Petras Paulaitis schreibt in seinem Brief vom 10. September 1981:

Die meisten von uns (11 Litauer) halten sich, was die Gesundheit betrifft, noch zufriedenstellend. Verständlich, daß alle viel erlitten, viel durchgemacht haben und voller Sorgen sind. Ich bin sicher, daß unsere Eltern und Ahnen keinen Anlaß hätten, unseretwegen erröten zu müssen, und ich bin überzeugt, daß unsere Kinder — die kommende, uns ablösende Generation, es auch nicht wird tun müssen. Immerhin sind diese gewöhnlichen, einfachen Men­schen aus unseren Dörfern jetzt die Gefangenen, die Märtyrer, die für die Freiheit des Vaterlandes alles hergeben, sogar im Ubermaß, und sie werden es auch weiter hergeben, was in ihnen steckt. Nur gib, o Gott, ihnen Aus­dauer!

In diesem Jahr, am 30. Oktober, werde ich des 34. Jahres gedenken, das ich für unser liebes Vaterland erleide. Mit Hilfe des Allmächtigen hoffe und will ich nach restlichen 13 Monaten das Ufer der Freiheit erreichen und Euch wiedersehen... Sie lassen viele für mich ankommende Briefe nicht durch.

Ich verbeuge mich vor allen Brüdern und Schwestern, die guten Willens sind.

 

Vytautas Vaičiūnas schreibt:

Am 10. August 1981 brachten sei mich aus Pravieniškės in das Gefängnis nach Vilnius. Am 15. August brachten sie mich aus Vilnius in das Ge­fängnis nach Smolensk, wo ich einen ganzen Monat blieb, und am 15. Sep­tember haben sie eine trockene Nahrungsration ausgegeben, d. h. ein Laib­chen Brot, wie aus Kleie gebacken, und salzigen Fisch. Ich habe keinen Fisch gegessen, weil er sehr salzig war; jene aber, die gegessen haben, litten nachher an sehr großem Durst. Die Soldaten die uns bewachten, waren sehr grausam, sie fluchten und beschimpften die Gefangenen mit Worten, die jeder Zensur spotteten. Nach einem Reisetag erreichten wir Woronesch, wo sie uns den ganzen Tag über nichts zu essen gaben. Von hier aus sind wir am 19. September fast ohne Pause nach Tscheljabinsk gekommen, von wo aus sie uns am 21. September wieder weiter fuhren, und am 22. September in die Stadt Rakal brachten, die sich im Südural ewa 200—250 km westlich von Tscheljabinsk befindet.

Als ich noch in Vilnius war, bin ich zweimal ohnmächtig geworden und um­gefallen. Dabei verletzte ich sehr stark meinen Arm. Oberhalb der Hand­fläche entstand, ich weiß nicht wodurch, eine Wunde, die nicht heilte. Auf meine Bitte, mir medizinische Hilfe zukommen zu lassen, reagierte niemand. Erst nach längerer Zeit und schon ohne meine Bitte wurde die Behandlung begonnen, und die Wunde heilte zu.

Das Lager, in dem ich mich jetzt befinde, ist für 700—750 Menschen be­stimmt, es sind aber 1500 hier — die meisten von ihnen sind Drogenab­hängige. Dieses Lager soll nur für Narkomanen bestimmt werden. Die Um­stände sind sehr niederdrückend. Das Sagen haben hier ausschließlich die »Bladnij«, die jeden Besserbekleideten ausziehen, und wenn sich einer widersetzt, den schlagen sie zusammen, nehmen ihm seine Kleider ab und ziehen ihm ihre eigenen Lumpen an; und du kannst dich bei niemandem beschweren, denn niemand wird dir helfen, sie aber schlagen dich danach noch grausamer zusammen, damit sich ja niemand traue, eine Beschwerde vorzubringen. Mir haben sie auch mein Kopfkissen, Bettlaken, Handtuch, die Socken, die Taschentücher gestohlen. Jetzt schlafe ich mit der Hundert-nähtigen (Oberkleidung eines Gefangenen) unter dem Kopf. Man erlaubt uns, monatlich für 7 Rubel einzukaufen, davon ziehen sie allerdings noch Gebühren für verschiedene Sachen ab. Es gibt einen Kaufladen, wo man nur einfache Karamellen und Margarine einkaufen kann. Ich arbeite als

