Jede Ablaßfeier bringt in das graue, eintönige Leben des Katholiken Litauens viel Belebung und geistige Freude. Höhepunkte sind die großen Ablaßfeiern von Žemaičių Kalvarija, Šiluva und vom Tor der Morgenröte in Vilnius. Sie haben schon lange die Grenzen Litauens überschritten: Es kommen Pil­ger aus Lettland, Estland, Weißrußland und sogar aus dem fernen Kasach­stan. Wenn die gottlose Regierung auch die Pilger verschiedenartig hindert, so kommen zu den Ablaßfeiern trotzdem jedes Jahr Tausende von Menschen, und die Gläubigen teilen nachher noch lange die erlebten Schmerzen und die Freuden unter sich.

Vor den großen Ablaßfeiern von Šiluva im vorigen Jahr riefen die Gott­losen eine »Schweinepest« aus, sie aber später für abgeklungen zu erklären, fehlte ihnen der Mut. Dieses Jahr warteten die Leute auf neue »Perlchen« der Phantasie der Gottlosen, die gewöhnlich nicht nur Litauen allein in Er­staunen setzen, sondern auch die öffentliche Meinung der übrigen Welt.

Da schon seit zwei Jahren die Regierung die Jugend und die Pilger daran hindert, organisiert nach Šiluva zu gehen (die Tschekisten wiederholen an­dauernd: »Auch in Polen begann alles mit dem Rosenkranz!«), gehen dieses Jahr schon seit Anfang des Frühjahrs die Leute einzeln oder in kleinen Gruppen aus Tytuvėnai (9 km), aus Raseiniai (19 km), oder sogar aus Kaunas (etwa 95 km), Rosenkranz betend, zu Fuß nach Šiluva.

Am Sonntag, dem 29. August 1982, zog eine kleine Schar von Gläubigen, Rosenkranz betend, aus der Kirche von Tytuvėnai in Richtung Šiluva. Auf der Landstraße, die nach Šiluva führt, huschten die Miliz- und KGB-Autos hin und her. Wie es nicht anders zu erwarten war, hielten die Beamten die Pilger an, um sie auszufragen: »Wo geht Ihr hin? Wer seid Ihr? Zeigen Sie Ihre Pässe!« Die Überraschten erklärten, daß sie nach Šiluva gingen, um zu beten. Die Tschekisten beschuldigten sie der Übertretung der öffentlichen Ordnung, denn man dürfe beim Gehen nicht laut Rosenkranz beten (obwohl es rings herum nichts als nur lauter leere Felder gibt). Sie notierten die Na­men und Adressen einiger Einwohner von Šiauliai: von Ieva Galdikienė, Juozas Šileikis, Jadvyga Petkevičienė, Angelė Žilienė. Sie befahlen allen, in das Milizauto einzusteigen und versprachen, sie nach Šiauliai zu fahren. Als die Pilger sich weigerten, zu gehorchen und verlangten, man solle sie beim Beten nicht stören, ließen die Tschekisten die Leute in der Obhut von Po­lizisten zurück, um selber nach Šiluva zu fahren. Von dort kehrten sie nach einer Beratung einige Minuten später wieder zurück. Ein aus Šiluva ange­kommener Oberleutnant der Miliz teilte mit, daß es verboten sei, zu Fuß die Reise fortzusetzen und befahl, alle in ein Auto hineinzusetzen und nach Šiluva zu fahren. Die mit Gewalt hineingesetzten Pilger wurden nach Šiluva gebracht und dort freigelassen.

Eine kleine Jugendgruppe aus Kaunas begann an einem Abend im August eine Sühnereise zu Fuß von Kaunas nach Šiluva. Kaum hatten sie die Stadt verlassen, erschienen »wachsame Augen«, sie zu begleiten. Die Sicherheits­beamten leuchteten die kleine Schar an, überholten sie mit Autos und wen­deten wieder. Da die Büßer mehr wie Touristen aussahen, ließen die Tsche­kisten sie in Ruhe. Wenn auch die Reise beschwerlich war, — man konnte nur am Feldrand oder in einem Getreidehaufen schlafen — die Jugend war unendlich glücklich, als sie die Kirche erreicht hatte.

