Die Freiheit zu sterben

Die litauischen Rayonzeitungen druckten im Dezember 1973 und Januar 1974 einen Aufsatz des Rates beim Ministerrat der Litauischen SSR Pranas Mišutis mit dem Titel „Das Sowjetgesetz und die Religion" ab. Das Wochen­blatt Kahla Vilnius (Hier spricht Vilnius) veröffentlichte einen umfang­reichen Aufsatz desselben Autors „Kirche und Religiosität in unseren Tagen" (1974, Nr. 5). Im Rahmen der Rundfunkreihe Akiratis (Horizont) vertrat derselbe Rat beim Ministerrat den Standpunkt, die Sowjetgesetze seien be­züglich des religiösen Kults äußerst human.

Wodurch ist die atheistische Propaganda derartig beunruhigt? Mišutis schreibt: „Wir haben die Pflicht, die ausländische reaktionäre Propaganda und die Versuche örtlicher Reaktionäre, die Sowjetwirklichkeit anzuschwär­zen und die Verhältnisse zu verfälschen, zu demaskieren." Die atheistische Propaganda erklärt unermüdlich, daß „unsere Gesetze über die religiösen Kulte demokratisch" seien.1

Schauen wir, was P. Mišutis von der „Freiheit" der Kirche sagt und was er verschweigt.

„Den Geistlichen ist es verboten, Kinder katechetisch zu unterrichten,2 Un­mündige zu kirchlichen Diensten heranzuziehen, sich in weltliche 


1        Aus dem Aufsatz von Mišutis „Sowjetgesetz und Religion".

2        Grund- und Anfangsunterricht über den christlichen Glauben.

Angelegen­heiten der Gläubigen einzumischen, Kurrende zu singen, irgendwelche Grup­pen oder Versammlungen zu organisieren, Gruppengespräche zu führen, sowie Exkursionen und andere Zusammenkünfte zu veranstalten. Der Geist­liche hat nicht das Recht, wirtschaftliche oder finanzielle Dinge abzuwickeln, Gottesdienst unter freiem Himmel zu halten, Beerdigungsprozessionen mit religiösen Attributen durchzuführen, Kreuzesweihen ohne diesbezügliche Genehmigung vorzunehmen, ausgenommen auf dem Kirchenhof und auf dem Friedhof, die Predigt zu nichtreligiöser Propaganda zu mißbrauchen (z. B. die Eltern zur religiösen Erziehung ihrer Kinder zu ermuntern; Anm. d. Redaktion) und auf die Gestaltung der Grabstellen Einfluß zu nehmen.Wir wären verpflichtet, Mišutis und die, die er vertritt, nach Verdienst zu beurteilen, wenn er zu dem Schluß gekommen wäre: „Den Geistlichen und den Gläubigen sind alle Voraussetzungen gegeben: sie haben die volle Frei­heit zu sterben."

Was aber tun die Geistlichen unter den jetzigen Bedingungen der „Freiheit"? „In jüngster Zeit", erklärt P. Mišutis, „sind die meisten Geistlichen dem Sowjetstaat gegenüber mehr oder weniger loyal... Einige Geistliche sind heutzutage ziemlich passiv und fassen ihre Pflichten formalistisch auf..." Es gibt tatsächlich loyale Geistliche. Einige von diesen betrachten die Gläu­bigen Litauens als Verräter an der Kirche und am Volk. Ihrer gibt es jedoch nur sehr wenige. J. Anicas erwähnt im Aufsatz „Im Kampf gegen die tük-kische Lüge (Gimtasis Kraštas —Heimatufer, 5. und 13. Dezember 1973) einige Geistliche, die öffentlich erklärt haben, in Litauen sei die Kirche frei. Ich hörte, wie ein Katholik, der diesen Aufsatz las, tief aufseufzte und sagte: „Daß Gott erbarm!" Dem, der zu seiner Rechtfertigung anführt, daß doch die Sowjetpresse Aussagen der Geistlichkeit veröffentliche, antworten die Gläubigen: „Wenn die atheistische Propaganda auch nicht ausgesprochene Gedanken unterschiebt, dann distanziert euch von ihnen und sei es nur in privaten Zirkeln und im übrigen weigert euch überhaupt, Interviews zu geben."

