Vilnius

Vom 28. bis 31. Juli 1983 wurden auf die Adresse des KGB von Vilnius aus Kybartai, Vilkaviškis, Kapsukas wie auch aus anderen Ortschaften Li­tauens eine Unmenge Gratulationstelegramme zum Namenstag geschickt, adressiert an den verhafteten Pfarrer der Pfarrei Kybartai, das Mitglied des Komitees der Katholiken zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen, den Priester Sigitas Tamkevičius. Die Gläubigen wollten wenigstens durch eine bescheidene Postkarte und ein paar warme Worte ihre Liebe und Verehrung dem Priester gegenüber zum Ausdruck bringen, der vom Sicherheitsdienst in Isolationshaft gehalten wurde. Leider wurden beinahe alle Telegramme an die Absender zurückgeschickt mit dem Vermerk, der Adressat wohne nicht unter der angegebenen Adresse.

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Dieses Jahr jährt es sich zum 20. Mal, daß Viktoras Petkus die Wege des Archipel GULAG geht. Bei der Gelegenheit schreibt er:

»Schon in den Jahren meiner Jugend war es mir beschieden, direkt in die Mühle des Lebens zu geraten, wo man dann unvermeidlich auch zwischen die Mühlsteine geriet, wo man wissen muß, was man will und wo man sich entscheiden können muß, wenn man am Leben bleiben will. Aber der Strom des Lebens hat die Berge der Einzelheiten weggeschwemmt, das Drama ebbte langsam ab und es blieb nur ein Entwurf des Wesens, ein Suchen danach, es zu erfassen.

Dank der Erinnerung sehe ich eine große Zahl der vergangenen Tage vor mir, wie die nächsten Freunde, die zugleich symbolische Größen sind für die Unvergänglichkeit der Werte der Kultur. Sie stellen einen Sieg im Kon­flikt mit der Gewaltherrschaft auf der ganzen Welt dar. . . Ein nicht geringer Teil der Gefangenen, durch Hunger bis zur Unmenschlichkeit getrieben, hat die innere geistige Freiheit trotzdem nicht verloren. Auch die Fähigkeit zur Kommunikation haben sie nicht verloren. Noch mehr: sie haben ihre Hoffnung und ihren Glauben nicht verloren, ohne die es weder das Leben selbst, noch ein Schaffen geben kann. Und vielleicht ist es gerade das Wichtigste dabei, daß sie nicht einmal in einer solchen Hölle die Sehnsucht verlassen hat, in der Welt und im Menschen wenigstens einen winzigen Kristall der Güte, der Liebe und des Edelmuts zu finden. Sie haben die Macht und die Schön­heit des freien Denkens bejaht.

... Und ich sehe wieder bleichgewordene bläuliche Gesichter, manche mit erloschenen, manche mit fieberhaft brennenden Augen, nur keine Menschen mehr, nein, sondern nur beim leisesten Windhauch schaukelnde Kombina­tionen aus Knochen und Haut. Sie umzingeln mich in engem Kreis. Ja, ich sehe sie manchmal alle zusammen. Und ich kann nicht begreifen, warum uns das so fesselt, was schon seit langem nicht mehr da ist. Warum strecken sich diese ausgemergelten Hände zu dir, warum wollen sich diese knochigen Schultern an dich lehnen? Warum entschwinden diese Menschen nicht, son­dern spazieren immer noch herum und reden? Ist es denn vielleicht möglich, daß dieses Dilemma jener Jahre, wo es um Sein oder Nichtsein ging, sie für Jahrhunderte unsterblich gemacht hat?

