Vilnius. Am Abend des 22. Oktober 1988 verbreitete sich in Litauen durch die Radiowellen eine Nachricht, die nicht nur für die Gläubigen erfreulich war. Während der Gründungsversammlung der Bewegung zur Umgestaltung Litauens (Sąjūdis) gaben die Vertreter der Regierung bekannt, daß die Kathedrale von Vilnius ihren rechtmäßigen Eigentümern - den Gläubigen - zurückgegeben werde. Proteste, die Hunderttausende von Menschen Litauens, meistens Katholiken, unterschrieben haben, waren nicht vergebens. Die Kathedrale von Vilnius, Wiege unseres Chri­stentums und des nationalen Geistes, wird ihre zentrale Stellung unter den Heiligtümern Litauens wieder einnehmen.

Am 23. Oktober, um 7 Uhr morgens, versammelten sich die Teilnehmer an der Gründungsversammlung der Bewegung zur Umgestaltung Litauens aus Vilnius, die Gäste aus der Hauptstadt, aber auch Gläubige aus allen Gegenden Litauens auf dem Gediminas-Platz, wo vor dem Portal der Kathedrale eine hl. Messe für die Wiedergeburt Litauens gefeiert werden sollte. Der Gediminas-Platz war mit Menschen guten Willens aus ganz Litauen gefüllt.

Die hl. Messe feierten der Erzbischof L. Povilonis, die Bischöfe A. Vaičius, J. Preikšas, V. Michelevičius und einige Dutzend Priester. Die feierliche Messe leitete der Kardinal der Katholischen Kirche Litauens Vincentas Sladkevičius. Zum ersten Mal nach dem Kriege wurde eine feierliche Messe vor der Kathedrale vom litauischen Fernsehen übertragen.

Wir geben die Predigt des Kardinals V. Sladkevičius wieder, die er während der hl. Messe gehalten hat:

»Teure Brüder und Schwestern, liebe Landsleute, liebe Gäste. In diesem Jahr Mariens hat unser Volk viele Gnaden und Gaben erfahren und erlebt. Das Wunder der Gnade und Barmherzigkeit Gottes geschieht unserem Volke auch in diesen Tagen durch die wunderbaren und erfreulichen Umgestaltungen, die sich im Leben unseres Volkes vollziehen. Gestern noch, als ich überlegte, was ich zu Ihnen reden soll, hatte ich vor, an jene Ungerechtigkeiten zu erinnern, die die Gläubigen deswegen erleben müs­sen, weil die Kathedrale von Vilnius geschlossen ist, weil sie nicht für die Zwecke bestimmt und verwendet wird, für die sie errichtet worden ist. Am Abend erfuhr ich, daß die Kathedrale zurückgegeben worden ist. Meine Rede fand eine andere Wende. Heute möchte ich danken. In erster Linie den Brüdern unseres Volkes, die eine große politische Vernunft und eine solche brüderliche Liebe zu uns Gläubigen haben und uns die Kathedrale gerade am Vorabend dieses Tages, dieser Feierlichkeiten zurückgaben. Die­sen Dank an sie möchte ich mit einem Wunsch verbinden: einem Segens­wunsch für sie, einem Segenswunsch für ihre edlen und guten Gedanken und Schritte.

Wundersame und große Umgestaltungen haben im Leben unseres Volkes stattgefunden und finden noch statt. Wir haben die Kathedrale noch nicht auf feierliche Weise betreten, heute stehen wir noch vor ihrer Tür, wir wollen uns aber umschauen - die Kathedrale ist selber zu uns gekommen. Sie ist in unsere Mitte gekommen und ließ sich wie eine Mutter zwischen ihren Kindern nieder, damit sie ihre heilbringende Wahrheit und Liebe unter uns verbreiten kann, die wir schon seit Jahrzehnten benötigen, aber nicht das Glück hatten, sie von ihr schöpfen zu dürfen. Ja, man könnte sagen, die Kathedrale ist aus sich selbst herausgegangen und hat ihre Wände erweitert und um diesen ganzen Platz gezogen. Dieser Platz ist jetzt unsere richtige Kathedrale. Und noch mehr; unsere Kathedrale hat sich bis zum Rand unserer Heimat erweitert: Von der Ostsee bis nach Polen, von der Ostsee bis nach Weißrußland - hier steht unsere Kathe­drale. Die Kathedrale, das seid ihr, meine teuren Gläubigen, ihr, die ihr die christlichen und geistigen Tugenden schätzt und nach ihnen lebt.