„Es gibt immer noch nicht wenige Geistliche", schreibt Mišutis, „die aktiv für die Erhaltung des Einflusses der Kirche auf die Menschen kämpfen ... Einige Diener des Kults beschränken sich nicht auf die ihnen vom Gesetz zugestandene geistige Tätigkeit, sondern versuchen, sich ins gesellschaftliche Leben einzumischen; sie impfen die Menschen mit bürgerlich-nationalisti­schem Ideengut, verkünden die erdachte Behauptung, es fördere der Atheis­mus die Entnationalisierung der Litauer, rufen Mißtrauen gegenüber der Sowjetordnung hervor und verbreiten alle möglichen Phantasien ...

Zum Dienst in der Kirche werden immer noch Unmündige herangezogen. Es gibt einzelne Fälle organisierten katechetischen Unterrichts für Kinder... Die illoyalen Geistlichen haben irgendwo ihre Fähigkeit aktiviert.


3 Kirche und Religiosität in unseren Tagen.

Sie wirken negativ auf die loyalen Geistlichen ein, aktivieren die klerikalen Elemente, die illegalen Klöster, hetzen die Leute auf, Klagen und Eingaben zu schrei­ben, trachten nach Veränderung der Gesetze über die religiösen Kulte und kämpfen für die sogenannte absolute Freiheit. Die reaktionären Geistlichen versuchen, überall Aufregung hervorzurufen über das angebliche Sklaven­dasein der Kirche und untergraben die normalen Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staat."4

Die Sowjetpresse stempelt die sogenannten Reaktionäre ab und droht ihnen. Die Rayonzeitung von Varėnai (eine Rayonstadt) Raudonoji vėliava (Rote Fahne) schreibt über den Dekan von Valkininkai Algimantas Kleina (zum Priester geweiht 1962): „Der Dekan der Kirche hat wieder einmal ohne ersichtlichen Grund, Baumaterial zur Renovierung der Kirche für mehrere Jahre um mehr als 20000 Rubel gekauft... Er zieht Kinder zur Teilnahme am Gottesdienst heran, droht den der Kirche gegenüber gleichgültigen Gläu­bigen, stört die feststehende Ordnung des Gottesdienstes... Alles das sind nicht zufällige Fehler, sondern der gesetzmäßige Weg des Dunkelmanns. Das, wir wiederholen es, kann nicht geduldet werden" (10. 1. 1974). P. Mišutis erwähnt die illegalen Klöster. Merkwürdig: Während der ganzen Nachkriegszeit schwiegen die Atheisten, als ob es in Litauen auch in der Einbildung keine Klöster gegeben habe. Aber es gab sie und sie bestehen bis heute. Das Glück der Klöster ist, daß sie im Untergrund leben, und der So­wjetstaat sie nur minimal kontrollieren kann. Die Novizen brauchen nicht die Qualen zu erleiden, die den Neuaufzunehmenden in den geistlichen Seminaren bereitet sind. Die Zahl derer, die die Berufung zum Klosterleben vernehmen, vermindert sich nicht, sondern nimmt zu. Den Klöstern ist als besonderes Verdienst anzurechnen, daß sie Kinder katechetisch unterrichten und Jugendarbeit betreiben. Schade, daß sie sich im allgemeinen wenig um religiöse Literatur für weltliche Katholiken kümmern. Die Unruhe, die die Klöster bei den Behörden hervorrufen, ist ein deutliches Zeichen dafür, daß sie nicht umsonst bestehen.

Was sind das nun für „klerikale Elemente", die Mišutis erwähnt? Das sind Gläubige, die das Leben der Kirche und ihre Zukunft lebhaft interessiert. Es ist kein Geheimnis, daß fast alle Gebetbücher, Katechismen und die ge­samte übrige religiöse Literatur unter ausnehmend schwierigen und gefähr­lichen Bedingungen gerade von diesen „klerikalen Elementen" herausgegeben worden sind. Dafür gebührt ihnen Ehre und Ruhm! Mišutis droht: „Noch gibt es Geistliche und besonders „aktive" Gläubige, die die Gesetze verletzen. Mit denen ist anders zu reden, man kann es nicht durchgehen lassen und niemand wird ihnen Nachsicht gewähren."5