Vor der Ablaßfeier fand in der Nähe von Raseiniai, unweit von Dubysa, ein Festival der Miliz statt. Nach diesem Fest wurden 400 Milizmänner wegen der Ablaßfeier in Šiluva in Raseiniai gelassen. In der zweiten Hälfte des Monats August ließen sich 40 KGB-Beamte auf dem Campingplatz von Tytuvėnai nieder, nachdem sie die dortigen Pioniere verjagt hatten. Im Exekutivkomitee des Städtchens Tytuvėnai gründeten sie einen neuen Son­derstab mit einem Rundfunksender. Mit einem Wort, die Regierung berei­tete sich sehr ernst gegen die Katholiken Litauens vor, die lediglich mit Gebetbüchern und Rosenkränzen bewaffnet waren.

Schon am frühen Morgen des 8. September kontrollierten sie an allen Wegen in Betygala, Ariogala und Viduklė die Dokumente aller durchfahrenden Autos; einigen nahmen sie die Autonummer ab, und einem Kraftfahrer, der ein bißchen gestritten hatte, drohten die Verkehrspolizisten, die Autoreifen zu zerschneiden. Einigen Kraftfahrern wurden die Kraftfahrzeugdokumente ungültig gemacht. Die von den Pilgern gemieteten Busse schickten die Be­amten bis zum Sicherheitsdienstpunkt nach Šiluva zurück. Von dort mußten die Busse ohne die Pilger wieder zurück nach Hause fahren. So geschah dies mit den Einwohnern von Vilnius, die zusammen mit Priester Stanislovas Puidokas zur Ablaßfeier nach Šiluva gefahren sind; dasselbe Schicksal traf auch die Einwohner von Klaipėda und andere.

In Šiluva selbst notierten sich die Milizmänner und die Tschekisten demon­strativ alle Nummern der angekommenen Autos. Ein Kommunist aus Ty­tuvėnai wurde schon am nächsten Morgen, am 9. September, in der Frühe in das Parteikomitee des Rayons Kelmė gerufen, wo man ihm den Partei­ausweis abnehmen wollte, weil er am 8. September nach Šiluva gefahren war. Der Arme rechtfertigte sich, daß er nur seine Frau und die Schwieger­mutter hingefahren habe, denn das Auto habe er doch gemeinsam mit der Frau gekauft. Er konnte nicht anders handeln, denn andernfalls habe die Frau mit der Scheidung gedroht. Erst nach so einer ernsten Begründung gelang es ihm, seinen Parteiausweis zu retten.

Šiluva war acht Tage lang zu einer richtigen Schlachtfeldzone umgewandelt. Der Milizhubschrauber überflog am Sonntag so tief das Städtchen Šiluva, daß der Lärm den Gottesdienst störte. Unter den Leuten verbreiteten sich Gerüchte, daß der Leiter der Autokontrollen Oberst Vaitašius selbst die Massen der Gläubigen aus dem Flugzeug beobachtet habe.

Eindrucksvoll war der erste Tag der Ablaßfeier. Es versammelten sich große Massen von Gläubigen mit über 80 Priestern aus den verschiedensten Diöze­sen. Etwa 60 Priester in liturgischen Gewändern erwarteten die Bischöfe Liudas Povilonis und Antanas Vaičius. Die Messe wurde für die geistige Wiedergeburt des Volkes und gegen den Alkoholismus gefeiert. S. E. Bischof L. Povilonis hielt eine inhaltsvolle Predigt. Nach der hl. Messe sangen die Leute voller Freude das »Maria, Maria«, das zu einer religiösen Hymne geworden ist.

Am 12. September, am Sonntag der Ablaßfeier von Šiluva, ging nach dem Hochamt die Jugend und die Erwachsenen in Fortsetzung der im Vorjahr entstandenen Tradition auf den Knien vom Hochaltar durch die ganze Kirche zum Kirchhof. Zu Beginn hielt Priester A. Svarinskas eine Predigt, in der er mit Tatsachen die jetzige schwere Lage der Kirche in Litauen aufzeigte und die offenen Bemühungen der Gottlosen, die Kirche zu vernichten.