Wir freuen uns über die Umgestaltungen, wir wollen gleichzeitig aber auch daran erinnern: Wir müssen lernen zu warten und dürfen nicht vorschnelle Schlüsse ziehen. Sie haben sich noch nicht in ganzer Fülle, in voller Deut­lichkeit, in vollem Segensreichtum gezeigt. Wir zweifeln noch manchmal daran, ob es die wahren sind. Die derzeitigen Umgestaltungen sind wie die Triebe des Wintergetreides im Herbst. Wir wissen noch nicht, was in die­sen Trieben verborgen ist, Roggen oder Weizen, und nur ein erfahrenes Auge kann es feststellen. Wir sehen heute nur die Triebe der Umgestal­tung, wir sehen aber nicht ihr Korn, wir sehen noch keine Ähren, noch keine Reife...wir hoffen nur auf sie. Wir müssen das Warten lernen. Wir dürfen nicht in den Keimlingen schon die Ähren und das Korn sehen wol­len. Wir müssen zuerst noch auf Sommer und Herbst warten. Wir müssen großzügig warten lernen, und die Umgestaltungen werden sich Schritt für Schritt immer klarer im Leben unseres Volkes zeigen. Wir wollen heute fei­erlich sagen: Wir glauben an Umgestaltungen, wir warten auf noch grö­ßere, und wir freuen uns über sie. Unsere gelb-grün-rote Flagge weht schon, und sie weht als Zeichen der Lebendigkeit unseres Volkes für die ganze Welt. Heute verkünden wir: Das litauische Volk ist ein lebendiges Volk. Es will ein selbständiges, ein unabhängiges Volk sein, das von keinen Schritten oder Stiefeln getreten wird. Es wird selbständig sein eigenes Leben führen. Wir sind davon überzeugt, daß die begonnene Umgestal­tung uns eine glückliche Zukunft Litauens, ein selbständiges Leben des Volkes bringen wird. Wir müssen nur, wie ich schon gesagt habe, warten lernen, wir wollen Geduld üben und nicht einer dem anderen auf die Fer­sen treten, wir wollen einander nicht herumschubsen, niemanden beleidi­gen. Für die im Herbst ausgesäten Triebe der Umwandlung wird zuerst der Frühling kommen, dann der Sommer und dann die Zeit der Früchte - eine gesegnete Zukunft unserem Volke.

Wir müssen lernen, nicht nur geduldig zu warten, sondern, wie die Triebe, auch zu wachsen. Das Warten ist keinesfalls eine Stagnation, es ist kein Stehen auf der Stelle, sonder ein Wachsen. Der Trieb wächst, daraus kommt eine Ähre und dann werden sich die ersten Körner in der Ähre zei­gen. Warten, das heißt wachsen. Unser Volk muß das Warten mit seinem Wachsen verbinden. In welche Richtung müssen wir wachsen? Diese Rich­tung zeigt uns sehr schön das Evangelium Christi. Über das Kind Jesus wird im Evangelium gesagt: „Er nahm zu an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen". Unser Volk ist zum großen Teil dem Kinde Jesu ähnlich, oder es will geistig ihm ähnlich werden, und gerade in diesen zwei wichtigsten Richtungen wachsen. Wachsen in der Weisheit und wachsen in Gnade bei Gott und den Menschen. Danach sehnen wir uns alle, das wünschen wir einander und wollen einander dabei helfen. Wenn wir ein größeres Volk sein wollen, müssen wir wachsen, wenn wir zahlreicher sein möchten, warum wachsen wir dann nicht? Warum wachsen wir nicht nur nicht, warum morden wir sogar das eigene Volk, und das in seinem unschuldigsten Stadium, in dem es noch nichts Böses getan, noch kein böses Wort gesprochen, noch niemanden beleidigt hat? Dieses unschuldige Leben steht noch an seinem Beginn, wir aber beeilen uns, es zu ermorden, wir werden Mörder und Blutsauger des eigenen Volkes. Wir wollen unser Volk vergrößern, indem wir das begonnene, aber noch ungeborene Leben achten. Sonst wird das unschuldige Herz, das kaum noch zu schlagen begann, nicht erfahren, was Litauen ist, und wieder wird einer fehlen, der die litauische Sprache spricht. Es gibt keine andere Möglichkeit, größer zu werden, als das Wachsen. Es hat Zeiten gegeben, wo man versuchte, nicht durch das Wachsen alles zu vergrößern, sondern durch das Ausreißen. Man riß eine junge Eiche heraus, hob sie in die Höhe und man meinte, daß man sie dadurch größer gemacht hätte. Es genügt nicht, sie höher zu heben, eine Eiche muß man wachsen lassen, man muß ihr Zeit lassen, die Wurzel tief in die Erde zu setzen, damit sie aus der Tiefe ihre Nahrung ziehen kann, erst dann wird die Eiche wachsen können.