Elektriker. Sie verlangen, daß meine und die an mich gerichteten Briefe russisch geschrieben werden, und sollten sie litauisch geschrieben werden, dann ließe man sie nicht passieren. Ihre Briefe schreiben Sie, bitte, nur li­tauisch, eingeschrieben und mit Rückschein, und wenn ich sie nicht bekom­men werde, dann wird es auch ohne Briefe gehen.

Die Adresse von Vytautas Vaičiūnas: 456902 Tscheljabinskaja obl. g. Bakal 2 učr. p/č JAV 48.9-10-100 Vaičiūnas Vytautas, Antano, USSR.

 

Mečislovas Jurevičius schreibt in seinem Brief vom 29. September 1981:

Gelobt sei Jesus Christus! Ich schreibe Euch den ersten Brief aus einem fremden Land. In Marijampolė hatte ich mich an die Lage schon gewöhnt. Am 3. August haben sie mich auf dem Weg zur Arbeit aufgehalten und mir mitgeteilt, daß heute per Etappe abgefahren wird. Wohin und wie — habe ich nicht gewußt. Seht, wohin sie mich verbannt haben — ins Ausland. Wes­wegen, das habe ich nicht erfahren. Das bedeutet, eine weitere Strafe ist hinzugekommen: Verbannung aus der Heimat, aus dem uns so kostbaren, geliebten und mit Blut getränkten Land. Uns, den Litauern und Christen, ist sie besonders kostbar, denn für sie sind zahlreiche und mancherlei Opfer und Leiden erbracht worden. Hier haben wir den dem Litauer so kostbaren katholischen Glauben empfangen, den so viele aus den Herzen der Litauer auszureißen versuchen. Aber umsonst haben sie es versucht und umsonst werden sie es auch weiterhin versuchen. Dieser Kampf der Gottlosen ist aussichtslos. Wir stehen in Gemeinschaft mit Christus und mit Maria, wir kämpften und wir werden auch in der Zukunft kämpfen für das Reich Christi in Litauen. Die Gottlosen sagen, daß der Glaube dem litauischen Volke mit Waffen und Gewalt gebracht worden ist. Jetzt wird man ihn aber auch mit keinen Waffen einem Litauer wegnehmen können, wird ihm weder mit Gefängnis, noch mit grausamsten Verfolgungen Angst machen können. Man darf den Gottlosen für die Verfolgungen nur Danke sagen, denn sie festigen nur den Glauben. Je mehr und je grausamer er verfolgt wird, desto fester und köstlicher wird er. Judasse gab es zu allen Zeiten, und wird es auch geben.

Haltet auch Ihr, meine Lieben, den Glauben in Ehren, praktiziert ihn nicht oberflächlich, sondern vom Herzen. Schätzt besonders die Hl. Sonntags­messe, nehmt bewußt daran teil. Das ist mein größter Wunsch, den ich an Euch habe, das ist auch die größte Unterstützung für mich eurerseits. Ein wenig über mich selbst. Am Abend des 3. August war ich schon in Vilnius, und am Abend des 5. fuhren sie uns von dort weiter. Neue Kreuzes­wege haben begonnen. Die Lebensbedingungen sind unmenschlich. In Wo-ronesch haben die Diebe mir meine letzte warme Unterwäsche weggenom­men. Diese qualvolle Reise habe ich, mit solcher meiner Gesundheit, unter diesen unmenschlichen Bedingungen wahrhaftig nur wie durch ein Wunder überstanden. Es ist unmöglich alles zu beschreiben.

