Aus den Briefen des Priesters Alfonsas Svarinskas der Monate August und September 1985:

»(...) Die vergangene Woche war sonnig und warm, auch heute ist es sehr warm und angenehm. Ich bin Gott sehr dankbar für diese wundervollen Tage und Stunden. Ich habe es mir angewöhnt, mich auch über Kleinigkeiten zu freuen.

Der Gedanke Gottes schafft die Geschichte der Menschheit, wenn wir als kleine Menschen auch nicht immer den Sinn der Geschichte und unseres eigenen Geschickes verstehen. Regen Sie sich doch wegen mir nicht auf, denn ich habe mich schon daran gewöhnt, mich zu bemühen alles christlich, — wie der selige Ijob, zu ertragen (...)

Heute ist in Šiluva ein besonderer Tag, dem gläubigen Herzen kostbar seit 1612. Alle reisen heute zu dem Heiligtum. Es ist schon das dritte Jahr, seit ich von diesen heiligen Stätten getrennt bin. Aber ich werde heute auch mein Opfer niederlegen unter der Statue der Gottesmutter von Šiluva.

(...) Das Zitat von A. de Exupery ist gut. Er ist ein Klassiker der Fran­zosen; es lohnt sich, ihn zu lesen. Ich freue mich, daß dieses Zitat Ihre Her­zen erreicht hat. Die Menschen sind tatsächlich oft zeitlebens auf der Suche und können nichts finden, und daran sind sie oft selbst schuld; sie fliegen über den Wolken und sehen nicht, was ihnen vor der Nase liegt. Es ist schon an der Zeit, daß die Menschen und die Völker zur Bibel zurückkehren. (...) Ich habe gelernt, mich auch über einen kleinen Strahl der Sonne, über schöne Sonnenuntergänge, über ein verkümmertes Blümchen oder ein vergilbtes Blatt der kleinen Birke zu freuen. (...) Ich bin ruhig in meiner Seele, Sein heiliger Wille geschehe. Man wünscht sich nur, daß jene, die in der Lage wären, zu arbeiten, dies auch tatsächlich mit aller Kraft tun können, ohne Rücksicht auf sich selbst, denn es gibt ja so viel Arbeit. (...)

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Priester Sigitas Tamkevičius schreibt:

»Man möchte in der Unfreiheit, daß die Zeit so schnell wie möglich vergeht; ich denke mir aber sehr oft, daß ich mir nicht ein schnelles und inhaltloses Verlaufen der Zeit wünschen sollte, sondern daß die Zeit sowohl für mich als auch für die anderen, denen ich mein Leben gewidmet habe, nützlich sein sollte. Deswegen bringe ich jeden Tag Gott als Opfer dar und zwar sowohl meine eigene Unfreiheit, wie auch die Sehnsüchte meiner Nächsten, alle Müdigkeit, wie auch körperliche Unpäßlichkeiten, wenn sie vorkommen, und alles, was man nur als Opfer darbringen kann, damit der Herr mehr geliebt werde, damit die Menschen der ewigen Wahrheit und der Güte näher kommen.

Heute ist bei uns ein wundervoller Sonntag. Es scheint, als ob die Natur selbst das Christkönigsfest feiern würde. Der Himmel ist klar. Die Äste der jungen Birken sind dick mit Schnee bedeckt; so schön geschmückt, daß man sie am liebsten auf den Altar stellen möchte. Und nicht einmal das leiseste Lüftchen bewegt sich — alles ist still ruhig, majestätisch. Ich habe zu Füßen des eucharistischen Königs viele Bitten niedergelegt, als erstes aber die An­liegen jener, mit denen die geistige und die körperliche Nahrung zu teilen mir vergönnt war.

Das Christkönigsfest dieses Jahres erinnerte mich an unseren Einkleidetag. An diesem Feiertag vor 30 Jahren wurde meinem Kursus — 24 neuen Semi­naristen — das priesterliche Gewand ausgehändigt. Es sollte uns ständig daran erinnern, daß wir auf alles verzichtet haben, was der Welt gehört, daß das weitere Leben bedingungslos dem Dienste Christi und der Nächstenliebe geweiht ist, daß von jetzt ab die größte Sorge nur dem Ziel gilt, das J. Bosco mit dem Wort zum Ausdruck brachte: »Gib mir Seelen, o Herr, alles andere behalte!«