Es ist notwendig, daß die Wurzel unseres Volkes sich tief in die göttliche und die menschliche Weisheit verwurzelt, damit es die bürgerlichen und die göttlichen Tugenden richtig verstehen kann. Erst dann werden wir an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen wachsen. Dann werden wir ein großartiges, ein lebendiges, ein selbständiges, ein unabhängiges Volk, wonach wir uns alle sehnen. Durch unser allseitiges Wachsen werden wir dieses unser Sehnen, großartig, selbständig, unabhän­gig zu sein, klar zeigen.

Heute, da wir so zahlreich versammelt sind, um dem Schöpfer des Alls unsere Verehrung zu erweisen, um uns in brüderlicher Liebe zu vereinen und einander geistig zu stärken, wollen wir unsere große Verbindung mit dem Glauben unserer Eltern und Ahnen zum Ausdruck bringen; wir wol­len Gott unsere Dankbarkeit mit den Worten des Hymnus bekunden: „Dich, o Gott, verehren wir, Dich beten wir an, Dich bekennen wir".

Ich möchte meine Rede mit den Versen unseres großen Dichters Bernardas Brazdžionis abschließen:

„Aus Deiner Hand, mein Gott, empfange ich mein Morgen,

der helle Arbeitstag kommt mir aus Deiner Hand,

aus Deiner Hand empfange ich mein Lebensglück,

und auch die Zukunft, das Jetzt und den kommenden Tag.

 

Auf Deiner Hand stehen alle Gehöfte der Heimat,

die Gärten, die Wälder und all unsre Felder.

Unser Herz wird solange sich geborgen wissen,

solange Du es birgst wie eine Taube in der Hand."«

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Vilnius. Am 6. September 1988 wurde S. Eminenz Kardinal Vincentas Sladkevičius zu dem Bevollmächtigten des RfR, P. Anilionis vorgeladen. P. Anilionis bekundete in seiner Rede die Unzufriedenheit der Behörde für Religionsangelegenheiten über die Aktivitäten des Kardinals. Dem Bevoll­mächtigten mißfiel die Versammlung der Priester, die am 3. August, ohne sein Einverständnis, im Priesterseminar zu Kaunas stattgefunden hat. Die Rede, die der Kardinal während der Versammlung vor den Priestern gehal­ten hat, bewertete P. Anilionis als antisowjetisch und forderte den Kardinal auf, sich nach jedem in der Rede ausgesprochenen wichtigeren Punkt zu rechtfertigen. Der Kardinal wurde beschuldigt, die von der Regierung soge­nannten Priester-Extremisten während der Versammlung der Priester nicht am Reden gehindert zu haben, wie z.B. den zurückgekehrten Priester Alfonsas Svarinskas, den Pfarrer von Valkininkai, Priester Algimantas Keina, oder der Dekan von Lazdijai, Priester Vincentas Jalinskas. Der Bevollmächtigte prahlte damit, er habe eine Videoaufnahme über den Ver­lauf der Versammlung. P. Anilionis ermahnte den Kardinal V. Sladkevičius auch wegen der eigenmächtigen Aufnahme, d.h. nach Beurteilung der kirchlichen Obrigkeit, der nach Meinung der Regierung extremistisch gesinnten jungen Männer in das Priesterseminar. Die pastorale Tätigkeit des Kardinals V. Sladkevičius bezeichnete die Behörde des RfR als „Steine in die Fenster der sowjetischen Regierung werfen". „Passen Sie nur gut auf, daß die Steine nicht zurückspringen und daß die Kirche nicht darunter lei­den muß", - warnte der Bevollmächtigte P. Anilionis den Kardinal.

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Kaišiadorys. Der Kanzler der Diözese Kaišiadorys, Kanonikus Jonas Jonys, überreichte am 21. September 1988 dem Bevollmächtigten des RfR P. Anilionis eine Meldung über neue Ernennungen der Priester in der Diö­zese Kaišiadorys. Den Bevollmächtigten brachte die Tatsache aus der Fas­sung, daß die Ernennungen der Priester für die Pfarreien ohne vorherige Vereinbarungen mit seiner Behörde erfolgten, besonders war er aber mit der Ernennung des Priesters Jonas-Kąstytis Matulionis zum Vikar der Kathedrale von Kaišiadorys nicht zufrieden. P. Anilionis warnte den Kardi­nal aufgebracht davor, „mit einer Konterrevolution zu beginnen". Moskau erkenne ihn nicht als Kardinal an, und der Rat für Religionsangelegenhei­ten werde die Akte des Kardinals V. Sladkevičius dem Ministerrat zur Bera­tung vorlegen. Wie die weitere Zukunft des Kardinals ausschauen werde, wisse er nicht, sagte der Bevollmächtigte, so dürfe es aber nicht weiter gehen - es sei notwendig, zu den alten, gewohnten Praktiken der „Verein­barungen" zurückzukehren.