Ohne Wasser kann man beinahe keine Speise zubereiten. Das Problem mit dem Wasser! Es verfolgt uns die ganze Zeit hindurch, seit wir hier sind. Erstens ist das Wasser hier sehr schlecht. Auf seiner Oberfläche schwimmen irgendwelche Fettflecken. Ganze Monate lang sieht es aus wie Kakao. Des­wegen ist es unmöglich, ungekochtes Wasser zu trinken. Früher haben sie wenigstens zum Kochen sauberes Wasser aus dem Dörfchen gebracht. Später aber ist anscheinend jemandem der Gedanke durch den Kopf geschossen, daß wir uns in den paar Jahren schon an die Flüssigkeit aus dem Tümpel gewöhnt haben müssen. Folglich müssen wir diese Flüssigkeit sowohl essen als auch trinken. Zweitens: Auch dieses Wasser mangelt andauernd, beson­ders in der Frühe bei der Morgentoilette. Sonderbar ist außerdem die Sache mit den Toiletten. Es gibt nirgends einen Wasserbehälter. Das Wasser fließt durch die dünnen Rohre nur in kleinen Rinnsalen. Man muß deswegen zuerst einen Eimer voll Wasser tropfen lassen, damit es einen Wasserbehälter ersetzen kann. Die Toiletten sind in allen Zellen offen, nicht abgeschirmt. Die einzige Lüftung ist das Luftloch in dem einzigen Fenster der Zelle. Etwas früher haben sie in einigen Zellen die Toilette von der Tischseite her mit einem eineinhalb Meter hohen Schild abgeschirmt, und jetzt stellten sie so einen Schild auch in den Arbeitszellen, aber an der Türseite auf. Niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, daß wir einmal in den Toiletten leben und arbeiten müssen.

... Die Stimmung ist gut. Immer mehr zieht die himmlische oder die gött­liche Sphäre an. Nur aus ihr heraus entsteht das Leben der Menschheit und ihre Kultur. Papst Johannes Paul II. hat in seiner Rede, die er am 2. Juni vor ein paar Jahren in der Residenz der UNESCO in Paris gehalten hat, folgen­dermaßen den Ursprung der Kultur anthropologisch dargelegt: »Der Mensch (...) ist im ontologischen Sinne das Objekt, das Subjekt und die Grenze der Kultur.« Die Kultur ist also nach seinen Worten in erster Linie mit der himmlischen Sphäre verbunden; werden wir nicht mit dem göttlichen Ele­ment das natürliche Element, die menschliche Sphäre besiegen können? Also, die Köpfe hoch! Mögen unsere Blicke der Ewigen Sonne zugewandt bleiben. Und deswegen fühle ich mich nicht schlechter, sondern von Tag zu Tag besser und besser...«

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Aus den Briefen von Antanas Terleckas:

In der letzten Zeit befindet sich A. Terleckas in der Verbannung, wo man bemüht ist, seinen Willen, seine Überzeugungen zu brechen: Er wurde einige Zeit gezwungen, mit einem psychisch Kranken in einem Zimmer zu leben; als er selbst krank wurde, ließ man ihn nicht zur Behandlung in ein Sana­torium fahren (Frau Oberleutnant S. M. Fedortschenko erklärte ihm: »Sie erhoffen sich eine Behandlung im Sanatorium? Sie? Eto iskljutscheno (Ganz ausgeschlossen! — Übers.); Brief verkehr und Begegnungen mit den Ver­wandten wurden verhindert.

»... So viele Gedanken im Kopf, so viele Gefühle im Herzen. Ich bin aber gezwungen, mich auch in der Verbannung selbst zu kontrollieren. Geändert hat sich doch überhaupt nichts, die Zensur ist dieselbe geblieben..., und man möchte so gerne, daß Sie wenigstens diesen Brief bekommen könnten. Also kurz über die Reise in die Verbannung. (Am 27. Oktober 1982 brach­ten sie A. Terleckas aus dem Gefängnis von Kutschino weg in die Verban­nung). Sie haben mich gepeinigt, im wahrsten Sinne des Wortes gepeinigt! Die Lagerverwaltung gab mir keine warme Unterwäsche und erlaubte nicht, Nahrungsmittel einzukaufen... Ich habe nie gedacht, daß es scheußlichere Gefängnisse geben kann als das von Smolensk. Es zeigt sich, daß es sie doch geben kann. 21 Tage lang haben sie mich im Gefängnis von Irkutsk ge­halten. Was ich dort gesehen und gehört habe, würden Sie kaum glauben ...

