Teure Priester-Brüder!
Von anderen dazu aufgefordert und der Sache selbst von Herzen zugetan, wende ich mich an euch mit diesem Schreiben:
Sorgenerfüllt haben sich Angehörige der heutigen Intelligenzschicht zur Frage der immer weiter um sich greifenden Trinksucht geäußert, und es besteht sicher aller Anlaß, besorgt zu sein. Häufiger Alkoholgenuß wird mehr und mehr zu einem Bestandteil unseres Lebens, verdirbt gute Sitten, zerstört ehrenvolle Traditionen und zeitigt schreckliche Folgen.
Zu Recht wird der Vorwurf erhoben, außer der Verkehrspolizei widme sich hierzulande niemand ernsthaft dem Kampf gegen die Trunkenheit (so Prof. Dr. A. Marcinkevičius). Dieser Vorwurf trifft auch uns als Priester und uns besonders schmerzhaft, denn wir tragen vor Gott, der Kirche und unserem Volke gegenüber ein besonderes Maß an Verantwortung.
Was also haben wir zu tun? Vor 120 Jahren hat ein hochwürdiger Sohn unseres Volkes, der Bischof der Žemaitija, M. Valančius, diese Frage bereits beantwortet. Es gelang ihm damals, unter keineswegs günstigen Umständen, in seinem gesamten Bistum eine große Enthaltsamkeitsbewegung ins Leben zu rufen. Seinen Priestern schrieb der Bischof im Jahre 1858: »Mit großer Freude habe ich erfahren, daß die Menschen in vielen Gemeinden sich verpflichtet haben, keinen Branntwein mehr zu sich zu nehmen. Ich sehe darin ein Zeichen göttlicher Gnade des Eifers der Geistlichkeit und hoffe, daß alle Schäflein meiner Herde diesem guten Beispiel folgen werden . . . Inzwischen aber wollen wir nicht jenen Pharisäern gleichen, denen Christus vorwarf, sie bürdeten anderen Lasten auf, ohne selbst auch nur einen Finger zu rühren. Daher gebe ich allen geliebten Priestern Christi meinen heißen Wunsch kund und zu wissen, sie mögen selbst nichts mehr trinken, auch andere keinen Branntwein sehen lassen . . . und damit bezeugen, daß sie den ihrer Obhut anvertrauten Menschen beispielgebend vorangehen.«
Einige Zeit später, am 28. November 1858, verpflichtete der Bischof auch die Mitglieder seines Kapitels, die Professoren und Kleriker dem Abstinenzgedanken, auf daß mit einer neuen Priestergeneration eine neue Epoche beginne. Am 1. März 1859 richtet der Bischof ein Schreiben an die Gutsbesitzer, die damals über großen Einfluß verfügten: »Wenn ihr eure Leute liebt, so bewahrt ihnen väterliches Wohlwollen und achtet darauf, daß niemand dem Abstinenzversprechen fernbleibe ... Die Menschen mit verhärteten Herzen werden hinwegsterben und eine neue Generation heranwachsen, die Wiedergeburt eines starken und gesunden Menschenschlages wird sich vollziehen«. Der mit so viel Glaubensmut, Kraft und Energie propagierte Abstinenzgedanke zeitigte wahrhaft erstaunliche Folgen: Mehr als eine halbe Million Menschen in
197 Gemeinden schlössen sich sofort in der Enthaltsamkeitsbewegung zusammen, und die Einkünfte aus dem Alkoholvertrieb gingen im zweiten Jahr um 68% zurück.
Seinerzeit schrieb der heilige Paulus, der Apostel der Völker, an die Römer: »Die Stunde ist da, nunmehr aus dem Schlafe zu erwachen« (13,11).
Teure Priester-Brüder! Uns hat die Stunde geschlagen, vom Schlafe zu erwachen. Das Osterfest dieses Jahres bietet eine willkommene Gelegenheit, zusammen mit Christus aufzuerstehen. Daher:
1. bringen wir uns selber zum Bewußtsein, machen wir es anderen klar — in allen Lebenslagen Gott anzurufen, statt im Alkoholrausch Trost zu suchen;
2. wir entschließen und verpflichten uns öffentlich, keinen Alkohol mehr zu uns zu nehmen, nicht einen Tropfen, und niemand Alkohol anzubieten;
3. wir wollen alles tun, daß alle Gemeinden unseres Bistums von einer starken Abstinenzbewegung ergriffen werden;
4. wir verlangen in aller Strenge, daß Alkoholgenuß im Zusammenhang mit religiösen Dienstleistungen unterbleibt;
5. wir fordern die Gläubigen auf, in dieser Intention öfter zur heiligen Kommunion zu gehen, einzeln und in Gemeinschaft den heiligen Rosenkranz zu beten.
6. wenn ihr am Ostermorgen die Gläubigen eurer Gemeinden grüßt, erinnert sie mit packenden Worten auch an die Notwendigkeit, Enthaltsamkeit zu üben.
So helfe euch der auferstandene Christus! gez. Pfarrer A. Vaičius Verwalter der Diözese Telšiai und der Prälatur Klaipeda
Telšiai, zum heiligen Osterfest des Jahres 1979