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Kaunas. Am 25. September 1988 besuchte S. Eminenz Kardinal Vincen­tas Sladkevičius die Erzkathedrale und Basilika zu Kaunas. Zu einer zahl­reichen Menge von Gläubigen sagte der Kardinal, daß die Muttergottes Maria im Leben der Katholischen Kirche Litauens eine besondere Stelle einnimmt, was besonders in diesem Marianischen Jahr in Erscheinung getreten sei: „Die litauische Nationalflagge wurde zugelassen, die Intelli­genz Litauens ist in eine Bewegung zum Kampf für die geistige und ökono­mische Wiedergeburt der Heimat zusammengetreten. Die Kirche trägt aber noch viele Wunden", sagte der Kardinal. „Das ist die Kathedrale von Vilnius, die in eine Bildergalerie umfunktioniert ist, das ist die entweihte St. Casimir-Kirche, die bis jetzt noch nicht zurückgegebene „Königin des Friedens"-Kirche in Klaipėda, der immer noch verbannte Bischof der Erzdiözese Vilnius, Julijonas Steponavičius, und der ebenso verbannte Priester Sigitas Tamkevičius.

Am Schluß seiner Rede ermutigte der Kardinal die Gläubigen mit der Fest­stellung, daß die Mutter Gottes über Litauen wacht und für es sorgt, wie sie für das junge Brautpaar bei der Hochzeit in Kanaa in Galiläa sorgte, und uns nur die eine Bedingung stellt - ihrem mütterlichen Schutz zu vertrauen.

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Panevėžys. Am 2. Oktober 1988 besuchte S. Eminenz Kardinal Vin­centas Sladkevičius die Kathedrale von Panevėžys. Die Gläubigen empfin­gen den Kardinal und überreichten dabei eine Liste der Versprechungen, durch die sie sich verpflichten, durch Gebet, Einigkeit und Gehorsam die Tätigkeit des geliebten Hirten zu unterstützen. Kardinal V. Sladkevičius forderte die Gläubigen seinerseits auf, ihr Leben nach den allermenschlich-sten Prinzipien - nach den 10 Geboten Gottes auszurichten.

Nach dem Gottesdienst gratulierten die Kinder, die Jugend und einzelne Gruppen der Gläubigen dem obersten Hirten der Katholischen Kirche Litauens. Auch das vor kurzer Zeit gegründete Kirchenkomitee der Hl. Dreifaltigkeits-Kirche zu Panevėžys, das für die Rückgabe dieser Kirche an die Gläubigen kämpft, gratulierte ihm. Der Kardinal wünschte den Gläubi­gen Ausdauer und Willenskraft, um zu erreichen, daß sie die Hl. Dreifaltig­keits-Kirche für die Gläubigen der wachsenden Stadt zurückerhalten, die ihnen nach dem Krieg weggenommen worden ist.

Biržai, Pabiržė, Nemunėlio Radviliškis. Am 9. Oktober 1988 besuchte Kardinal V. Sladkevičius die Orte seiner ehemaligen Verban­nung: Nemunėlio Radviliškis, Pabiržė und das Zentrum des Dekanats Biržai, wo er während seiner Verbannung nicht selten den Gläubigen Exer­zitien hielt oder die Feierlichkeiten der Ablaßfeier leitete. In allen diesen Pfarreien wurde der Kardinal warm empfangen, besonders beeindruckend empfingen ihn aber die Gläubigen der Pfarrei Nemunėlio Radviliškis. (In Nemunėlio Radviliškis verbrachte der Kardinal 17 Jahre seiner Verban­nung.) Mit Nationalflaggen und Flaggen des Papstes geschmückt, geleite­ten sie den Kardinal vom Dorf Medeikiai am Rande der Pfarrei bis in die Pfarrkirche.

In seiner Rede betonte der Kardinal, daß die Schwierigkeiten im Leben des Gläubigen keine Niederlagen, sondern „ein Schlüssel zu größten Gaben Gottes" sind.

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Kaunas. In der Karmeliten-Kirche zu Kaunas wurde am 26. November 1988 um 17 Uhr des 70. Jahrestages der Gründung der litauischen Armee im unabhängigen Litauen gedacht. Den Gottesdienst leitete der Dekan von Lazdijai, Priester Vincentas Jalinskas.

Klaipėda. Auf Beschluß der Regierung wurde die Kirche „Maria -Königin des Friedens" von Klaipėda am 24. November 1988 schließlich den Gläubigen zurückgegeben. Unter zahlreicher Teilnahme der Gläubigen von Klaipėda, wurde am 25. November in der zurückerhaltenen Kirche die erste hl. Messe gefeiert. Die hl. Messe zelebrierten der Bischof Antanas Vaičius, die Dekane der Diözese Telšiai und die Priester des Dekanats Klaipėda.

