Am 5. Februar dieses Jahres jährt es sich zum zweiten Mal, daß der eifrige Priester der Katholischen Kirche Litauens, Juozapas Zdebskis, der wegen Katechisierung der Kinder in einem sowjetischen Lager gefangengehalten worden war, bei einem Autounfall ums Leben kam. Wir veröffentlichen den Auszug eines Briefes, den Priester J. Zdebskis im sowjetischen Lager geschrieben hat.

»Ich will der Barmherzigkeit Gottes vertrauen und hoffen, daß die Gnade mir helfen wird, meine Gedanken zu sammeln und bei einer Stelle Ihres Briefes zu verweilen, obwohl man ringsherum spricht und umherläuft. Wir sind gerade von der Arbeit zurückgekommen. Heute sind wir eher zurück­gekehrt. Viel konnten wir nicht tun, weil es regnete. Alle haben sich ver­krochen, jeder wo er nur konnte, und deswegen konnte ich zu meiner gro­ßen Freude ein schönes Stück des Buches „Die Brüder Karamasow" durch­lesen; jetzt will ich aber versuchen, Ihren Brief zu beantworten.

Die Stelle aus Ihrem Brief, über die ich viel nachgedacht habe, ist ein gro­ßes Problem für uns alle. Davon, wie wir es lösen, hängt die Richtung unseres Lebens und seine Energie ab. Ich bin sicher, daß Sie diesen Gedanken immer wieder erwogen haben. Sie haben ihn mit ihren Worten ausgedrückt, ich werde es mit den meinen versuchen.

Wir wissen alle, was für eine große Macht, was für eine Quelle der Lebens­energie die natürliche Liebe ist, wenn ein Mensch, wie man gewöhnlich sagt, sich, meistens in eine Person des anderen Geschlechts, verliebt, im Falle aber eines Irrtums der Natur in eine Person desselben Geschlechts. Dies ist uns allen klar, meistens auch von uns selber erlebt.

Vielen aber ist es eine große Frage, was das für eine Liebe ist, von der Christus spricht und die er von allen als wesentliches Zeichen der Treue zu ihm fordert. Es kommt die Frage auf: Wo soll diese Liebe ihre Energie her­nehmen, wenn sie nicht von selbst wie eine Feuersbrunst aufbricht?

Die Hauptursache, die Quelle der Energie für eine so bewunderswerte Liebe, die die Welt sogar nach vielen Jahrhunderten noch bestaunt, ist die Wirkung der Gnade in der Seele. Es gibt nicht nur Helden der Wissen­schaft oder der Kriegsführung, sondern auch Helden auf dem Gebiet der Liebe. Das sind praktische Beispiele, wie Gott auf die Menschen wirken kann, wie Menschen Gott ähnlich werden können, der die Liebe selbst ist. Ähnlich, wie an einem schönen Morgen die einfachsten farblosen Tautröpf­chen durch die Einwirkung der Sonne in schönsten Farben erblühen können.

Man kann fragen, ob diese große Liebe auf der Erde eine Verbindung mit Gott hat? Ob sie sich nicht auch ohne Gott auf wunderbare Weise zeigen kann? Gab es nicht auf der Erde bewunderswerte Menschen auch aus anderen Gründen, nicht wegen ihrer Liebe, genauer gesagt, nicht wegen einer christlichen, einer göttlichen Liebe?

Es ist zunächst einmal nicht ganz einfach, in der Geschichte in die Tiefe der Seele jedes einzelnen großen Menschen vorzudringen und festzustel­len, ob das Motiv für seine Taten auch wirklich nur der Wunsch des Guten für die anderen war und nicht einfach eine Leidenschaft seines Hochmuts oder seiner Selbstsucht. Ist das denn so wichtig? Das ist sogar sehr wichtig. Hochmut und Selbstsucht sind die deutlichsten Zeichen dafür, daß dies alles nichts mit der großen, der göttlichen Liebe zu tun hat, die viele umfassen kann, nicht nur eine einzelne Person. Um sich in dieser Frage Klarheit zu verschaffen, muß man die Stimme der Geschichte beachten. Jede Gesellschaftsordnung, die Peinigungen anwendet, ist ein historischer Beweis dafür, daß die Liebe ein Monopol ist, das nur dem gehört, der selbst die Liebe ist. Und wenn es sie im Leben nicht gibt, dann ist der Mensch nicht der Bruder, der Freund des andren Menschen, er ist nicht gleichberechtigt. Unterwürfigkeit, besser gesagt Sklavenhaftigkeit, wird in natürlichem Sinne gewöhnlich wegen physischer Macht, meistens wegen der Macht des Geldes gezeigt. Die Folgerung daraus ist nur die eine: Damit der Mensch in der Lage ist, gewaltig zu lieben, muß auch er selbst gewaltig geliebt werden. Wie soll man das verstehen? Als Beispiel dafür haben wir die Erfahrung aus der natürlichen Liebe. Mir kommen in Erin­nerung die Gedanken eines Mannes. Er fing erst an, sich über Blumen zu freuen und bemerkte sie erst dann, als in seinem Herzen die Liebe ein­gezogen war und er sie als ein ihm zugedachtes Geschenk von einem anderen Herzen her empfinden durfte. Dann, und gerade erst dann, hat er den gewaltigen Wunsch verspürt, jedem Gutes zu tun.