... Schreiben Sie mir baldmöglichst einen Brief, weil ich in Marijampolė keinen einzigen Brief erhalten habe; hier sind sie mir sehr willkommene Gäste, besonders wenn sie von Zuhause oder von Freunden kommen. Sagen Sie ihnen, sie sollen öfter schreiben, ich warte sehr auf Briefe aus Litauen.

Wie es mit meiner Gesundheit steht, ist klar, sie war auch in der Freiheit nicht gut.. . Alles steht in Gottes Hand! Sonst ist meine Stimmung gut, ich bin ruhig. Ich bete für Euch alle. Bestellen Sie meine Grüße allen Bekannten.

Ich sage: mit Gott. Ich vertraue mich Euren Gebeten an.

 

Die Adresse von M. Jurevičius: 456870 Tscheljabinskaja obl. g. Kyštym, učr. JAV 48/10-3 Jurevičius Mečislovas, Jurgio USSR

Viktoras Petkus schreibt in seinen Briefen aus dem Gefängnis Kutschino:

An die Umgebung habe ich mich, so könnte man sagen, schon gewöhnt. Deswegen wiederhole ich aus Dankbarkeit der Vorsehung gegenüber jeden Abend das vor dreißig Jahren gelernte Gebetchen:

»Du kommst durch dicke Mauerwände an bewaffneten Wachen und an Gittern vorbei, Du bringst mir eine sternenvolle Mondnacht und fragst mich, wo denn jene sind, oder der? Du — mein Erlöser — ich kenn Dich. Du bist mein Weg, meine Wahrheit und mein Leben. Und mein Kerker erblüht mit Sternen und es ergießt sich Ruhe und Licht. Du streust mir schöne Worte, wie Blüten: »Was fürchtest du dich, mein Sohn? Ich bin mit dir!« Wir aber singen in einem Eckchen flüsternd die Psalmen, und das taube Gefängnis hört uns zu.

Deinen Brief vom 20. Februar habe ich am 19. Mai bekommen. Möglicher­weise wird auch mein Brief drei Monate lang bis zu Dir reisen. Übrigens, auch mit russischen Briefen ist es nicht wesentlich besser. Zum Beispiel: Ich bekam einen Brief aus Kaunas vom 7. April erst am 19. Mai, obwohl der Stempel des örtlichen Postamtes den 12. April zeigt! Bei dieser Gelegenheit fragte ich die Administration, ob sie vielleicht angefangen hätten, meine russischen Briefe in die litauische Sprache zu übersetzen, weil sie sich wegen der langen Reise der litauischen Briefe damit verteidigten, daß man diese in die russische Sprache übersetzen müsse.

Am 23. Februar habe ich einen 52seitigen Brief über den Thomismus und Neothomismus in der Philosophie und ihre Wirkung auf die Schöne Literatur Litauens abgeschickt. Schon am 2. April abends teilten sie mir mit, daß er wegen angeblich schädlicher Äußerungen konfisziert sei. Sehr schade, daß ich keine Möglichkeit habe, aktiver auf meine erhaltenen Briefe zu antworten, denn die Limitierung bindet die Hände. Die lieben Menschen begreifen es und schreiben geduldig und wiederholt, obwohl sie von mir nicht die kleinste Nachricht bekommen. Diese Briefe bringen mir den Wind der Heimat und das Rauschen der Kiefern vom Hügel der Birutė, das Klingen der Lieder der die Kalvarien gehenden Menschenmengen und die Worte des Dichters:

»Wer den Kreuzesweg mit mir leiden wird, der wird mein Freudenfest feiern!«

Man möchte so gerne mit dem Dichter wünschen:

»Widerhallt, o Worte, bis zu den Wäldern meiner Heimat, erklinget lebendig im Herzen der lebendigen Litauer.«