„Um die Bedürfnisse der Geistlichen und Gläubigen zu befriedigen, wurden


4        Sowjetgesetz und Religion.

5        Kirche und Religiosität in unseren Tagen.

ein Ritual ,APEGYNAS', ein Gebetbuch ,MALDYNAS', die Beschlüsse des Vatikanischen Konzils ,VATIKANO SUSIRINKIMO NUTARIMAI, Hei­lige Schriften ,SVENTASIS RASTAS' und weitere besonders notwendige Literatur herausgegeben", schreibt weiter der Propagandist. Wenn man P. Misutis glauben soll, haben 1972 in Litauen 20000 Kinder an der Erstkommunion teilgenommen. Wieviel Kinder haben dann aber seit 1945 an der Erstkommunion teilgenommen? Und wieviel Gebetbücher sind an sie verteilt worden? Alles in allem ein paar dürftige Auflagen. Womit aber konnten sich diese Hunderttausende von Kindern auf die Erstkommu­nion vorbereiten, wenn der „demokratischste Staat der Welt" bis auf den heutigen Tag die Genehmigung zur Herausgabe auch nur einer Auflage des Katholischen Katechismus verweigert hat? Diejenigen aber, die den Gläu­bigen Hilfe erweisen wollten, wurden Repressalien unterworfen und schmachten noch jetzt in den Gefängnissen. Hier braucht bloß das wider­sprüchliche Sowjetklischee zitiert zu werden: „Einer der erstaunlichsten Triumphe der Demokratie in unserem Lande ist das unveräußerliche Recht auf die Freiheit des Gewissens" (Agitator Nr. 21, 1973). „Die Verminderung der Anzahl der Gläubigen bewirkte auch", schreibt Mišutis, „daß manche religiöse Gemeinschaften, besonders in den Städten, anwachsen ... Niemand ,entweiht' die geschlossenen Kirchen."6Behandeln wir zunächst die Frage, ob die Zahl der Gläubigen sich ver­minderte, als der Sowjetstaat die Kathedrale von Vilnius, St.Michael-Kirche in Kaunas, Regina Pacis-Kirche in Memel und eine Vielzahl anderer Kirchen schloß? Und kann man etwa Kirchen mehr entweihen, als es die Sowjetmacht tat, indem sie viele von ihnen in Lagerhäuser, in Sporthallen, in Kinotheater oder in Gottlosenmuseen verwandelte?

„1972 nahmen etwa 20000 Kinder an der Erstkommunion teil, obwohl in den ersten vier Schuljahren mehr als eine Viertelmillion unterrichtet wur­den."7 Da sagt Mišutis die Unwahrheit. In den Jahren 1972/1973 besuchten die ersten vier Klassen je rund 57000 Kinder (siehe LIETUVOS TSR GYVENTOJAI — Bevölkerung der Litauischen SSR V, 1973, S. 175), also weniger als eine Viertelmillion. Außerdem nehmen in jedem Jahr nur die Kinder eines bestimmten Geburtsjahres an der Erstkommunion teil. 12 Pro­zent der Kinder in Litauen sind Nichtkatholiken: Russen, Juden, Letten u. a. An der Erstkommunion müßten also jährlich etwa 50000 Kinder teilnehmen. Tatsächlich bereiten sich darauf nicht weniger als 44 000 vor. Die Zahl von 20000, die Mišutis nennt, ist absolut ungenau, da die Behörden erst ab 1973 von den Geistlichen Angaben über die Kinder anforderten, die sich auf die Erstkommunion vorbereiten. Im übrigen wird die staatliche Statistik auch in Zukunft fehlerhaft sein, weil ein Teil der Geistlichen über die zur Erst­kommunion


Kirche und Religiosität in unseren Tagen.

7 ebenda.

 

anstehenden Kinder überhaupt keine Angaben macht, und andere „damit den Atheisten das Herz nicht schmerze", Angaben machen, die den atheistischen Behörden genehm sind.

„Beobachtungen zeigen, daß bei den 350000 Schülern der obersten Klassen der Anteil der Gläubigen nur einen unbedeutenden Bruchteil ausmacht", erzählt Mišutis.

Auch das ist eine Unwahrheit. So wurde im Januar 1974 an die Schüler der Klasse 10A der Mittelschule in der Bezirksstadt Lazdijai ein Fragebogen verteilt, der Fragen wie „Glaubst du an Gott?", „Gehst du in die Kirche?" u. ä. enthielt. Von 20 Komsomolzen (Mitgliedern der kommunistischen Ju­gendorganisation) antworteten 16, daß sie an Gott glaubten. Am zornigsten wurde die Sekretärin der Komsomolorganisation der Schule, die Lehrerin Malinauskiene, als eine offene Komsomolversammlung einbe­rufen worden war. Die Lehrerin Malinauskiene nannte die offenherzigen Aussagen der Schüler eine Schmach für die Schule. Es trat auch ein Vertreter des Rayons8 auf. Er sagte, es sei nicht wichtig, was sie dächten, aber schriftlich müßte geantwortet werden „wie erforderlich". Daraufhin äußerte sich ein Zehnkläßler wie folgt: „Sie zwingen uns, in den Komsomol einzutreten. Sie sagen, darüber brauchte man den Eltern nichts zu sagen, man könne sogar bisweilen auch in die Kirche gehen. Und jetzt unterrichtet man uns wieder dahingehend, daß man das eine denken und ein anderes aufschreiben könne. Wie, befehlen Sie, soll man das verstehen?"