Das alles ist uns klar. Wie aber äußert sich dieses Gesetz in der anderen, in der großen Liebe, die unser Meister von uns den anderen gegenüber for­dert und zwar in jeder Hinsicht? Hier gerade erhebt sich die Notwendig­keit, daß der Mensch vorher die Liebe Gottes zu ihm erkennt. Wissen Sie, daß Christus nur deswegen das Recht hatte, uns das große Gebot der Liebe zu geben, weil er sie uns selbst in einer wunderbaren Weise gezeigt hat?

Ach wissen Sie, ich möchte mit diesem Gedanken an eine Erinnerung anknüpfen. Es war in den Kartagen, wo sich die Meditation immer den Ereignissen zuwendet. Besonders am Abend des Gründonnerstags. Damals hat der Meister uns alles gegeben, was er nur geben konnte. „Liebet ein­ander, wie ich euch geliebt habe." „Ein Gesetz gebe ich euch, ein neues Gesetz gebe ich euch..."

„Wenn euer Herr und Meister das getan hat (er hat die Füße gewaschen -den höchsten Liebes- und Ehrfurchts-Erweis der jüdischen Etikette), so sollt auch ihr einander das tun." „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, son­dern Freunde." Und schließlich das große Geschenk dieses Liebesabends -die neue, durch seine göttliche Macht erfundene Art seines Verbleibens bei uns auf der Erde, das Geheimnis der hl. Eucharistie. Aber auch alles, was er am Ölberg mit seinen geistigen Augen gesehen und angenommen hat, damit wir die Möglichkeit haben, diesen grausamen Ergebnissen des menschlichen Hochmuts Gott gegenüber auszuweichen. Und das große Wunder seiner Auferstehung! Das ist doch eine Ermutigung für uns alle, daß unsere Hoffnung nicht ohne Grund ist, damit wir in der Lage sind, ihm zu vertrauen (haben Sie das am Ostermontag nicht empfunden?). Und das alles ist nicht eine schöne Poesie, sondern eine geschichtliche Realität, wie auch alle anderen historischen Ereignisse auf dieser Welt. Das Geheim­nis der Menschwerdung Christi ist doch kein Zufall, sondern die Liebe Gottes zu uns, die auf diese Weise gezeigt wurde.

Kann aber wirklich ein tiefes Empfinden des Geheimnisses dieses Festes das Herz des Menschen so mächtig machen? Eine Betrachtung darüber ist die unbedingte Voraussetzung, damit uns die Gabe, gewaltig zu lieben, geschenkt wird. Die Liebe verändert die Kräfte des Herzens (könnte, bei­spielsweise, einem Tier die Gabe des Denkens gegeben werden, dann wäre das eine grundsätzliche Veränderung seines Wesens). Man kann sagen, der Mensch wird dann zu einem Menschen mit einer ganz neuen Macht, direkt nicht wieder zu erkennen, nicht einem Menschen ähnlich, der sich durch seine natürliche Macht äußert. Damit aber dieses Wunder der Umwand­lung sich vollzieht, ist es notwendig, ein tiefes Empfinden zu bekommen für alle Zeichen, mit denen sich die göttliche Liebe zu uns überall, in jedem alltäglichen Geschehen äußert, denn dann kann der Mensch nicht mehr sagen, daß ihn niemand geliebt hat. Und dank der Wirkung der Gnade wird diese Macht der Liebe, ähnlich wie bei der natürlichen Liebe, auch auf dem Gebiet der Gefühle wahrnehmbar.

