Am Morgen des 2. März 1978 eilte Marytė Vitkūnaitė zur Medizinschule. Auf dem Rathausplatz stand ein »Volga« Nr. 84—82 und neben ihr drei Männer. Plötzlich hat einer von ihnen M. Vitkūnaitė an der Hand ergriffen und mit Ge­walt in den Wagen hineingezerrt. Neben ihr haben zwei Angreifer Platz genom­men und erklärt, daß sie Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes seien. Als M. Vit­kūnaitė nach Papieren verlangt hat, zog ein Sicherheitsbeamter ein rotes Büch­lein hervor, ließ aber keine Einsichtnahme zu. Unterwegs ist noch ein Wagen des Sicherheitsdienstes aufgetaucht, in dem drei Männer und eine Frau saßen. Bei M. Vitkūnaitė angekommen, haben sie ihr den Wohnungsschlüssel abge­nommen, das Zimmer selbst aufgeschlossen und sind alle hereingekommen. M. Vitkünaite bekam den Befehl, auf der Couch sitzen zu bleiben und sich nicht von der Stelle zu rühren. Major Urbonas verlas den Durchsuchungsbefehl: Man sei gekommen, um Literatur antisowjetischen Inhalts und das Vervielfältigungs­mittel zu beschlagnahmen. Die Schreibmaschine stand auf dem Tisch, deshalb genügte es, daß Vitkūnaitė mit einer Handbewegung bedeutet hat: »Nehmt mit.«

Die Durchsuchung wurde sehr sorgfältig durchgeführt. Die Sicherheitsbeamten haben jeden Fetzen Papier untersucht, die Bilder von den Wänden abgehängt, eins sogar auseinandergerissen und geschaut, ob inwendig nichts verborgen ist, die Couch abgedrückt, die Kissen, die Bettdecken aus den Bezügen herausge­nommen, alle Bücher durchgesehen, den Kühlschrank, alle Regale und den klei­nen Abstellraum durchstöbert. Sie waren über den Fund von Aušra (Morgenrö­te) Nr. 9 sehr erfreut. Und noch größer war ihre Freude, als sie 20 Seiten Ab­schrift von Aušra Nr. 9 gefunden haben.

Im Durchsuchungsprotokoll wurde nur Major Urbonas eingetragen, die übri­gen sechs Sicherheitsbeamten wurden aber nicht eingetragen (BPK — das Bür­gerliche Strafgesetzbuch, verlangt, daß alle Personen, die an der Durchsuchung teilgenommen haben, eingetragen werden). Beisitzer wurden von den Sicher­heitsbeamten ebenfalls mitgebracht — Aldona Prascieniūtė, wohnhaft in Kau­nas, Linkuvosstr. 19—1, und Kestutis Šermukšnis, wohnhaft in Kaunas, Kalnustr. 18—1.

Mit der Haussuchung hat man vor 10 Uhr angefangen und um 14.30 Uhr ge­endet.

Außer den obengenannten Schriften wurden noch die Broschüre von J. Girnius, Lietuviškojo charakterio problema (Problem des litauischen Charakters), ein Manuskript Žrnogus ir gamta (Mensch und Natur), verschiedene persönliche Aufzeichnungen, eine Kassette, die Schreibmaschine »Optima« u. a. beschlag­nahmt.

Nach der Haussuchung wurde M. Vitkūnaitė zum KGB in Kaunas mitgenom­men und bis 22 Uhr verhört. Der Sicherheitsbeamte Raudys hat vorgeschlagen, das Vergehen zu gestehen und ihr bei dem Sichherauswinden aus dem »Pech« Hilfe versprochen, sonst aber würde der § 68 des StGB angewandt. Raudys war nicht um Anstrengungen verlegen, Vitkūnaitė zu überzeugen, daß die extremi­stischen Priester sie in ihre Netze eingefangen hätten, daß zur gegenwärtigen Zeit Ruhe nötig sei, die Extremisten aber würden mit ihren Broschüren Unruhe im Volk stiften und gegen die sowjetische Regierung kämpfen, um selbst an die Regierung zu kommen. Vitkūnaitė erklärte, sie habe Aušra (Die Morgenröte) von einer Frau auf dem Kirchplatz bei der St.-Antionius-Kirche bekommen, durchgelesen, wäre von der dort geschriebenen Wahrheit begeistert gewesen und habe mit dem Abschreiben begonnen.

Ein Sicherheitsbeamter hat versucht, M. Vitkūnaitė als seine Agentin anzuwer­ben.

Die Vernehmungsrichter haben viel über Priester geredet. Sie waren erfreut über solche, die außer ihrer Arbeit in der Pfarrei nichts anderes unternehmen wür­den, waren erbost über solche, welche »den Frieden stören« würden. Der Si­cherheitsbeamte sagte: »Wir wissen, daß nur ein Mensch den Kampf führt. Wir werden ihn festnehmen, und das Erscheinen von sämtlichen Broschüren wird aufhören; wir werden ihn und alle seine Mitarbeiter weit verschicken.« Der Untersuchungsrichter fragte, ob die Verhaftete keine Angst vor dem Ge­fängnis hätte. »Wenn ich im Gefängnis durch mein Leiden wenigstens eine Seele gewinne, dann bin ich wirklich glücklich« — gab die Verhörte zur Antwort. Am Abend wurde M. Vitkūnaitė zum Keller abgeführt zur Übernachtung. Auf Bitten der Verhafteten hat man ihr den Rosenkranz nicht abgenommen. Im Kel­ler gab es weder ein Bett noch eine Matratze, noch Decken. Am 3» März wurde das Verhör schon gleich am Morgen wiederaufgenommen. Major Urbonas leitete das Verhör und führte das Protokoll, wobei er immer wieder betonte, daß Vitkūnaitė alles lügen würde. Der Untersuchungsrichter Markevičius hat die »Verbrecherin« angeschrien: »Willst du wohl auch leugnen, daß du Monika kennst, den Kleriker Ražukas, Angele aus Skiemonys?« Vitkū­naite erklärte, daß sie diese Personen nicht kenne.

