Im Namen der Weißrussischen SSR, den 18. September 1979:

Der Volksgerichtshof des Rayons Astravas unter Vorsitz des Volksrichters LP. Chalko, den Beisitzenden G. I. Zeniuk und V. K. Volkov, Oberstaatsanwalt A. J. Abromovič, Pflichtverteidiger Klimčienė, Rechtsanwalt N. J. Savič, hatte in einer öffentlichen Verhandlung den Fall Angelė Ramanauskaitė wegen eines Deliktes laut Artikel 139, Absatz 1 des Strafgesetzbuches der Weißrussischen SSR zu ver­handeln und kam zu folgendem Urteil:

Die Angeklagte Ramanauskaitė hat das Gesetz »Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche« übertreten. Tatbestand ist folgender: Fräulein Ramanauskaitė kam von Kaunas in den Rayon Astravas, in das Dorf Giriai. Am 18., 19. und 20. Juli 1979 unterrichtete sie Schüler der unteren Klassen des Gym­nasiums in Giriai in Religion im Haus des Lukša, indem sie dazu religiöse Litera­tur verwandte.

Während der Verhandlung bestritt Fräulein Ramanauskaitė die Vorwürfe, die ge­gen sie vorgebracht wurden, und bekannte sich nicht schuldig. Ihre Schuld wurde jedoch vollständig durch Zeugenaussagen und Indizien bewie­sen.

Die Zeugin Syzo sagte aus, daß ihr am 20. Juli 1979 von einer Versammlung von Schulkindern in der Wohnung des Lukša in Giriai berichtet wurde. In Begleitung des Schulleiters Gochow und Vizevorsitzenden Krupica ging sie nach Giriai. In der Wohnung des Bürgers Lukša trafen sie sechs Schüler des Gymnasiums in Gi­riai an sowie die Angeklagte Ramanauskaitė, die dort drei Tage lang Religion un­terrichtet hatte, Gebete lehrte und Fotos religiöser Natur gezeigt hatte. Ähnliche Zeugenaussagen wurden von Herrn Bogachov und Krupica erhalten. Von den Zeugen T. Lukša, M. Ravoit, J. Kutko, R. Štūro, R. Urbanovič und anderen war zu erfahren, daß am 18., 19. und 20. Juli 1979 die Angeklagte Kinder in der Woh­nung von Lukša unterrichtet hätte, Gebete übte, Fotos mit religiösen Motiven ge­zeigt und auch religiöse Literatur verteilt hätte.

Im Bericht vom 18. August 1979 steht, daß religiöse Literatur zum Zweck des Re­ligionsunterrichtes für minderjährige Kinder und zum Eigengebrauch bei Fräulein Ramanauskaitė beschlagnahmt wurde.

Fräulein Ramanauskaitės Handlungsweise fällt unter den Artikel 139, Absatz 1 des Strafgesetzbuches der Weißrussischen SSR. Die Angeklagte übertrat das Ge­setz »Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche«, d.h. Orga­nisation und systematischer Unterricht in Religion bei minderjährigen Kindern. Bei der Abwägung der Frage des Urteils berücksichtigte das Gericht die Tatsache, daß Fräulein Ramanauskaitė keine Vorstrafen hatte, gute Zeugnisse ihres Arbeit­gebers vorweisen konnte. Eine Geldstrafe an die Staatskasse wird daher als aus­reichende Bestrafung angesehen. (Der Dolmetscher sagte: »und erwägt . . . Geld­buße . . 50 Rubel.«)

Das Gericht befand Angelė Ramanauskaitė für schuldig, das Gesetz: »Die Tren­nung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche« unter Artikel 139, Ab­satz 1 des Strafgesetzbuches der Weißrussischen SSR verletzt zu haben und belegt sie mit einer Geldstrafe von 50 Rubel, zahlbar an den Staat. Sobald das Gerichts­urteil vollstreckt sein wird, ist Fräulein Ramanauskaitė von der Verpflichtung, den Wohnort nicht zu verlassen, enthoben.

Die Beweisstücke religiöser Art werden an das Kriminalmuseum des Justizmini­steriums der Weißrussischen SSR gegeben. Gegenstände, die nicht in Zusammen­hang mit Religion stehen, gehen an Fräulein Ramanauskaitė zurück. Gegen das Gerichtsurteil kann innerhalb von sieben Tagen nach Urteilsverkün­dung beim Gardinas Bezirksgericht durch das Astravas Volksgericht Berufung eingelegt werden.

Das Gericht bestimmt weiterhin, 30 Rubel an den Anwalt Savič für die Verteidi­gung zu zahlen.

Nachdem das Urteil verlesen wurde, fragte der Richter: »Fräulein Ramanauskai­tė, haben Sie das Urteil verstanden?« »Nein, ich habe es nicht verstanden.«

»Fünfzig Rubel als Buße für die Straftat und 30 Rubel für die Verteidigung.« Nach der Verlesung des Urteilsspruches ruft der Richter plötzlich sehr laut: »So­fort den Gerichtssaal räumen! Beeilung!«

Draußen gratuliert man Fräulein Ramanauskaitė. Einige halten Geld bereit, die Geldstrafe zu bezahlen. Unterdessen drängt die Miliz die Menschen aus dem Ge­bäude heraus. Sie versammeln sich im Kirchhof und singen vor der verschlosse­nen Kirchentüre »Maria, Maria«. (In Astravas grenzt die Kirche an das Gerichts­gebäude.) Sicherheitsbeamte sind überall auf dem Kirchhof. Sie befürchten eine Demonstration. Auf der Straße sangen die Zuhörer, die bei der Verhandlung an­wesend waren, Lietuva, brangi, mano Tėvynė (Geliebtes Litauen, mein Heimat­land). Passanten blieben stehen und wundern sich, wieso das langverstummte li­tauische Lied plötzlich bei ihnen erklingt.

Der Prozeß Angelė Ramanauskaitė ist ein Angriff auf den Zustrom religiösen Ge­dankengutes und litauischer Tradition an die Litauer in Weißrußland.