähen von Handschuhen zu gehen. Im Weigerungsfalle drohte er mit einer vierzehntägigen Karzerhaft. Wie kann ich nähen, da ich wegen meines schlech­ten Sehvermögens keinen Faden in die Nadel einfädeln kann? Ob ich in den Karzer eingeschlossen werde, wird die Zukunft zeigen.

Aber ich bin ruhig, denn ich weiß, daß Gott unsere Zuflucht und Stärke ist. Ich weiß, daß es einen Gott gibt, daß ich eine Seele habe, einmal sterben werde und endgültig Gott mich richten wird. Ich weiß, daß es eine Ewigkeit gibt, nicht mehr wiederkehrend, nicht mehr verbesserungsfähig, und daß der einzige Weg in sie — Tugenden und Buße sind. Wenn auch die physischen Kräfte immer mehr abnehmen und schwinden, können wir uns doch anreichern mit geistigen Werten . . .

In euren Gebeten vergeßt uns nicht, die wir hinter dem Stacheldraht sind.
Den 7. März 1978                                                       Vladas.«

Ona Pranskunaite schreibt:

Immer ferner, ganz in die Ferne rückten die Spuren des Geburtslandes, Immer ferner, ganz in weite Ferne rückte der Himmel der Heimat. Ich grüße Euch aus dem Lande Čuvačien. Am 3. September erhielt ich den Be­fehl, mich fertig zu machen >mit Sachen<. Es war eine schier endlose Freude. Denn ich hatte schon 8 Monate lang keine Sonne mehr gesehen. Vier Wände und ein kleines, vergittertes Fenster. Wo ich hingebracht werde, hat man mir nicht gesagt, aber das war auch unwichtig, meinetwegen gleich nach Kamčatka. In dem mörderischen Gebäude des Sicherheitsdienstes war es mir ganz zuwider. Gegen 19 Uhr wurde ich aus der Zelle abgeführt. Beim Einsteigen in die >voro-noka< (blaue Minna) hörte ich die Worte: >Grüß' Dich, Onutė!< Mich begrüßte der mit mir verurteilte Lapienis. Die Freude hatte bald keinen Platz mehr in meiner Brust. >Die blaue Minna< hielt an beim Gefängnis von Lukiškės, um Kri­minelle mitzunehmen, und ich hatte die Möglichkeit, mit Lapienis zu sprechen. Auf dem Bahnhof haben viele Soldaten und Hunde auf uns gewartet. Der letzte Blick auf die Lichter der Stadt und — ade Vilnius! In der Nebenzelle des Wagens war Lapienis untergebracht. Er war gut aufgelegt — in keiner Weise von den schrecklichen Qualen gebrochen. Er hat mich be­stärkt durch Beispiele unserer Landsleute, die viele Qualen erduldet haben, durch Zitate der Hl. Schrift und Zeilen aus der >Nachfolge Christi<. Wahrhaf­tig, es gibt in unserem Volk Menschen, die auch unter den schwersten Umstän­den glücklich sind, in denen die Überzeugung von ihrer Wahrheit wie ein Feuer lodert, für die sie kämpfen. Tapfer nehmen sie Unbequemlichkeiten, Entsagun­gen, Qualen, ja sogar den Tod auf sich für ihre Überzeugung, die sie glücklich macht . . .

Durchgangsstationen: Pskov, Jaroslavl, Gorki, Celboksary, Kozlovka. Mit La­pienis haben wir uns im Gefängnis von Gorki getrennt. Er sagte: >Onutė, laßt uns diese Mission so erfüllen, daß daraus Ehre für Gott und unser Volk erwach­se . . .< Nach diesen Worten erhob er seine Augen zum Himmel und blieb eine Weile so stehen, erhaben wie eine Statue.

Am 12. September bin ich in Kozlovka angekommen. Der Eindruck ist recht traurig: Die Menschen sind so erschöpft und mürrisch, auf den kahlen Ästen der Bäume hört man keinen Vogelgesang. Offenbar haben auch diese das von Unglücksfällen heimgesuchte Gebiet verlassen.