Heute feiere ich Šilinės. Und ich bin in Gedanken bei jenen Steinen, bei denen sich schon seit vier Jahrhunderten die Kinder Mariens versammeln. Wie schnell vergehen unsere Tage! Mir scheint als wäre es gestern, vor­gestern gewesen, daß meine Eltern mich Kleinen jedes Jahr auf die Fahrt zu diesem großen Fest mitgenommen haben. Auch sie warten schon seit ein paar Jahrzehnten auf dem Sandhügel von Raseiniai auf mich und können es nicht erwarten. Wie kurz sind die Tage unseres irdischen Daseins! Mir ist es die ganzen vergangenen Jahre gut ergangen. Einen unwiederhol-bar schönen Eindruck hinterließen auf mich über vierzig Diebe und andere Menschen gemeinsamen Schicksals verschiedener Färbung, die, als der Papst Paul VI starb, mich baten, über die Päpste zu erzählen und später, den Unterschied zwischen Katholiken und Orthodoxen zu erklären. Ich stützte mich auf den russischen Philosophen Wladimir Solowjow (1853—1900), dessen Gedanken ihnen näher sein könnten, und bemühte mich, ihre Bitte zu erfüllen. Wie sie alle still wurden und mir stundenlang mit größter Auf­merksamkeit zuhörten und mich anschließend mit Fragen überschütteten! Und ich werde nie vergessen, wie einige von ihnen — in eine Ecke zusam­mengerückt — einen Nylonstrumpf auseinanderzupften und den ganzen Nachmittag irgendetwas arbeiteten. Nach dem Abendessen überreichten sie mir ein aus diesen Fäden gestricktes Kreuzchen — als Dank dafür, daß ich mein Wissen mit ihnen geteilt hatte. Möglicherweise habe ich nie in meinem Leben ein kostbareres Geschenk bekommen!

»Armselige Menschen, wie sie nach der Wahrheit hungern und dürsten! Und wie schwer ist ihr irdischer Weg.«

Julius Sasnauskas schreibt in seinen Briefen im September 1981:

Wie wichtig ist es, in jenen entscheidenden Momenten des Lebens, wo man den einen menschlichen Wert, die Lebensfähigkeit der eigenen Ideen unter Beweis stellen muß, die Notwendigkeit des Opfers von ganzem Herzen zu erkennen. Angesichts dieser großen Werte, zu deren Bewachung und Ver­teidigung wir berufen sind, verblassen die persönlichen Verluste. Ich beuge mich nur vor der wundervollen Religion allein, die die Geister und die Herzen der Menschen vereinigt, die eine unversiegbare Quelle der Liebe ist. Möge der Herr allen die Augen öffnen, die den Weg zu ihr noch nicht gefunden haben.

