Dies schrieb Vladas Lapienis:

»Bei warmem Wetter plagen uns Scharen von Mücken. Wehrlos sind wir ihrem Angriff ausgeliefert, draußen, in den Baracken, in der Kantine, d. h. dauernd — bei der Arbeit, beim Ausruhen, beim Essen. Öffnet man die Tür, schon drin­gen sie ein. Neben den Baracken gibt es ein paar Furchen. Hier sah ich den Häftling Paulaitis kauern und Unkraut jäten, neben sich ein brennender Reisig­haufen, inmitten von Rauchschwaden. Mücken hassen Rauch, und nur so ge­lingt es, dieser Plage einigermaßen Herr zu werden . . .

Auch ein rechtes Gebet ist eine äußerst wirksame Waffe, ein unerschöpflicher Reichtum, ein Quell aller Schätze, unser bester Lehrmeister.

Viele Menschen der geistigen und physischen Freiheit zu berauben, zugunsten eines einzelnen oder einiger weniger, ist ein schweres Verbrechen gegen die na­türliche Rechtsordnung . . .

Ein Gefangener muß, besonders bei Verhören, blitzschnell Entscheidungen tref­fen, er hat keine Gelegenheit zu beraten, noch ruhig nachzudenken. Da gibt es nur eins — höre auf die Stimme deines Gewissens. Wehe später dem Menschen, der in einem solchen Falle mit seinem Gewissen in Konflikt gerät.

3. Juni 1978«

»In Erwartung irgendeiner Kommission begann Major Alexandrow — Chef der fünften Zone in der Dritten Kolonne — in der ersten Junihälfte, die Wohnba­racke und die Schneiderwerkstatt so eifrig zu säubern und in Ordnung zu brin­gen, daß mir sogar eine in der Kantine gekaufte (leere) Speiseölflasche, auch deine mitgebrachten Knoblauchstauden weggenommen wurden. Dann über­brachte mir der hohe Chef höchstpersönlich vom Postamt die Zeitschriften und Zeitungen Tiesa, Komjaunimo Tiesa, dazu Czerwony Sytandar (polnisch) und Za Rubeiom(russisch). Allerdings nahm er sie mir nach 40 Minuten wieder ab, bevor ich sie richtig lesen konnte, und brachte sie höchstpersönlich zum Ver­brennen ins Kesselhaus. — Ein Gefangenenleben bedarf großer Geduld.

Schickt mir keine religiösen Bildchen nach Mordavien. Ich bin Gefangener und Durchsuchungen, Filzungen ausgesetzt. Es besteht keinerlei Garantie, daß der­selbe Zonenchef nicht auch religiöse Bilder konfisziert und verbrennt. Auch rate ich ab von der Zusendung maschinenschriftlich aufgezeichneter Gebete und reli­giösen Gedankenguts — das bedeutet doch nur neue Sorgen und zusätzliche Ar­beit für die Beamten vom Geheimdienst. Bei der Vernehmung konnte ich wie­derholt von Tschekamännern, Tschekisten, hören, sie hätten auch sonst Arbeit mehr als genug . . .

Zitate aus der Heiligen Schrift, der Nachfolge Christi und anderen religiösen Büchern sind notwendig und nützlich. Darauf warte ich sehr . . .

In der Freiheit konnte ich viele physisch kranke Menschen beobachten. In Gefängnis- und Lagerhaft erkannte ich dann, daß es außer körperlich Kranken noch Bedauernswertere gibt — geistig Kranke, Blinde, Lahme und Taube. Chri­stus sagt, man solle jene mehr fürchten, die geistige Gesundheit schädigen . . .

20. Juni 1978«

»Am 5. Juli wurde ich mit einigen Mitgefangenen aus der fünften Zone des La­gers Nr. 3, Wohnplatz Barasev, ins Lager Nr. 19, Wohnplatz Liesnoj,verlegt, das näher an Potma liegt. Das Lager hier ist vielfach größer als das, in dem ich bis zum 5. Juli war. Wie es heißt, gebe es hier allein 15 oder mehr litauische Ge­fangene.

Wenn du auf Besuch kommst, löse bitte gleich eine Fahrkarte Potma-Java und steige dort in die Draisine um. Verkehrt keine, so mußt du mit dem Autobus fahren. Doch die Straße hat Löcher, und manchen wird bei der Fahrt schlecht.

In dieser Kolonne bin ich seit dem 5. Juli, und heute ist bereits der 15., doch ha­be ich weder Zeitungen noch Briefe erhalten. Meine Einschulung als Hand­schuhmacher erweist sich übrigens als sinnlos, denn es gibt hier andere Arbei­ten .. . Schreibe mir unter folgender Adresse: Mordovskaja ASSR, st. Potma, p/o. Lesnoj ucr. zch. 385/19—3.

15. Juli 1978«

Es schreibt Nijolė Sadūaitė:

Aus dem Mordwinischen Lager schrieb Nijolė Sadūnaitė ihrem Onkel in den Vereinigten Staaten kurze Briefchen. Die Mehrzahl dieser Postkarten bzw. Brieflein hat den Empfänger nicht erreicht. Nijolė hat ihrerseits nicht einen ein­zigen Brief ihres Onkels erhalten.