Der Pfarrer mußte wiederholt die Kirchenchorsänger auffordern, für die Vertreter der Regierung das „Lang sollen sie leben" zu singen, denn den Niederlitauern erschien es nicht als unbedingt erforderlich, denen feierlich zu danken, die nur die Ungerechtigkeiten ihrer Vorgänger - der Stalini­sten - wiedergutgemacht haben. Eine gestohlene Sache zurückzugeben ist ja auch kein Verdienst, sondern nur die elementarste Pflicht.

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Vilnius - Kaunas. In der dritten Nummer der Veröffentlichung der Bewegung für die Umgestaltung „Atgimimas" („Die Wiedergeburt") vom 15. Oktober 1988 hat sich der neu ins Leben gerufene Katholische Frauen­bund „Caritas" der Öffentlichkeit vorgestellt. Diese Vereinigung ging aus einer Untergrundbewegung hervor, die das Ziel hatte, bei günstigeren Bedingungen eine größere Tätigkeit zu entwickeln. Die Ziele der „Caritas" sind weitgefächert. Im Entwurf des Statuts steht geschrieben: „Caritas" strebt nach Wiederbelebung der wahren Werte der Berufung der Frau und fördert die vollkommene und vielseitige Tätigkeit der Frau als Mutter. (...) Hauptziel der „Caritas" ist es, eine nach wahren Werten strebende Gesell­schaft zu schaffen."

Die „Caritas" ist bereit, auf menschliche Not und Armut, besonders auf die geistige, mit aktiver Hilfe zu antworten. Der Katholische Frauenbund sieht als wichtigste Aufgaben die Erziehung der Persönlichkeit und die Jugend­erziehung an. Litauen leidet unter Alkoholismus, unter der sich verbreiten­den Drogensucht und der Prostitution; auf diesem Gebiet zu helfen ist „Caritas" gerne bereit. Der Bund gibt den Familien eine geistige Unterstüt­zung, damit sie stark genug werden; er wird ihnen helfen, das Ziel ihrer Berufung, ihre Erhabenheit, aber auch ihre Verantwortung als Mitarbeiter des Schöpfers bei der Schaffung neuen Lebens und seiner Erziehung voll­kommen zu verstehen. Der Bund wird für die Erhaltung des ungeborenen Lebens und für die Abschaffung der Abtreibung kämpfen; wird sich bemü­hen bei der Lösung der Fragen der alleinstehenden Mütter, der verführten Mädchen und der zerrütteten Familien materiell und moralisch zu helfen. Einzelne Abteilungen der „Caritas" werden sich der Waisenkinder anneh­men. Die Mitglieder der „Caritas" werden überall dort dem Nächsten zu Hilfe eilen, wo sie nur benötigt werden, wo nur ein Mensch geistig oder materiell leidet.

Man darf sich nur freuen, daß die Gesellschaft den Mangel an Geistigem sich so zu Herzen genommen hat. Nach der bescheidenen Selbstdarstel­lung der „Caritas" in der Veröffentlichung „Atgimimas", erweckte sie in kurzer Zeit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Die Mitglieder des Frauenbundes wurden schon gebeten, in der Redaktion der Zeitschrift „Tarybinė moteris" („Die sowjetische Frau") mitzuarbeiten, der Rundfunk und das Fernsehen haben schon um ihre Meinung in Fragen der Kinder-und der Jugenderziehung, ja sogar der Erziehung der Gefangenen gebeten und manche Schulen bitten sie, ihren Schülern Vorträge in Fragen der sitt­lichen Erziehung zu halten. „Caritas" bereitet sich vor, eine Gründungsver­sammlung zusammenzurufen, von der man erhofft, daß es gelingt, den Bund als juristische Person zu legitimieren.

Es gibt viel zu tun, im Vertrauen auf Gott beginnt „Caritas" ihre Tätigkeit und fordert alle Frauen guten Willens, denen die Nöte der Menschen nicht fremd sind, auf, sich dem Bund anzuschließen.

Pivašiūnai (Rayon Alytus). Schon am frühen Morgen des 14. August 1988 sammelten sich die Gläubigen aus allen Gegenden Litauens im Hei­ligtum der Dzūkija in der Kirche von Pivašiūnai, wo vor dem Hochamt ein Bild der Jungfrau Maria - Trösterin der Betrübten gekrönt werden sollte. Die Wallfahrer füllten die Kirche, den Kirchhof und auch einen Teil des Friedhofs.