Man kann die Heimat, die Freiheit, die Wärme der Familie, die Freunde verlieren, doch solange der Geist lebendig bleibt, werden wir diese Werte in uns selber finden können — denn der allesschaffende Glaube wird sie uns spenden. Wenn wir in der Lage sein werden, in den unterschiedlichsten Stürmen die Klarheit unserer Jugendideale zu bewahren, dann werden später auch die größten Mühsale, Verluste, Mißerfolge — nichts wird uns dann unterkriegen können: in uns wird eine unversiegbare Quelle der Erneuerung unaufhörlich fließen. Die Pflege der großen Ideen, ihre Verteidigung ver­langt aber einen ständigen Kampf, verlangt Opfer. Und die Treue zu ihnen wird nicht durch einen kurzfristigen Enthusiasmus bewiesen, sondern durch ein ganzes Leben, nicht selten um den Preis von schweren Verlusten oder gar des eigenen Lebens. Es kann eine abstrakte Liebe weder zu Gott, noch zu der Heimat geben, — es gibt nur eine, deren Existenz in unseren Herzen wir durch unsere Taten beweisen. Der Apostel Johannes sagte schon seinerzeit: »Ihr sollt mit der Tat und nur der Wahrheit lieben.« Sowohl eine berühmt gewordene Heldentat als auch eine gänzlich unbekannte, geduldig verrichtete tägliche Arbeit haben denselben Wert, wenn sie von der Liebe Christi inspiriert sind. Sollten unsere Anstrengungen auch die unan­gesehensten sein, an ihrem Sinn sollte man nicht zweifeln. Was bedeutet es, wenn wir die Verwirklichung unserer Erwartungen auch nicht sehen (mög­licherweise werden wir selber sie auch nicht zu sehen bekommen); auch ein Bauer, wenn er im Herbst das Saatkorn in den Acker ausstreut, sieht das Ergebnis seiner Arbeit noch nicht. Es wird aber die Zeit der Ernte kommen, und das mit Tränen ausgestreute Korn wird zur Freude werden, wenn auch vielleicht schon andere die Gaben der Ernte einsammeln werden. Unsere Felder sind durch Jahrhunderte ihrer Fruchtbarkeit wegen berühmt gewor­den, und: wenn die Jahre der Fröste und der Dürren vorbei sein werden, dann werden sie wieder eine reiche Ernte reifen lassen. Lasset uns, alsdann, mit zuversichtlicher Hand das Saatkorn ausstreuen.

Und wenn heutzutage immer mehr junge Menschen ihre Treue zu Gott und Vaterland beweisen wollen, dann sollen sie sich abhärten, sollen lernen und arbeiten — mit Geduld, verantwortungsvoll, mit Liebe. Dies alles verlangt nicht weniger Aufopferung ab, als in der Unfreiheit zu sein. Wir sollen aber immer das Korn von der Spreu trennen: nur die allergrößten Werte, die man verteidigen soll, machen den Kampf und das Leid des Menschen sinnvoll. Ortsansässige Einwohner, Einheimische, gibt es in Parabel nicht viele — die meisten sind Hergereiste, die nach Glück suchen. Die Menschen sind einander fremd geworden, in ihren Sorgen versunken. Ihr Dasein ist, selbstverständ­lich, nicht leicht und Trost wird nur im Rausch gesucht. »Was braucht denn ein russischer Iwan? Nur Brot und Schnaps — und weiter nichts!«, das ist eine Antwort von ihnen selbst.

Selbstverständlich ist das Bild nicht überall gleich. Ich bin auch sehr, pracht­vollen und gebildeten Menschen begegnet. Ihre Anwesenheit erhellt diese öde Landschaft. Sonst aber gibt es Unordnung wie auch Willkür über alle Maßen, und es scheint so, daß sich niemand auch nur im geringsten bemüht, irgendetwas zu bessern. Vielleicht, so meine ich, ziehen solche Ortschaften deswegen die Vagabunden an, weil man dort ungeniert und ohne Rücksicht leben kann?

... Können wir überhaupt die wahren Werte finden und wahrhaftig glück­lich sein, ohne einmal Leid, Armut und das Verlorensein erfahren zu haben? — Per aspera ad astra, per crucem ad lucem — besagt ein alter Spruch. Und das ist eine durch die Jahrhunderte erhärtete Wahrheit. Ein umgewandelter, versinnlichter Schmerz ist ja gerade die erste Ursache der Vervollkomm­nung, der wie ein Gewitter die Tiefen der Seele durchleuchtet, erschüttert und belebt. Ein ruhiges, konfliktloses Dasein ist nur ein Vegetieren. Auch in der Natur leuchtet der Himmel nach einem Gewitter am klarsten. Leider sind wir nicht immer in der Lage, die Ursachen der Geschehnisse und ihren Sinn richtig zu beurteilen und, wenn die Jahre der Erprobung kommen, ver­stecken wir uns ängstlich, um ihnen auszuweichen. Und gerade das ist nur Selbstbetrug: Nur dann kann sich ein Mensch erneuern, seine Seele von dem alltäglichen Ballast befreien und auf die Höhen des Geistes hinaufsteigen, wenn er jedesmal, wenn er den Schmerz empfindet, in ihm auch gleich einen Sinn findet.