Erst dann, wenn der Mensch sich wundert über die ihm geschenkte Gabe Gottes, fühlt er selbst, daß er jedem die Liebe schuldet. Wieviel verlieren wir aber durch unsere Gedankenlosigkeit! Was man doch nur nimmt - die Kräfte des Körpers, die Macht der Vernunft, das Licht der Augen - alles ist ein Geschenk! Als wir zur Welt gekommen sind, haben wir uns doch nichts geben können. Wenn sich der Mensch dies alles ganz bewußt machen würde, - würde er den Tag beginnen mit dem Gedanken: „Siehe, Herr, ich gehe, um mit Deinen Gaben (Verstand, die Kräfte des Körpers) zu wirken!" Das wäre schon eine Bezeugung der Liebe und der Ehrerbietung Ihm gegen­über und gleichzeitig auch ein Empfinden Seiner Liebe. Und am Abend würde er Ihn fragen: „Gott, wie habe ich heute Deine Gaben angewendet?"

Wenn die Menschen an das alles bloß denken würden, - der kleine Tropfen der Liebe zum Schöpfer der Liebe hätte eine reformierende Bedeutung in ihrem Leben. So ganz einfach denkend, erlebt und empfindet der Mensch die Liebe Gottes zu ihm. Und dieses gewöhnliche Empfinden der Liebe gibt schon Energie, die anderen zu lieben, und dies umso mehr, wenn er immer wieder meditiert. Ein tiefes Empfinden reift, daß alles das, was sich beispielsweise in der Karwoche abgespielt hat, eine Realität und nicht eine Poesie ist, eine Realität, wie der Tag, den ich erlebe, oder wie ein Tag vor 10 Jahren usw.

Wir wollen also noch ein wenig bei dem Gedanken bleiben: Die Fakten des Lebens bezeugen, daß die Regeln der Etikette, der Freundschaft, ja der Liebe selbst, bald von Unkraut wie Selbstsucht, ungezügelten Ambitionen, Hochmut überwuchert werden, wenn sie nur auf Worten beruhen. Nur im Angesicht Gottes, als der Quelle jeder uns bekannten und unbekannten Liebe, bekommt jeder Mensch, der uns auf unserm Lebensweg begegnet, einen Wert. Es ist so ähnlich, wie wenn wir jemanden mögen und dann von selbst auch seine Verwandten schätzen. Beobachten sie nur: Sogar eine von einer mächtigen Naturkraft aktivierte natürliche Liebe degeneriert leicht, wenn er und sie ihre gegenseitige Liebe nicht im Angesicht Dessen sehen, der die erste Ursache der verschiedenartigen Formen der Liebe ist. Ich glaube, daß wir alle Beispiele der degenerierten Liebe kennen, die sich fast nicht mehr von der „Liebe" der Tiere unterscheidet.

Zu dieser Zeit schenkt mir die gütige Vorsehung die praktische Erfahrung, daß die erhabene zwischenmenschliche Liebe, nach der sich unsere Herzen sehnen, wirklich unmöglich ist, wenn sie nur auf die natürlichen Kräfte der Menschen gebaut ist, ohne sich und den anderen im Angesicht Gottes zu fühlen, der größer ist als ich und auch als du. Sogar bei den primitiven Religionen, die nicht das Glück haben, die Offenbarung Gottes zu kennen, hat das Gefühl der Menschen, ein anderes, größeres Wesen als man selbst ist, über sich zu haben, eine Bedeutung. Kein Volk, das die Offenbarung vergißt, wird ungläubig, sondern es degeneriert nur in seiner Religion, weil diese Erkenntnis dem Menschen angeboren ist.

Zur Zeit habe ich eine seltene Gelegenheit, zwei Internate miteinander zu vergleichen. Meine Studienzeit ist in meiner Erinnerung noch bis aufs kleinste lebendig. Wie im jetzigen „Internat" haben auch damals junge Männer darin gelebt. Es wäre wirklich interessant, in zwei Filmstreifen zeigen zu dürfen, welch ein unendlich großer Unterschied zwischen zwei Menschen besteht (z. B. beim Essen, beim Schlafen), die dieselben Lebens­bedingungen haben, von denen aber einer sich selbst und seine Freunde im Angesicht Gottes fühlt, der andere aber nur sich selbst! Bedenken Sie, daß hier sehr materialistisch gewordene Menschen konzentriert sind.