Als die Lehrerin im November 1973 in der zehnten Klasse der Mittelschule in Raudondvaris auf das bevorstehende Komsomolfest zu sprechen kam, lachte die ganze Klasse gemeinsam auf. Dafür wurde zwei Schülern die Note für Betragen herabgesetzt. Als man die Schüler dieser Klasse fragte: „Wer von euch geht in die Kirche?", erhob sich ein ganzer Wald von Armen. Da fragt sich doch, was die Statistik des Mišutis wert ist? „Niemand verfolgt die Kirche", schreibt er, „bestraft wurden allein die Geistlichen, die im Be­streben, die bürgerliche Ordnung wiederherzustellen, die ideellen Waffen durch Feuerwaffen ersetzten."9

Es wäre interessant zu wissen, ob Mišutis selber glaubt, was er schreibt? Von 1944—1962 wurden allein in der Diözese von Kaišedorys — der allerklein-sten von Litauen — 41 Geistliche zu Gefängnis verurteilt. Die Mehrzahl von ihnen, die nie eine Schußwaffe in Händen gehalten hatten, wurden zu 10 Jahren, einige zu 25 Jahren verurteilt. Der Prälat J. Matulaitis-Labukas (der jetzige apostolische Administrator der Erzdiözese Kaunas und der Diö­zese Vilkaviškas) wurde wegen Abhaltung einer Predigt verurteilt, obwohl er als Generalvikar überhaupt nicht predigte. Nach dem Tode Stalins wurde


8 Bezirksabteilung für Volksbildung.

9 Kirche und Religiosität in unseren Tagen.

 

die Mehrzahl der Geistlichen rehabilitiert. Sollte Mišutis davon wirklich nichts wissen?

In dem Bestreben, die Menschen von der Religion zu lösen (wörtlich: abzu­reißen) sind die Atheisten in den Mitteln zur Erreichung ihres Zieles häufig nicht wählerisch. Hier einige Beispiele aus der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit.

Am Palmsonntag 1972 füllten Menschenscharen die Kathedrale von Kaunas und deren Hof. Als der Gottesdienst begann, öffneten die Mitarbeiter des gegenüber der Kathedrale befindlichen Jugendklubs ŽILVINAS Fenster und Türen und übertrugen laut Kino- und Tanzmusik, auf dem Balkon lärmten die Teilnehmer des Tanzkreises. Die auf dem Hof der Kathedrale versam­melten Menschen konnten infolgedessen am Gottesdienst nicht teilnehmen. Jedes Jahr, am Palmsonntag, konnten die Gläubigen auf dem Wege zur Kauener Kathedrale sich auf dem Hof mit Weidenzweigen versorgen. Kinder holten aus dem Walde Wacholderzweige, Weidenknospen und Feldblumen. Die Leute waren den Lieferanten dankbar. 1973 beschlossen die Atheisten, das Feiern des Palmsonntages zu stören. Als der Gottesdienst begann, er­schienen an der Kathedrale Milizleute und griffen die Anbieter der Zweige auf. Einige wurden verhaftet und auf die Wache gebracht. Am Sonntag des Ungläubigen Thomas (1. Sonntag nach Ostern — Quasi modo geniti) erschie­nen die Milizleute wieder neben der Kathedrale und griffen die Verkäufer von Requisiten für die Prozession auf. Die Miliz verschonte dabei auch nicht ein krüppliges Mütterchen, man setzte es in einen Wagen und brachte es in die Milizabteilung.