Nach einer Reise von 35 km mit dem »Raben« im Jahre 1958 haben sie mich ganz geschwollen ins Lager gebracht. Damals dachte ich, der Mensch könne keine größeren Qualen mehr ertragen. Oh, er kann! Er kann mit demselben »Raben« auf den Wegen von Kolyma mehr als 1000 Kilometer fahren. Da man mich am 23. Dezember aus dem Gefängnis von Magadan wegfuhr, glaubte ich den Heiligen Abend in Omsuktschan feiern zu können. Aber nach 500 km mußten wir leider im Gefängnis von Sejmtschan bleiben. Es sah so aus, als ob dieser Heilige Abend der traurigste sein würde. Nein! Am Abend überfloß meine Seele eine Woge unbegrenzter Freude, ... ich kam mir vor wie der glücklichste der 3 Millionen Litauer. .. Deswegen danke ich allen für das Gebet...

Ich bin sehr gücklich, daß mich das Schicksal als Vertreter Litauens hier hergeschickt hat. (...) Ich denke nicht daran, nach Gerechtigkeit zu suchen. Ich denke auch nicht daran, mich bei irgend jemand zu beklagen... Sie können alles! Aber sie sind nicht mächtig genug, mich zum Sklaven zu ma­chen. Schlimmstenfalls können sie mich erschlagen. Der Tod ist aber nicht das schlimmste Ende des Menschen ...«

»Als ich am 23. November 1980 in ein Lager im Ural gebracht worden war, erfuhr ich dort, daß hier vor kurzer Zeit Šerkšnys entlassen wurde, der 15 Jahre bei den Partisanen und genau so lange hier in der Gefangenschaft war. Vor einigen Jahren wurden in diesem Lager Simas Kudirka, Petras Plumpa, Šarūnas Žukauskas gefangengehalten. Es war mir sehr angenehm zu hören, daß die Litauer mutige Männer, prinzipientreue Gefangene, treue Kamera­den seien.

Nach einiger Zeit kam aus einem anderen Lager ein Ukrainer nach Kutschino, der mit gulcn Worten über Pečeliūnas und Iešmantas sprach. Im Frühjahr brachten sie aus einem benachbarten »Spez« (Sonderlager) zwei Ukrainer, und wesentlich später einen Kalmücken zu uns. Sie alle haben ihren Stolz nicht verbergen wollen, daß Henrikas Jaškunas, der riesenhafte physische

Kraft besaß und überall für seine Überzeugungen zu kämpfen bereit war, ihr Freund gewesen ist. Viel sprachen sie auch über den schon beinahe 30 Jahre gefangengehaltenen, aber nicht gebrochenen Balys Gajauskas.

Ein Weißrusse erinnerte sehr oft an Vladas Lepienis. Er erzählte, wie stand­haft dieser war, daß er zweimal in den Karzer gekommen sei und trotzdem die Verwaltung des Konzlagers zum Nachgeben gezwungen habe.

Mitte September 1981 wurde aus Mordwinien Mikola Rudenko zu uns ver­setzt. (Nachdem sie seine Frau verurteilt haben, haben sie beschlossen, ihren Mann weiter weg zu versetzen). Als er erfahren hatte, daß ich ein Litauer bin, erzählte mir Mikola den ganzen Abend über die Litauer im Lager von Mordwinien: V. Lapienis, P. Paulaitis, A. Žypre, V. Skuodis, A. Janulis. Mikola selbst verdient die schönsten Komplimente, er sprach aber über die Litauer, ohne seine Begeisterung zu verheimlichen...

Mikola erzählte mir, daß schon Taras Schewtschenko seiner Zeit die Idee der Union zwischen Litauen und der Ukraine erhoben hatte. In der Erinne­rung an diese Idee müsse man einander heute besser kennenlernen und ver­stehen. Mikola schloß unsere Unterhaltung mit diesen Worten: »Ihr Volk — ein Volk von Helden. Ihr habt das moralische Recht darauf stolz zu sein. Schon lange habe ich mich nicht so glücklich gefühlt... Ich danke Euch allen dafür! Ihr Beispiel war für mich sehr nützlich auf der Reise nach Kolyma. Auch heute noch schöpfe ich daraus meine Kräfte.«

Am 7. 4. 1983.