Nach der Frühmesse hielt der Dekan von Lazdijai, Priester V. Jalinskas eine Predigt. Der Redner berührte die aktuellen Wunden unserer Gesell­schaft dieser Zeit: den Alkoholismus, die Fragen der Abtreibungen und die Tragödie der verlassenen Kinder.

Vor dem Hochamt weihte. S. Eminenz Kardinal Vincentas Sladkevičius die Kronen, die zur Krönung des Bildes aus Rom geschickt worden waren, und sie wurden in einer Prozession um die Kirche getragen. Nach der Rückkehr in die Kirche folgte die Krönung des Bildes der Jungfrau Maria - Trösterin der Betrübten.

Das Hochamt leitete S. Eminenz Kardinal Vincentas Sladkevičius, der Bischof von Telšiai, Antanas Vaičius, hielt die Predigt.

Nach Abschluß des Gottesdienstes sprach der aus dem Lager von Perm zu­rückgekehrte Priester Alfonsas Svarinskas zu den Gläubigen. In seiner Rede forderte er die Gläubigen auf, mit ganzem Herzen den Glauben zu praktizieren und nach Möglichkeiten zu suchen, um das religiöse Wissen vertiefen zu können; er berührte auch das Problem der katholischen Fami­lie und der Abstinenz.

An den Feierlichkeiten nahmen nicht weniger als 70000 Wallfahrer teil.

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Vilnius. Viktoras Petkus, der aus der Verbannung zurückgekommen ist, übergab am 8. September 1988 dem Priester Edmundas Paulionis, der vor der Kathedrale zu Vilnius die hl. Messe gefeiert hatte, einen Meßkelch und ein Korporale des verstorbenen Märtyrer-Bischofs von Telšiai, Ramanaus­kas, die der Bischof in den Tagen seiner Gefangenschaft benutzt hatte.

Diese kostbare Reliquie, gehütet während der Durchsuchungen und Etap­pen, wurde jetzt wie im Staffellauf der jungen Generation übergeben, damit sie, wie die Treue zu Gott, zu Kirche und Heimat, geschützt und ver­teidigt wird.

Kaunas. Im Jahre 1987 wurde mit dem Anbau am Verwaltungsgebäude des Parteikomitees des Rayons Požėla in Kaunas begonnen, der die seit 1949 von der atheistischen Regierung geschlossene St. Gertrud-Kirche verdeckt. Ungeachtet der Proteste der einzelnen Vertreter der Gesellschaft wurde das Bauen schnell fortgesetzt. Zur Verteidigung der St. Gertrud-Kirche schloß sich die Initiativgruppe der Bewegung zur Umgestaltung Litauens der Stadt Kaunas an. In einem offenen Brief legte die Initiativgruppe dem Vorsitzen­den des Exekutivkomitees der Stadt Kaunas, Staškūnas, ihre Anschau­ungen vor. Dieses Schreiben wurde bei der Protestaktion vor dem Gebäude des Exekutivkomitees der Stadt Kaunas am 25. Juni öffentlich vorgelesen. Die Stadtverwaltung wurde aufgefordert, sich wegen der unberechtigten Baumaßnahme und der vollkommenen Ignorierung der Meinung der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Die Erklärungen des Exekutivkomiteevor­sitzenden Staškūnas und seine Argumente klangen nicht überzeugend. Die Stadtverwaltung suchte nach Kompromissen, stellte die Bautätigkeit ein und versuchte das zu erhalten, was schon fertig war. In der zweiten Hälfte des Monats Juli erreichte die Initiativgruppe der Stadt Kaunas eine Nach­richt, daß wieder begonnen wurde, an die Baustelle Baumaterial anzufah­ren. Die Mitglieder der Bewegung schickten Protesttelegramme an den Ministerrat und an das Exekutivkomitee der Stadt. Es wurde nicht weiter­gebaut. Die Stadtverwaltung beauftragte im August die Architekten der Stadt, bis zum 1. Oktober einen neuen Entwurf auszuarbeiten, in dem der Abriß der begonnenen Baumaßnahmen und Wiederherstellung der Umge­bung vorgesehen ist.

Anfang des Monats August kam es in der St. Gertrud-Kirche zu einigen Provokationen: Die Tür wurde aufgebrochen und das Werkzeug der Archäologen wie auch die Gebeine der dort beerdigten Menschen ver­streut. Zwei mal haben es unbekannte Personen mit einer Brandstiftung versucht. Als Antwort darauf bewachten die Mitglieder der Umgestaltungs­bewegung der Stadt Kaunas einige Tage lang ununterbrochen die St. Ger­trud-Kirche. Erst dann, als die Abteilung für innere Angelegenheiten der Stadt versichert hatte, daß derartige Provokationen sich nicht mehr wieder­holen werden und eine Bewachung der Kirche garantiert hatte, wurde die Bewachung abgebrochen.

