Das Leben der Gefangenen und ihre Verbindungen mit ihren Angehörigen sind in der letzten Zeit wesentlich schlechter geworden. Priester Alfonsas Svarinskas bekommt schon seit drei Jahren kein Wiedersehen mit seinen Angehörigen. Nach den zur Zeit geltenden Bestimmungen stehen ihm all­jährlich ein langes (2 bis 3 Tage) und zwei kurze (2 Stunden) Wiedersehen zu. Seit Monat Juni kamen von Priester A. Svarinskas keine Briefe mehr. Seine Angehörigen erkundigten sich bei der Lagerverwaltung, warum sie keine Briefe von dem Gefangenen bekämen. Wie zum Spott antworteten die Vorsteher darauf: »Fragen Sie doch den Gefangenen selber, warum er Ihnen nicht schreibt.« Der letzte Brief von Priester A. Svarinskas, der Litauen erreicht hat, ist am 25. Juni geschrieben worden und kam am 28. August an.

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Aus den Briefen des Priesters Sigitas Tamkevičius:

»Heute fliegen meine Gedanken in die noch nicht weit entfernte Vergangen­heit. Es sind schon drei Jahre seit dem Tag vergangen, als ich am 5. Mai nach der Darbringung des unblutigen Opfers des Herrn von zu Hause weg­gegangen bin. .. Eine sehr weite Reise wartete auf mich, bei der mich nur Gott allein begleiten kann. Mich tröstet der Gedanke, daß viele mich mit ihrem Gebet begleiten. Ich spüre immer neben mir Den, der sich die Wahr­heit, den Weg und das Leben genannt hat. Wer aber die Wahrheit hat, den Weg kennt und nicht in den Tod, sondern in das Leben geht, dem muß der Himmel immer voll Helligkeit sein. Ich bin davon überzeugt, daß der Weg in das Leben mit Gott über den Ural kein bißchen länger, kein bißchen schlechter ist als die anderen Wege. (...)

Die Stimmungen des Monats Mai begleiten mich auch hier. Wie kostbar waren die Maiabende in den zwanzig Jahren meiner Pastoralarbeit! In meinem Geiste bereise ich alle meine Tätigkeitsorte, besuche die Alten und die Jungen und wünsche allen, daß ihre Liebe zur Gottesmutter Maria in ihren Herzen lebendig bleibe. Ich bete für alle meine Pfarrangehörigen: Möge Gott das in ihnen wachsen lassen, was ich einmal unvollkommen gesät habe. Ich möchte viele zu Christus führen, ich möchte dieses Glück, diese Reichtümer des Geistes mit ihnen allen teilen, die ich so reichlich zu Füßen der himmlischen Mutter geschöpft habe. Wie kostbar ist es heute, sich an die Abende zu erinnern, als Hunderte von Stimmen wie eine Familie »Sveika Marija, Motina Dievo« — »Gegrüßet seist Du Maria, Mutter Gottes« anstimmten.

(...) Noch einmal danke für alles. Wie gut ist es zu wissen, daß es in unserem winzig kleinen Volke so viele große Herzen gibt. Gebe Gott, daß diese allerchristlichste Eigenschaft — dem Nächsten Gutes zu tun — leben­dig im Herzen eines jeden Angehörigen unseres Volkes erhalten bleibt.« Im Mai 1986.

P.S. Wenn der Gefangene die Hälfte seiner Strafe verbüßt hat, werden seine Akten gemäß den Bestimmungen überprüft. Wenn der Gefangene nicht gegen die Ordnung des Gefängnisses oder des Lagers verstoßen hat, wird gewöhnlich seine Strafzeit verkürzt oder die Strafe in eine leichtere umge­wandelt. Das wird aber nur bei kriminellen Verbrechern gemacht. Bei den politischen Gefangenen oder bei denen, die wegen ihres Glaubens verurteilt worden sind, nützt die Gefängnisverwaltung und der Sicherheitsdienst diese »Neuverurteilung« als einen zusätzlichen Versuch aus, den Willen des Men­schen, seine Überzeugungen zu brechen und ihn zu zwingen, seine Anschau­ungen zu verleugnen und ein Gnadengesuch zu schreiben. Ein solcher Ver­such, von den Leuten »Gehirnwäsche« genannt, wurde auch an Priester S. Tamkevičius vorgenommen. Am 29. / 30. Juli wurde er aus Perm in den KGB-Sitz nach Vilnius mit einem Flugzeug überstellt. Hier wurde er bis 29. August festgehalten. Nach dem Bericht des Priesters S. Tamkevičius haben ihn die Tschekisten anständig und ehrfürchtig behandelt.