Der Prediger zitierte die Worte des ersten Sekretärs des ZK der KPL Petras Griškevičius aus dem zweiten Plenum des ZK der KPL am 7. Mai 1981: »Man muß die Verbindung der internationalen und patriotischen Erziehung mit dem Kampf für die Liquidierung der veralteten religiösen Anschauungen allseitig stärken.« Daß für die Regierunggottlosen die »veralteten religiösen Anschauungen« ein Synonym für Gott ist, die Kirche und den Glauben, bedarf wie das Wort »liquidieren« keiner Erklärung. Priester Alfonsas Svarinskas lud die Versammelten ein, für S. E. Bischof Julijonas Stepona­vičius zu beten, den die Gottlosen schmähen wollen — sie stellen Anstren­gungen an, sogar den Vatikan irrezuführen. Während der Predigt flog an­dauernd über das Städtchen ein Hubschrauber, weshalb die Leute, die etwas weiter von den Lautsprechern entfernt standen, wegen des Lärmes kaum noch die Predigt des Priesters hörten. Nach der Predigt begann der Priester mit einem Kreuz in der Hand mit der Jugend und den Erwachsenen, den Rosenkranz betend, auf den Knien um die Kirche zu gehen. Es gingen Kinder, Studenten, Gebildete, und abseits die Alten und die Kranken. Die Menschen, die am Kirchhof standen, knieten sich nieder. Nachdem sie die Kirche auf den Knien umrundet hatten, kehrten sie alle zum Hauptaltar zurück. Alle Herzen klopften freudig aus Liebe zu Gott und der Heimat.

Die Prozession um die Kirche dauerte länger als eineinhab Stunden.

Während der Ablaßfeier wurden in Šiluva 39 000 hl. Kommunionen aus­geteilt. Im vorigen Jahr waren es 28 000.

Während der Ablaßfeiertage sammelten die Gläubigen Unterschriften unter Erklärungen, in denen von der Regierung verlangt wurde, die durch Spenden der Einwohner von Klaipėda und der Gläubigen Litauens erbaute Kirche der Königin des Friedens in Klaipėda, die von der Regierung beschlagnahmt wurde, zurückzugeben.

Gegen die Unterschriftensammler wurden Repressalien vorgenommen: in der Kirche, in der Kapelle, am Kirchhof und am Friedhof schlichen Sicherheits­beamte herum, um die Leute einzuschüchtern. Man riß ihnen sogar die Er­klärungen aus den Händen. Die Frauen Jadvyga Baronienė und Genė Pa­leckienė, die ebenfalls Unterschriften gesammelt hatten, wurden von Sicher­heitsbeamten in ein Auto gedrängt und zur Miliz gebracht. Hier wurden beide genau persönlich untersucht, wobei die Beamten sogar versuchten, die Schuhsohlen von den Schuhen von Jadvyga Baronienė herunterzureißen.

An diesen Tagen verhafteten die Sicherheitsbeamten eine alte Frau, die Unterschriften gesammelt hatte. Man nahm ihr etwa 2000 Unterschriften ab, schubste sie mit den Fäusten in ein Auto hinein und brachte sie in den Sicherheitsdienst. »Ich fürchte mich nicht, für die Sache der Kirche zu ster­ben... Und die Unterschriften werde ich immer noch sammeln!« — be­hauptete die Greisin. Später zeigte sie ihren Verwandten große blaue Flecken an den Armen.

Die Milizmänner und ihre Gefolgsleute überfielen von Zeit zu Zeit die De­votionalienhändlerinnen und nahmen ihnen alles weg.

Die Milizbeamten bemühten sich nicht, die Ordnung auf den Straßen des Städtchens aufrecht zu erhalten, sondern im Gegenteil — sie störten sie. Schon am zweiten Ablaßfeiertag sind auf den Straßen betrunkene Miliz­männer erschienen. Nach bisherigen Angaben haben etwa 13 hohe Beamte während der Ablaßfeiertage wegen Trunkenheit ihren Führerschein verloren. »Wären die Ablaßfeiertage noch um eine Woche verlängert worden, dann hätten alle Rayonführer zu Fuß laufen müssen.« — sagten die Einwohner von Raseiniai. Warum soll man nicht trinken? — Im nüchternen Zustand ist es schwieriger, die unschuldigen Gläubigen zu überfallen.