Zur Zeit schleppen wir Asphaltmischung heran und asphaltieren durch Hand­arbeit die Wege. In Vilnius wurde ich von Schlaflosigkeit gequält, aber jetzt fal­len die Augen schnell zu.

Ich werde auch weiter geduldig meinen Karren schieben und den schweren Pfad begehen, der von vielen Füßen litauischer Frauen ausgetreten ist. Ich werde dort hingehen, wohin mich die Stürme des Lebens bringen, und zum Himmel auf­schauen. Jeder hat ein Juwel, das wert ist, behütet und verteidigt zu werden.

Ona

Die erste Zeit meiner Einkerkerung habe ich im Gebiet von Gorki verbracht. Dieses Mal haben die Schicksalsstürme mich etwas weiter verschlagen . . . Soll­te es Gottes Wille sein, so wäre ich bereit, das Los einer Gefangenen bis zum letzten Atemzug zu ertragen, ohne nach der Seite zu schielen, ohne für meine Person irgendwelche lichteren Aufheiterungen zu suchen. Es ist wichtig, daß ich diese Mission so erfülle, wie Gott es will. Dank der Gnade Gottes und Eurer Ge­bete habe ich den Willen und bin entschlossen, alle Schwierigkeiten zu ertragen. Nur eines fürchte ich, das Böse . . . ... ich will auf Eure Fragen antworten.

Womit wir gefüttert werden, ist schwer zu erklären. Das Brot wird für die Ge­fangenen extra gebacken. Dessen Bestandteile sind mir unbekannt. Sägemehl wird bestimmt beigemischt. Dieses Brot wird nicht nur für die Gefangenen gege­ben — damit füttern die Menschen auch noch ihre Schweine. Der Geschmack der Suppe ist etwas anders als vor zwei Jahrzehnten. Unsere Anzüge sind aus einem besonderen Stoff geschneidert. Wir bekommen auch ausgetretene Schuhe und einen Mantel, wie er in fünfzehn Republiken getragen wird, d. h. den Hun-dertnähtigen. Früher war es ganz anders — ich konnte meine eigenen Kleider tragen. Ich erinnere mich, daß man zur Zeit meiner ersten Einkerkerung mir Filzstiefel gegeben hat: einer war schwarz, der andere weiß. Der schwarze war eng. An der Seite habe ich mit dem Messer einen Einschnitt gemacht und konnte mich so vier Jahre lang daran erfreuen.

Obwohl wir nur >vorübergehend< isoliert waren, kann nicht jeder diese Isolation ertragen. Viele isoliert sie von allen >Lustbarkeiten< dieser Welt. Meine Gesundheit ist schlecht. Die letzten zwei Wochen habe ich in der Zelle al­lein zugebracht. In den Einzelzellen ist es für die Gefangenen schrecklich. Vor­her war in dieser Zelle der mit mir verurteilte Lapienis untergebracht. Auf dem Weg nach Osten erzählte er mir, daß er sehr krank gewesen und beinahe gestor­ben sei. Möglich, daß es nichts Besonderes ist, aber die Gase wirken, ohne daß man es spürt. Es ist schon vier Monate her, daß ich an meinem Leib offene Wunden habe. Ich absolviere bald schon das vierte, jeweils verschiedene Kur­verfahren, aber ohne jedes Ergebnis. Die Ärzte sind erstaunt. Ich kann ihnen zur Zeit die Ursache meiner Erkrankung nicht erklären . . . Es ist schwer, in einer auf Lüge aufgebauten Welt zu leben. In Vilnius hat mich jeder angegriffen, der nur Zeit und Lust dazu gehabt hat. Nachher wurde ich verurteilt und muß im Gefängnis sitzen für ein Vergehen, das ich nicht begangen habe. . .

In unserem Lager sind etwa 2000 Frauen. In den Sektionen wohnen wir zu 65—75. In den Wohnräumen gibt es keine Tische — sogar Schwestern schreiben auf einem schmutzigen Fußboden liegend!

Seid meinetwegen nicht besorgt. Ich finde meine Beruhigung, ja Freude in Ge­bet, Opfer und Gutestun für andere.

Ich danke für alles und sende meine herzlichsten Grüße an alle Kinder des Ma-
rienlandes.                                                                     Ona