Nach dem Mittagessen haben Markevičius und Urbonas die Vitkūnaitė nach Vilnius gebracht. Urbonas hat erklärt, daß der Chef des Sicherheitsdienstes mit der Untersuchungsgefangenen sprechen wolle. In einem kurzen Gespräch hat der Chef (seinen Namen hat er nicht genannt) erklärt, er habe sich mit dem Pro­zeß von Vitkūnaite beschäftigt und er würde weiter fortgesetzt, aber bis zur Ge­richtsverhandlung würde Marytė nicht festgenommen; sie dürfe weiterhin die Medizinschule besuchen. Um 18 Uhr wurde M. Vitkūnaite freigelassen. Am 1. März 1978 wurde der Alumne des Priesterseminars von Kaunas, Petras Ražukas, auf der Straße von zwei Sicherheitsbeamten festgenommen und zum KGB in Kaunas gebracht. Hier hat der Untersuchungsrichter Urbonas einen Durchsuchungsbefehl vorgelegt und im Beisein von zwei Beisitzern die Haussu­chung durchgeführt. Dabei wurden beschlagnahmt: Rüpintojelis (Der Schmer­zensmann) Nr. 3, von dem gleichen Rüpintojelis 7 noch nicht druckfertige Exemplare; einige Päckchen Schreibpapier, etwas Durchschlagpapier, ein No­tizbüchlein u. a.

Während des Verhörs haben die Sicherheitsbeamten gedroht, daß man wegen Verbreitung von antisowjetischen Schriften ins Gefängnis käme. Dem Untersu­chungsgefangenen wurde befohlen, eine Erklärung zu schreiben, woher er die Schreibmaschine und »Den Schmerzensmann« bekommen hätte. Einer der Be­amten hat die Klageschrift von Klerikern des Seminars an den Sicherheitsdienst vorgelesen, daß die Kleriker P. Ražukas, Kastytis Krikščiukaitis, Antanas Gra­žulis und andere antisowjetische Schriften bekämen und lesen würden. Am spä­ten Abend wurde der Kleriker P. Ražukas in eine Gefängniszelle abgeführt, wo er die Nacht mit Kriminellen verbracht hat.

Der Untersuchungsrichter Markevičius erklärte, daß P. Ražukas gemäß § 68

Abs. 1 des StGB der Litauischen SSR angeklagt ist, weil er die illegale Schrift »Der Schmerzensmann« verbreitet habe. Die Sicherheitsbeamten haben ein Protokoll aufgesetzt, eine Vorladung ausgehändigt, am nächsten Tag wieder zum Sicherheitsdienst zu kommen, und erlaubten ihm, zum Priesterseminar zu gehen.

Am 3. März wurde der Kleriker lange bearbeitet, daß in Litauen Religionsfrei­heit existiere, daß der Untersuchungsgefangene zu einer »extremistischen« Be­wegung gestoßen sei, aber er sei noch jung und könne sich bessern. Würde er dem Sicherheitsdienst nicht den Rücken kehren, dann würden sie ihm helfen, und vielleicht würde er dann aus dem Priesterseminar nicht entlassen. Man hat wieder gedroht, ihn mit Kriminellen in einer Zelle unterzubringen, mit Schimpfnamen wie »eine glatte Schlange«, »verschlagener Mensch«, »ein klei­nes Persönchen, aber ein großer Schwätzer« u. a. Sie redeten davon, am Mon­tag ihn wieder vorladen zu wollen, dann würde das Verhör langwierig, man müsse dann schon einen Henkelmann mitnehmen.

Nach dem Verhör haben die Sicherheitsbeamten den Kleriker P. Razukas bis zum Seminar gebracht und freigelassen.

Am 2. März, nach dem Mittagessen, kam ein Wagen des Sicherheitsdienstes vor das Priesterseminar gefahren, und zwei Sicherheitsbeamte haben verlangt, daß der Leiter des Seminars den Kleriker Vytautas Pūkas zum Verhör herausläßt. Im KGB haben die Sicherheitsbeamten davon geredet, daß er nach einigen Ta­gen sich anschauen könne, wie die Diakonatsweihen erteilt werden, und danach müßte er aus dem Seminar nach Hause gehen. Würde er aber die Wahrheit sa­gen, dann käme das nicht in Frage. V. Pūkas wurde gefragt, woher er die Schreibmaschine bekommen habe und wie diese zu Monika gelangt sei. Am Abend wurde der Kleriker entlassen.

Die letzten Nachrichten besagen, daß die Kleriker P. Ražukas und V. Pūkas am 25. März (1978) auf Befehl des Bevollmächtigten des Rates für Religionsangele­genheiten aus dem Seminar entlassen wurden.