Aus Anlaß der Einkleidung schenkten uns die Seminaristen der oberen Kurse Bildchen mit schönen Gedanken, und der Spiritual überreichte jedem eine große Reproduktion des Christkönigbildes: Der Herr steht vor Pilatus mit ge­fesselten Händen, mit einer Dornenkrone auf seinem Haupt, und in seinem Antlitz verbirgt sich, wie es scheint, das Leiden der ganzen Welt. Ob wohl damals in der Freude der Einkleidung einer geahnt hat, daß dieser König auch von seinen zukünftigen Gardeoffizieren einmal ebenfalls ein nicht ge­ringes Opfer verlangen würde? Aber alles kommt zu seiner Zeit. Wie sehr bin ich Gott dankbar dafür, daß ich vor 30 Jahren neben mir prachtvolle, idealistisch gesinnte Freunde gehabt habe. Wir brannten alle in dem Ge­danken: Jetzt sich bilden, sich vervollkommnen, und später mit ganzer Kraft an die Arbeit! Mein Kursus wählte für sich als Motto die Worte der Maria Pečkaukaitė: Šatrijos ragana: »Kilti ir kelti« (selbst emporstreben, die anderen emporheben), und zu unserem Schutzpatron den hl. Franz Xaver. Wer hätte damals voraussagen können, daß dieser Schutzpatron mit vielen von uns seine Ideale teilen und aus unserem Kursus in die Missionsgebiete einladen würde.

Ich möchte zu Weihnachten viele besuchen. Der Herr hat mir in den Jahren meines priesterlichen Lebens so viele Freunde, Wohltäter, Mithelfer und Gleichgesinnte geschenkt. Ihnen allen möchte ich zum Weihnachtsfest die Hand drücken, sie begrüßen, ihnen für das Leuchten ihres Beispiels, für ihre allseitige Unterstützung, für ihr Verstehen und ihre Antwort auf das ver­kündete Wort ein »Danke« sagen. Möge das Kindlein von Betlehem alle segnen, hundertfach allen vergelten und ein gutes Jahr 1986 schenken.«

Im November 1985. Perm

Am 19. April 1985 wurde Viktoras Petkus ein eineinhalbstündiges Wieder­sehen (durch eine Glasscheibe und per Telefon) mit den Seinigen erlaubt. Fünfmal hintereinander, d. h. seit zweieinhalb Jahren seiner Gefangenschaft war den Angehörigen des Gefangenen kein Wiedersehen mehr erlaubt wor­den. Die Ursachen dafür wurden mit der schablonenhaften Antwort begrün­det: »Er hat gegen die Lagerverordnungen verstoßen«; V. Petkus erhielt auch jahrelang keine Briefe.

In einem der letzten Briefe aus dem Jahr 1983 schrieb V. Petkus, daß die Schmerzen in seinem operierten Gesicht im Lager wieder begonnen haben, so daß es im ganzen Kopf schmerzt. Man müsse sich sehr anstrengen, um die Zwangsarbeit bewältigen zu können. Da man ihn nicht mehr hatte be­suchen dürfen und auch der briefliche Kontakt abgebrochen war, vermutete man, daß sich die Gesundheit des V. Petkus stark verschlechtert habe. Aber seine engsten Verwandten wunderten sich am 19. April, daß er gar nicht schlecht aussah, als sie ihn im Besuchszimmer erblickten. Man fragte ihn: »Wann und wo hast du dich denn behandeln lassen können?« Da bat Viktor Petkus die Seinen, sie möchten doch, wenn sie nach Vilnius zurückgekehrt seien, Maria im Tor der Morgenröte Dank sagen für die neugeschenkte Ge­sundheit. »Es gab keine Hoffnung mehr, am Leben zu bleiben . .. Als ich aber Sie zu bitten begann, fühlte ich nach einem Monat, daß ich wieder ge­sund bin. Jetzt bin ich ganz gesund«, sagte der Gefangene. V. Petkus brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, daß er, von der himmlischen Mutter be­schützt, Litauen doch noch sehen werde. (Fünf Bedienstete des Lagers haben bei dieser Unterhaltung zugehört.)

Am 14. Oktober 1985 hätte V. Petkus wieder einen Besuch empfangen dür­fen. Bevor seine Verwandten aber zu V. Petkus aufbrachen, wurde ihnen von der Lagerverwaltung mitgeteilt, daß das Wiedersehen nicht stattfinden werde; Ursachen wurden nicht genannt.