Das Schicksal der St. Gertrud-Kirche ist bislang noch nicht endgültig geklärt...

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Panevėžys. Im Juli 1988 haben die Gläubigen der Stadt Panevėžys das Kirchenkomitee der Hl. Dreifaltigkeits-(Marianer-) Kirche gewählt und es beauftragt, sich um die Rückgabe der Hl. Dreifaltigkeitskirche an die Gläu­bigen zu kümmern.

Am 10. August stellte sich das neugebildete Kirchenkomitee dem Vorsit­zenden des Exekutivkomitees der Stadt, J. Bečelis, vor und versuchte die Frage der Rückgabe der Kirche zu besprechen. Der Vorsitzende erklärte darauf, daß es der Stadt Panevėžys an kulturellen Einrichtungen, wie z. B. einer Ausstellungshalle, einer Bildergalerie, einem Konzertsaal, einem Kulturhaus usw. fehle, daß es aber an Kirchen fehle, das glaube er nicht. Für eine Stadt, in der 125000 Einwohner leben, seien, nach Meinung des Vorsitzenden, zwei noch tätige Kirchen vollkommen ausreichend.

Am Ende des Gesprächs gab der Vorsitzende J. Bečelis dem Kirchenkomi­tee gegenüber in der Beziehung nach, daß er versprach, die Frage der Rückgabe der Kirche mit dem Bevollmächtigten des RfR, P. Anilionis, zu besprechen. Als die Mitglieder des Kirchenkomitees ihn daran erinnerten, daß die Entscheidung des Exekutivkomitees der Ortsverwaltung in dieser Frage genüge, was auch der Generalsekretär des ZK der KPdSU, M. Gor­batschow, unmißverständlich in seiner Rede bestätigt hatte, versuchte J. Bečelis sich zu rechtfertigen: „Ja. Aber ich bitte Sie, auch mich zu ver­stehen".

Am 21. September traf sich das Kirchenkomitee zum zweiten Mal mit der Stadtverwaltung. Diesmal nahm auch der Stellvertreter des Vorsitzenden, S. Sruogius, an dem Gespräch mit den Gläubigen teil. Die städtischen Beamten erklärten, daß ein Perspektivplan aufgestellt sei, wonach die Drei­faltigkeitskirche nach ihrer Renovierung in einen Saal für Ausstellungen und Orgelkonzerte umgewandelt werde; dem Kirchenkomitee schlugen sie vor, für die Zukunft an die Errichtung einer neuen Kirche in Mikrorayons der Stadt zu denken. Die Gläubigen forderten mit Begründung auf, die Kirche den richtigen Eigentümern zurückzugeben und sie für den richtigen Zweck, die Verehrung Gottes, zu verwenden.

Die Vertreter der Verwaltung behaupteten, daß sie die Kirche auch des­wegen nicht zurückgeben könnten, weil in ihrer Nähe das Filmtheater „Versme" wie auch die Technische Berufsschule eingerichtet sind, eine Kir­che aber mit diesen Einrichtungen unvereinbar sei. Die Gläubigen fühlten sich beleidigt und konterten: „Vorsitzender, sind denn die Gläubigen auch heute noch als Aussätzige angesehen? Ist denn dem Parteikomitee der Stadt und der Balčikonis-Mittelschule eine Nachbarschaft mit einem Kran­kenhaus für Geschlechtskranke oder mit einem Lager für Frauen lieber?!"

Die Stadtverwaltung versprach nichts Konkretes, gab nur den Rat, sich nach zwei oder drei Monaten wieder zu melden.

Panevėžys. Am 21. September 1988 wurde der Pfarrer der Kathedrale von Panevėžys, Dekan Juozapas Antanavičius, in das Exekutivkomitee der Stadt Panevėžys vorgeladen. Die Stadtverwaltung machte dem Pfarrer Vor­würfe, weil dieser in seiner Rede vor der Zusammenkunft der Umgestal­tungsbewegung der Stadt nur über die Forderungen der Kirche gespro­chen, sich aber nicht bei der Regierung für die vor einigen Jahren erteilte Erlaubnis, auf Kosten der Gläubigen die Kathedrale renovieren zu dürfen, bedankt habe.