An ihrem Verbannungsort in Sibirien erhält N. Sadūnaitė nur einen Bruchteil der an sie gesandten Briefe, Päckchen und Banderole-Sendungen. Ihre eigenen Briefe erreichen den Empfänger oft ebenfalls nicht.

In ihrem Brief vom 14. November 1977 schreibt Nijolė: »Die ersten von Antanas, Stefa und anderen an mich gerichteten Briefe sind verschwunden . . . Ich habe sie nicht und werde sie wohl nie erhalten. Seit ihrer Absendung ist viel Zeit vergangen.«

Etwas später schreibt N. Sadūnaitė: »Ich weiß keinen Grund, kann daher nur vermuten, warum manche Briefe aus Vilnius dort sehr lange liegenbleiben, bis sie nach Bogucanj weiterfliegen. Ein am 7. November datierter Brief wurde erst am 12. weiterbefördert und kam in Bogucanj am 18. November an.«

Am 29. November 1977 schrieb Nijolė: »Von meinen Briefen — ich schrieb ih­rer sechs — ist keiner angekommen, nur ein Satz Postkarten. Seltsam, wen konnten diese einfachen Briefchen schon groß interessieren? Darin war doch weder etwas Interessantes noch Geheimes.«

Am 3. April 1977 schrieb N. Sadünaitė: »Th. Scharf aus Westdeutschland rich­tete an den Leiter des Zentralpostamtes in russischer Sprache eine Anfrage, wie sie mir Päckchen schicken könne, wie diese zu adressieren seien, damit sie nicht zurückgewiesen werden. Sie besitzt bereits meine, ihr übersandte Adresse, hat sie fotografieren lassen und klebt sie auf die Kuverts der Briefe an mich. Ein Teil der mir von ausländischen Freunden übersandten Päckchen wurde ins Aus­land zurückgeschickt, mit dem Vermerk »unvollständige Adresse«. Dabei hat­ten diese Sendungen Bogucanj bereits erreicht, und die hiesigen Postbeamten kennen mich doch!«

Am 1. Februar 1978 schrieb Claudia Damm aus Westdeutschland an N. Sadü­naite: »Seit zweieinhalb Jahren schreibe ich Ihnen alle vierzehn Tage einen Brief . . .« Nijolė hat nur drei Briefe von Claudia Damm erhalten — aber Ein­schreibebriefe an Claudia versandt, und zwar am 22. Februar, 11. März, 7. und 21. April 1978 — doch Claudia hat keinen dieser Briefe erhalten. Nijolė schreibt dazu: »Claudia Damm habe ich vier Einschreiben geschickt, sie hat keinen er­halten. Ganz schön!? Heute habe ich ihr wieder geschrieben und mein Foto bei­gelegt, vielleicht wird sie wenigstens diesen fünften Brief erhalten. So was an Zensur! Außer ein paar Worten auf einer Postkarte schreibe ich doch nichts! Ihr armen Geheimdienstler . . . kein Tropfen Scham, von Gewissen keine Spur. Das ist nun ihre Moral . . .«

Am 21. April schrieb Nijolė: »Das Zentralpostamt hat eine Anfrage über Ver­bleib eines mir am 10. 12. 1977 aus Westdeutschland abgesandten Briefes erhal­ten. Name der Auskunft suchenden Person: Benigna Kaiser. Den Einschreibe­brief mit Empfangsbestätigung habe ich nicht erhalten. Bei der Post gab ich an, den Brief nie erhalten zu haben und über den Verbleib nichts zu wissen. Von Be­nigna habe ich nicht einen einzigen Brief erhalten.«

Vor fünf Monaten wurde Nijolė aus Israel ein litauischer Kalender des Jahres 1978 abgesandt, doch hat sie ihn niemals erhalten. Umgekehrt ist der Kalender auch nicht an den Absender zurückgegangen.

Aus Westdeutschland erhält N. Sadūnaitė verschiedene Banderole-Sendungen mit Lebensmitteln, die Etiketten einzelner Packungen mit pulverisierter Nah­rung sind abgerissen — so fehlt die Gebrauchsanweisung. Die Zensoren fürchte­ten sich anscheinend vor Etiketten mit deutscher Aufschrift, suchen nach irgend etwas, reißen selbst Zellophanbeutel auf, obwohl die doch durchsichtig sind und der gesamte Inhalt erkennbar ist.

Am 11. Dezember 1977 schrieb Erich Weiss aus Westdeutschland an Nijolė: »Meine Bekannten haben Dir viele Briefe geschrieben. Aus uns unverständli­chen Gründen wurden alle von meinen Bekannten an Dich gerichteten Briefe nach Deutschland zurückgeschickt. Denke ja nicht, liebe Nijolė, daß wir dich vergessen hätten . . .«

Wir brachten hier nur einen Bruchteil der Beispiele, wie die Zensur mit Briefen, Banderolen und Päckchen von Nijole Sadūnaitė verfährt. Die Absicht der Ge­heimdienstzensur ist eindeutig — eine Korrespondenz N. Sadūnaitė mit allen Mitteln zu verhindern. Man will nicht, daß sie etwas von der materiellen oder moralischen Unterstützung Gleichgesinnter verspüre.

Die Postbeamten wünschen, daß die Adresse von N. Sadunaite in russisch ge­schrieben wird: SSSR Krasnojarskij Kraj, 663430 Bogucam, Partizanskaja 17 kv. 1, Sadunaite Nijole, Jono . . .