Am 16. September druckte die Rayonzeitung von Raseiniai »Naujas rytas« (»Der neue Morgen«) folgende Nachricht ab:

»Die Rayonstaatsanwaltschaft teilt mit, daß der Autoinspektor der Straßen­überwachungspatrouille der VAI (Oberautoinspektion) des Innenministe­riums der SSR Litauen, der Milizmann L. Norgilas, beim Lenken eines Dienstwagens am 12. September 1982 um etwa 20 Uhr in der Stadt Ra­seiniai, Komjaunimo Str., das auf der Hauptstraße (K. Požėlos g.) fahrende Motorrad, das A. Jankauskas, ohne Führerschein für Motorrad, gelenkt hat, nicht vorfahren ließ; er behinderte ihn und verletzte ihn leicht. Der Vorfall wird untersucht, der Verursacher dieses Unfalls wird bestraft. Während der Untersuchung des Autounfalls haben einzelne sich rowdymäßig betragende Personen verhindert, die Ortsbesichtigung durchzuführen und verletzten die öffentliche Ordnung. Die Untersuchung ist im Gange. Die Schuldigen werden zur Verantwortung gezogen. Die Staatsanwaltschaft des Rayons Raseiniai.«

In Wirklichkeit war es so: Einige betrunkene Milizmänner fuhren mit dem Milizauto der Miliz von Klaipėda auf der Komjaunimo-Straße zu einem Laden, um sich Schnaps zu holen. Sie behinderten den auf der Hauptstraße auf einem Motorrad fahrenden Abiturienten. Der Jugendliche wurde auf den Bürgersteig geworfen. Die betrunkenen Milizmänner rieten dem Ge­schädigten, zu verschwinden. Der Jugendliche blieb aber an Ort und Stelle, um die Miliz abzuwarten. Die Verursacher des Autounfalles kehrten dann gemeinsam mit den Beamten der Miliz von Raseiniai zum Unfallort zurück, nachdem sie eine Runde gedreht hatten.

Als sie den dort wartenden Jugendlichen vorfanden, begannen sie, ihn zu schlagen. Auf die Schreie der dort versammelten Menschen liefen die Ar­beiter aus dem Wohnheim der Nähfabrik »Šatrija« zusammen, umzingelten das Milizauto und ließen die Miliz nicht wegfahren. Später wurde das Auto sogar umgeworfen. Eine größere Gruppe von Milizmännern kam zu Hilfe und versuchte die Umzingelten zu befreien, es war aber umsonst. Die Menge griff nach Äpfeln und Steinen und begann die Milizmänner zu attackieren. Andere warfen vom Balkon sogar mit Blumentöpfen. Die Leute schrien: »Hier geht es nicht darum, die Rosenkränze in Šiluva wegzunehmen! Ihr Bestien, was macht ihr?!« Die Versammelten verlangten, daß der Vorsteher der VAI Oberst Vaitašius aus Vilnius kommen solle. Die Rayonführer riefen die Feuerwehr aus Raseiniai, Girkalnis und Viduklė zu Hilfe; diese aber weigerten sich mit der Begründung, daß sie einen Brand zu löschen gelernt hätten, nicht aber, Leute zur Ruhe zu bringen.

In der Nacht kamen Regierungsvertreter aus Vilnius. Nachdem sie die Mi­lizmänner wegschickten und versprachen, auch die Schuldigen zu bestrafen, baten sie alle, auseinander zu gehen. Nach Mitternacht begannen die Leute, sich zu verteilen. In den Seitenstraßen jagte aber die Miliz die Leute und schlug sie zusammen. Die Beamten machten schon vorher die Straßenbe­leuchtung aus, um leichter mit den Menschen fertig zu werden. Es gibt viele Verhaftete. Genauere Nachrichten gibt es nicht, weil alles sehr geheim ge­halten wird.