Im Laufe des Gesprächs antworteten die Vertreter des Exekutivkomitees auch auf die Erklärung der Priester und Gläubigen wegen der Rückgabe der Hl. Dreifaltigkeitskirche. Nach der Meinung der Beamten kann die Kir­che nicht zurückgegeben werden, weil es angeblich der Stadt an kulturellen Einrichtungen fehle, und eine davon - eine Ausstellungshalle - sei gerade in dieser Kirche eingerichtet. Zur Zeit wird der neue Ausstellungspalast vollendet, es wäre aber für die Stadt nötig, einen zusätzlichen Saal für Aus­stellungen und Konzerte zu haben, und deswegen wird die Hl. Dreifaltig­keitskirche den Gläubigen nicht zurückzugeben. „Andernfalls" - so die Worte des Vorsitzenden des Exekutivkomitees, J. Bačelis - „benachteiligen wir ja die Bürger der Stadt Panevėžys, wenn wir ihnen die derzeit schon knappen Möglichkeiten kulturellen und künstlerischen Lebens wegneh­men."

Žlibinai (Rayon Plungė). Am 7. Oktober 1988 schickte der Pfarrer der Pfarrei Žlibinai, Priester Edmundas Atkočiūnas, gemeinsam mit dem Kir­chenkomitee eine Erklärung an den Direktor des Museums für Atheismus und Geschichte der Religionen zu Vilnius ab.

In der Erklärung wird darauf hingewiesen, daß die Kirche der Pfarrei Žlibinai nach dem Krieg den Gläubigen von der Regierung widerrechtlich weggenommen und in einen Sportsaal und später in ein Lager umgewan­delt worden ist, das in der letzten Zeit in einem bedauernswerten Zustand ist. Die Inneneinrichtung der Kirche von Žlibinai haben die Regierungsbe­amten konfisziert.

Nach der Rückgabe restaurieren nun heuer die Gläubigen ihre Kirche auf eigene Kosten. Sie fordern auf, die konfiszierten Sachen aus dem Museum für Atheismus und Geschichte der Religionen zurückzugeben.

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Laugalis (Rayon Klaipėda). In den Räumen des Bestattungsbüros von Laugalis, die für die in Wohnblocks lebenden Einwohner von Gargždai vor­gesehen sind, ist es bis jetzt nicht erlaubt, die Verstorbenen nach ihren

Überzeugungen oder den Überzeugungen ihrer Verwandten oder nach her­kömmlichen Traditionen aufzubahren. Der Direktor des Bestattungsbüros verbietet kategorisch, bei den Verstorbenen öffentlich zu beten oder reli­giöse Beerdigungslieder zu singen. Entsetzt über ein solches Verhalten, for­dern das Kirchenkomitee und die Gläubigen der Pfarrei Gargždai auf, die willkürlich handelnden Beamten von Laugalis zur Raison zu bringen.

Kapsukas. Am 10. November 1987 errichteten die Bürger der Stadt Kapsukas Stanislovas Kadušauskas und Stanislovas Miškinis im Dorfe Lūginės an der Stelle, wo das Gehöft stand, wo der selige Erzbischof Jurgis Matulaitis geboren wurde, ein schönes Kreuz aus Eiche. Nach einem Monat, Ende Dezember, rissen die Beamten der gottlosen Regierung das Kreuz aus.

Als bei der Versammlung der Bewegung (Sąjūdis) am 13. Juli 1988 die Frage nach der Verewigung der Geburtsstätte des seligen Erzbischofs Jurgis Matulaitis erhoben wurde, erlaubte die Rayonverwaltung dem Pfarrer, im Dorfe Lūginės eine Säulenkapelle zu errichten.

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Mielagėnai (Rayon Ignalia). In der Nacht des 26. September 1988 schnitten unbekannte Täter das Kreuz, das neben der Wegkreuzung des Dorfes Mielagėnai gestanden hatte, ab und legten es quer über die Straße. Das erwähnte Kreuz ist am 4. April 1914 errichtet worden und wurde von den Gläubigen besonders verehrt. Nicht einmal zur Zeit Stalins ist es geschändet worden. Es wurden alle Blumen, die vor der Kirche und vor der Bushaltestelle wuchsen, ausgerissen und zur Verspottung auf dem Weg zur Kirche verstreut.

Die Gläubigen der Pfarrei Mielagėnai erinnern sich mit Schmerzen daran, als in der Nacht des 20. Mai 1984 in der Gruft des Friedhofs die Särge mit den Überresten der dort Beigesetzten geschändet wurden und wie in der Nacht des 16. September desselben Jahres ihre Pfarrkirche ausgeraubt wurde. Die Rayonmiliz von Ignalina betrachtet solche Ereignisse gleichgül­tig: Die Verbrecher wurden bis jetzt nicht gefunden, weil nicht einmal ernsthaft nach ihnen gesucht wurde.

Am 19. September 1988 schickten 106 Gläubige der Pfarrei Mielagėnai eine Erklärung an die Staatsanwaltschaft der SSR Litauen ab mit der Bitte, auf die Mitarbeiter der Abteilung für innere Angelegenheiten einzuwirken und diese Übeltäter zu finden.