Wir leben wahrhaftig in einem kritischen Moment und deshalb gilt es, nicht selten nachzudenken: was bezwecken wir, was wollen wir den nachkommen­den Generationen hinterlassen? Eine ausgesaugte, verwüstete Natur, erbliche psychische Krankheiten, derer es immer mehr gibt, Gesetze der allgemeinen Gleichgültigkeit, der Rache und des Hasses, die anderen Laster der Epoche? Die geistige Verkrüppelung des Menschen erreicht heutzutage unerhörte Ausmaße — was hier am besten zu beobachten ist. Ich lese noch einmal die Gedanken Ihres Briefes, die von tiefer Sorge um die Zukunft der Menschheit und unserer Zivilisation diktiert sind, und ich finde dort nicht nur die Fest­stellung der jetzigen tragischen Lage der Welt, sondern auch den vorge­zeigten Weg, wie man aus dieser bestehenden Aussichtslosigkeit heraus­kommen kann. Das ist der Kampf um die höchsten Werte der Menschlichkeit, das ist die Selbsterneuerung im Lichte des Glaubens.

GULAG. Sieben Kilometer von der Bahnstation Wseswiatskaja entfernt, am Rande der Taiga, befindet sich eines der vielen Lager des Inselreiches GULAG: VS-389-35, wo Povilas Pečeliūnas, Gintautas Iešmantas, Jurij Orlow, Schtscheranskij, sowie andere gefangengehalten werden. Die Lager von Perm: die allerschrecklichsten Kombinate des geistigen Terrors. Mit siebenreihigem Stacheldraht umzingeln sie die Körper der Gefangenen, und mit einem unvorstellbar mannigfaltigen Netz der Bespitzelung, des Verrats, der Verfolgung und Erniedrigung — ihre Seelen. Eine sklavenhafte, sinnlose, stundenlange Arbeit verzehrt ihre physischen Kräfte. Die kommunistische Erziehung zeigt sich auch hier in ihren verschiedensten Formen. Hier herr­schen eigene Gesetze. Fleißige Verräter und Provokateure werden prämiert (zusätzliche Besuchserlaubnisse, Sendungen) und jene, die gewissenhaft ar­beiten, dürfen nur hoffen, daß ihnen das Minimum nicht entzogen wird. Die ungehorsamen Gefangenen werden andauernd verfolgt. Eine besondere Rache wird an Gintautas Iešmantas ausgeübt. Seine Gedichte werden syste­matisch konfisziert. Povilas Pečeliūnas wird pausenlos von einem Tschekisten des Sicherheitsdienstes aus Vilnius sonderbetreut, der ihm versprach, seine Akten erst dann durchzusehen, wenn er seine früheren Mitarbeiter verraten werde. In der Angelegenheit der Aktendurchsicht schrieb P. Pečeliūnas an den Ministerrat der LSSR, an den Generalstaatsanwalt der UdSSR, aber alles endete damit, daß die Tschekisten das letzte Wort haben! Der Verteidiger der Menschenrechte, Schtscheranskij, wird besonders von dem KGB »che-fiert«. Er wird auf Schritt und Tritt gedemütigt und gejagt. Ihm wird be­fohlen, die schwersten Arbeiten zu verrichten, und wenn er nicht mehr kann, wird er bestraft.

Im Oktober fand ein allgemeiner Streik der Gefangenen statt, um des Tages des politischen Gefangenen zu gedenken. Es wurde ein politischer Status verlangt. Dem Streik schlössen sich auch vierzehn Gefangene des Lagers VS-389-35 an.

Lasset uns Gott um geistige und physische Kraft für sie bitten, und für die Menschen guten Willens um Mut, ihnen zu helfen.