Und wenn so ein Mensch nicht allein ist, sondern unter seinesgleichen, treten seine Grundeigenschaften unglaublich hervor. Sie wissen, daß auch für mich selbst dieser praktische Vergleich einer der krassesten und sicht­barsten Beweise des Materiellen und des Geistigen im Menschen ist. Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, wie armselig, ohne jeglichen Schmuck und ohne Schönheit der Mensch ist, wenn es in seinem Beneh­men nur die Aufmerksamkeit für sich selbst, für sein Vergnügen, für seine eigene Bequemlichkeit, für seine Ambitionen gibt, wenn nur eine Sphäre bleibt, die ihn interessiert - das, was mit Sexualvergnügen in Verbindung steht, aber auch dies in allerniedrigstem Sinne karikiert. Wahrscheinlich sind sie nicht alle daran schuld, aber trotzdem - was für ein Anblick...

Ein paar praktische Beispiele. Wie schwer ist es, auf eine Arbeit zu verzich­ten, die für dich selbst Nutzen, besonders etwas zu Essen bringt, wenn nie­mand dich sieht. Wie leicht ist es, einen anderen zu verraten, nur um sich bei dem einzuschmeicheln, bei dem man Nutzen findet. Eine Schlange beim Mittagessenholen! Der eine oder der andere stellt sich einfach vor die anderen, als wenn er überhaupt nicht merken würde, daß hinter ihm Men­schen stehen, die er verdrängt. Sehen Sie, wie deutlich das Eigeninteresse sich zeigt - es ist nur der Wunsch, so schnell wie möglich zum Mittagessen zu kommen, den er nicht überwinden kann, wenn es auch eine Schande ist, den anderen gegenüber zu zeigen, daß man überhaupt keinen Willen hat. Die Sprüche, die nach einigen Worten immer wieder angewendet wer­den (die man unmöglich nennen kann), verraten die Sphäre ihrer Inter­essen. Es wird bis in die allerfeinsten Details hinein über die „Errungen­schaften" bei den Frauen geprahlt, über die Arten sich zu befriedigen, und dabei wird völlig vergessen, daß auch eine Frau ein Mensch ist. Mit Verwun­derung wird zugehört, wenn man über Verantwortung, über Folgen spricht, wenn man Vergleiche anstellt, wie z.B.: Wenn das deine Tochter, deine Geliebte, deine Mutter wäre und die anderen mit ihr das tun würden? Sie bejahen es, daß man so etwas nicht tun darf, aber... wer denkt schon dar­an? Man findet eine Reihe von Sophismen, Unsinnigkeiten, um sich zu rechtfertigen. Wahrhaftig, wenn der Mensch nicht die Gabe zu denken und zu reden hätte, wodurch würde er sich dann von einem Tier unterscheiden...

Sie dürfen aber nicht meinen, daß in ihnen kein Keimling des Guten ist. Man glaubt nicht, wieviel Herzensgüte, wieviel Freundlichkeit sie manch­mal zeigen können. Bei ihnen wird das alles nur nicht geordnet, bleibt ver­nachlässigt, wie in einem ungepflegten Garten. Wenn jemand aber ihn beaufsichtigen, pflegen würde, würde dieser Garten genauso Früchte geben. „Sende Arbeiter in Deine Ernte!" Und wenn man sie sieht, wie sehr möchte man mit ihnen teilen: „Herr, Du hast mir so viel gegeben... sei gnädig auch ihnen".

Sehen Sie, was mir jetzt eingefallen ist? Dieser einzige Wunsch allein, daß auch sie das haben dürfen, was sie nicht haben, formiert sich erst dann, wenn man selbst die Gabe empfindet; anders gesagt, wenn man selbst die Liebe empfindet.

Ich möchte Ihnen noch erzählen, was mir zur Erweckung dieser Gedanken viel geholfen hat. Das letzte Mal, als ich aus Anlaß der Feiertage angemalte Ostereier und andere Sachen bekommen habe, war ein informatives Blätt­chen beigefügt, wem und für welche Sachen ich dankbar sein sollte... Dar­auf erschienen, wenn ich ein Geschenk in die Hand nahm, vor meinen Augen nicht abstrakt, sondern konkret die Gesichtszüge des Menschen, der an mich mit seiner Wohltat gedacht hatte. Und angesichts dessen fühlt man sich schuldig jedem, der einem begegnet, etwas Gutes zu tun. Vergelts Gott!

Möge sich vor unserem geistigen Auge das Antlitz Gottes erheben, der sich in menschlichen Zügen offenbart hat, möge das Herz seine heimliche Bitte vernehmen: „Ich habe dir so viel Liebe gezeigt... Du darfst mehr ver­stehen, als die anderen. Sei Vertreter meiner Liebe, damit sie durch dein Benehmen, durch dein großes Wollen, jeden glücklich zu machen, lang­sam, aber sicher mich erkennen...

Am 2. Mai 1965.«