Zur Zeit Chruschtschows stellten die Behörden in Žiešmariai neben der Kirche einen Rundfunklautsprecher auf. Einige Jahre mußten die Gläubigen in der Kirche den Lärm des Lautsprechers ertragen; beten war dabei sehr schwer. Gesuche des Kirchenvorstehers und der Gläubigen, den Lautsprecher etwas abseits aufzustellen, fanden bei niemandem Aufmerksamkeit... Am ersten Julisonn tag 1969 hatte der Verfasser dieser Zeilen Gelegenheit, am kirchlichen Feiertag an den heiligen Stätten der Žemaičiu Kalvarija teil­zunehmen. Die aus ganz Litauen herbeigekommenen Gläubigen beteten in der Kirche und auf deren Hof. Als das Glöcklein der Kirche ein Zeichen gab, verkündete ein im gleichen Augenblick ertönender Pfiff auf dem neben der Kirche gelegenen Sportplatz den Beginn sportlicher Wettkämpfe. Eine Gruppe halbnackter Heranwachsender spielte, schrie, lärmte. Es war schwer, auf dem Friedhof zu beten. Die Teilnehmer des Gottesdienstes erzürnte es, daß die Atheisten gezielt den Gottesdienst erschwerten. Gewöhnlich müssen zu solchen von den Atheisten aufgezogenen Wettkämpfen die Teilnehmer durch Druck und Drohungen zusammengetrieben werden. Freiwillige gibt es in solchen Fällen nur wenige.

Vor einigen Jahren überlegten die Atheisten des Städtchens Vilkija, wie man während des Kirchenfestes der heiligen Anna möglichst viel Volk von der

Kirche fernhalten könnte. Man beschloß, in der Zeit der Messe im örtlichen Kulturhaus ein interessantes Schauspiel aufzuführen. Um 12.00 Uhr saß im Saal ein einziger Zuschauer — die Hausmeisterin des Kulturhauses. Die Atheisten mußten das Schauspiel absetzen. Am 22. Juli 1973 bereisten wir Džiukija (ein Teil Litauens). Nirgends sah man auf den Feldern arbeitende Menschen. Allein im Kirchspiel Leipalingis sahen wir viele Leute bei der Arbeit. Es erwies sich, daß in Leipalingis der große Festtag der hl. Anna begangen wurde und man die Kollektivarbeiter zur Arbeit getrieben hatte. Wer an Sonntagen arbeitet, bekommt von den Behörden doppelten Lohn. Am darauffolgenden Sonntag, dem 29. Juli, spendete der Bischof das Fir­mungssakrament in der Stadt Veisėjai. Auch dort wurden an diesem Tag die Menschen zur Arbeit gezwungen.

Im Sommer 1960 hatte ich Gelegenheit, mich in der Provinz Anykščiai, der Heimat des Schriftstellers Vaižgantas,10 aufzuhalten. Die Kollektivarbeiter klagten aufs heftigste darüber, daß sie in unerhört harte Knechtschaft gefallen seien — sie könnten nicht einmal sonntags ausruhen. „Gehst Du zur Zeit des Gottesdienstes nicht zur Arbeit, streicht dir der Vorsteher der Kol­lektivwirtschaft einen Teil der abgeleisteten Tagewerke ..."Zur Gottesdienstzeit sperrt man auch die Straßen. Wer auf Lastwagen und mit Pferden fährt, wird zurückgeschickt. Häufig sind die Atheisten äußerst „erfinderisch". Im Jahre 1963 trafen Leute, die zum Kirchenfest der Geburt der Allerheiligsten Gottesmutter in das Dörfchen Rumšiškes fuhren, auf Barrieren auf den Straßen. Die diensthabenden Verkehrspolizisten erklärten, die Durchfahrt sei wegen der Maul- und Klauenseuche gesperrt. Wer mit Pferden fuhr, wurde zurückgewiesen. Jeder wunderte sich: bis zu dem Kir­chenfest hatte niemand etwas von dieser Krankheit gehört. Noch größer war die Verwunderung, als man nach dem Fest bemerkte, daß die Barrieren weg­geräumt waren — die Maul- und Klauenseuche war also schon wieder er­loschen. Außerdem war es an dem Tage verboten, in der Kirche zu Rumšiškes die Messe zu lesen und eine Prozession zu veranstalten. Die Leute scherzten: „Wahrscheinlich wird die Maul- und Klauenseuche durch das Singen der Gebete übertragen!"


10 Juosas Tumas-Vaižgantas, der litauische Schriftsteller war selbst Geistlicher.

1963 umlagerten im Flecken Šiluva am Geburtsfest der Allerheiligsten Jung­frau Maria Menschenscharen die Beichtstühle, die Behörde aber befahl dem Priester der Ortskirche, nur wenige Geistliche als Beichtväter einzuteilen ... Am erstaunlichsten ist, was P. Mišutis über den Besuch der heiligen Stätten berichtet; jedes Jahr, sagt er, besuchten weniger Gläubige dieselben. Zum Bei­spiel seien an den heiligen Stätten des Fleckens Šiluva 1972 insgesamt nur rund 1300 Menschen erschienen. Tatsächlich waren es allein in einer Kirche des Ortes dreimal mehr. Wer 1973 am Kirchenfeiertag in Šiliniai teilnahm, war Zeuge, daß zur Zeit jeder hl. Messe die Kirche mit Menschen überfüllt war. Am Sonntag war nicht nur der Flecken, sondern auch seine Umgebung mit Kraftfahrzeugen verstopft. Die Verkehrspolizei zählte rund 1000 Autos.

„Die heiligen Stätten der Calvarien von Vepriai besuchten 1972 knapp 1000 Gläubige. Die heiligen Stätten der Calvarien von Vilnius wurden schon überhaupt nicht mehr besucht", freut sich P. Mišutis, „wohingegen sie vor einigen Jahren noch Zehntausende von Gläubigen anzogen."11 Besonders fanatisch waren die Atheisten bemüht, die Gläubigen am Besuch der hl. Stätten der Calvarien von Vilnius zu hindern. 1961 hatte ich Gelegen­heit, Zeuge derartiger Maßnahmen zu sein. Am Morgen des Pfingstfestes fanden die Taxifahrer in den Garagen eine Bekanntmachung, durch die Fahrten in Richtung der heiligen Stätten der Calvarien verboten wurden. Der Taxifahrer, den wir baten, uns zu diesen heiligen Stätten zu fahren, weigerte sich kategorisch, da die Miliz die dorthin fahrenden Chauffeure abfing und ihnen die Fahrlizenz abnahm. Unser Taxifahrer empfahl den Fahrgästen, sich auf den nachstehenden Wegen an den gewünschten Ort zu begeben: durch den Wilna'schen Randbezirk Antakolnis in den Villenvorort Valakampiai und von dort mit Booten über den Fluß Nevis. O weh, wir konnten nicht über den Fluß gelangen, das verboten dort patrouillierende Milizionäre. Einwohner von Valakampiai bemühten sich, den Wallfahrern zu helfen. Sie rieten uns, durch das Ufergebüsch in Richtung auf Nemenčine zu gehen; dort sei keine Miliz. Aber auch als wir dort über den Fluß gelangt waren, bedrohten Milizionäre die Bootsleute und befahlen, niemanden mehr überzusetzen.

Alle diese Maßnahmen aber erwiesen sich als wirkungslos. Die Gläubigen strömten gruppenweise zu Fuß zu den heiligen Stätten der Wilna'schen Cal­varien. Die Wälder von Panerai waren erfüllt von Gebetsliedern und Lita­neien. 1962 brachen die Atheisten mit Hilfe von Militär die Kapellen an den heiligen Stätten der Wilna'schen Calvarien ab und transportierten noch in derselben Nacht die Trümmer weg. Die Stellen, an denen die Kapellen ge­standen hatten, wurden mit Erde aufgeschüttet und eingeebnet. Seitdem hat der Besuch der heiligen Stätten tatsächlich nachgelassen. Zu Pfingsten ver­sammeln sich hier dennoch Wallfahrer aus allen Teilen Litauens und schreiten betend die sieben Kilometer des Weges ab, an dem die Calvarien-Kapellen gestanden hatten. Gottesfürchtige Hände Unbekannter haben an den Plät­zen der abgerissenen Kapellen Kreuze aus Steinen zusammengesetzt und sie mit Blumen geschmückt.


11 Kirche und Religiosität in unseren Tagen.

 

Die heiligen Stätten der Calvarien von Vepriai (Rayon Ukmerge) haben die Atheisten gleichfalls zerstört, aber nach wie vor strömen zu Pfingsten die Beter zu den Stätten, an denen die zerstörten Kapellen gestanden hatten. Es war auch versucht worden, die Kapellen an den bekannten heiligen

Stätten der Žemaitenschen Calvarien zu zerstören. Dort waren die Heiligen­bilder schon abgenommen worden. Aber die Žemaiten versammelten sich sozusagen in Regimentsstärke, wachten mehrere Tage an den heiligen Stät­ten und waren entschlossen, sie bis zum letzten zu verteidigen. So blieben die Kapellen der heiligen Stätten der Žemaitenschen Calvarien unzerstört. Am Ende dieser Bemerkungen zu den Aufsätzen und Reden von P. Mišutis ist zu erwähnen, daß diese Aufsätze und Reden tatsächlich nicht seine eigenen sind, sie sind die Stimme der Partei, die sich bemüht, unkritische Geister zu betören.