Um eine größere Sehnsucht nach der Freiheit zu erwecken, wurden dem Priester S. Tamkevičius drei Videofilme gezeigt, die sich auf das kirchliche Leben Litauens bezogen. In einem davon sah er Aufnahmen von S. Exz. Bischof J. Preikšas in der Kathedrale von Kaunas. Am 19., 20. und 21. August wurde Priester S. Tamkevičius erlaubt, seine Brüder und seine ehe­malige Haushälterin O. Dranginytė wiederzusehen.

Während des Wiedersehens mit seinen Angehörigen sagte Priester S. Tam­kevičius, daß er sich geweigert habe, ein Gnadengesuch zu schreiben, und daß er deswegen selbstverständlich erst in dem Falle in die Freiheit komme, wenn das KGB ihn aus dem einen oder anderen politischen Grund »durch das Tor des KGB-Gebäudes hinauswerfen« werde.

Am 29. August wurde Priester S. Tamkevičius per Etappe (mit einem Zug, mit dem die Gefangenen transportiert werden) aus Vilnius zurück nach Perm geschickt und nach einer zweimonatigen Reise an den früheren Ge­fangenschaftsort zugestellt. Er arbeitet, wie auch vorher, in der Küche.

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Priester Jonas-Kąstytis Matulionis schreibt:

»Ich danke für alle Briefe, jene, die mich erreicht und nicht erreicht haben, die zurückgekommen sind ... (...)Der Schriftsteller Tschingis Aitmatow schreibt in dem Journal »Literaturnaja gazeta« — »Literaturzeitung« (vom 13. 8. 1986): »Die Unsterblichkeit eines Volkes liegt in der Bewahrung der Sprache verborgen. Die eigene Sprache ist jedem Volke kostbar. Jeder von uns muß die Pflicht eines Sohnes dem Volk gegenüber empfinden, das ihn aufgezogen hat, und die Reinheit der von ihm geschenkten Sprache bewahren und bereichern ...«

Nach der mehr als ein halbes Jahr dauernden Korrespondenz in der ange­borenen litauischen Sprache teilte mir die Verwaltung mit, daß sie keinen Dolmetscher hätte und daß es in Zukunft nur mehr möglich sei, in russischer Sprache zu korrespondieren. Ich zweifle daran, daß diese Ursache die einzige ist, die die Verwaltung dazu gezwungen hat, solche Maßnahmen zu ergreifen. (Priester J. Matulionis hat es verweigert, ein Gnadengesuch zu schreiben — Anm. d. Red.). Meine Schwester tut mir leid... Sie kann die russische Sprache überhaupt nicht. (...)

Der Herbst kommt immer näher... Die Natur hier ist wunderbar schön. Mit Gottes Hilfe klage ich über meine Gesundheit nicht — Sein heiliger Wille geschehe! Ich weiß, zu dieser Zeit feiert meine Heimat die Ablaßfeier von Šiluva. In meinem Geiste bemühe ich mich, auch daran teilzunehmen.

Der Segen der Gottesmutter Maria möge Sie immer begleiten. Allen, allen, die sich meiner erinnern, herzlichste Grüße und beste Wünsche!«

Am 8. September 1986.

P.S. Um den Priester Jonas-Kąstytis Matulionis zu besuchen, fuhren am 31. Juli 1986 seine Schwester Albina Kibiltienė, seine ehemalige Haushäl­terin Monika Galeckaitė und Brone Kibickaitė in die weit entfernte Stadt Tschita, hinter dem Baikalsee. Ein Wiedersehen mit dem inhaftierten Prie­ster wurde nur seiner Schwester und B. Kibickaitė erlaubt. Als die beiden Frauen nach zwei Tagen das Gefängnis verlassen wollten, wurden sie von der Lagerverwaltung durchsucht. B. Kibickaitė wurde gezwungen, sich voll­ständig auszuziehen und vorgezeigte Leibesübungen nachzuahmen, obwohl gleich daneben hinter einer Glastür das Gefängnispersonal vorbeiging. Es war eine grausame moralische Verhöhnung. Frl. B. Kibickaitė wurden nach der Leibesvisitation ihr Gebetbuch und andere Bücher weggenommen. Dem inhaftierten Priester J. Matulionis Nahrungsmittel zu übergeben, wurde nicht erlaubt. Seine Stimmung ist aber fröhlich, wenn die Gesundheit auch schwach und die Lebensbedingungen sehr schwer sind.

Mordwinien

Von dem im Lager in Mordwinien gefangengehaltenen Doz. Vytautas Skuodis haben seine Angehörigen seit Monat Juni keine Briefe mehr be­kommen. Nach vorliegenden Meldungen hat Doz. Vytautas Skuodis am 8. September — am Nationalfeiertag des litauischen Volkes — eine Erklä­rung an den Generalstaatsanwalt der UdSSR abgeschickt, in der er darauf hinweist, daß er die Verbannung, in die die politischen Gefangenen geschickt werden, als einen Genozid betrachtet.

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Die Haftzeit von Balys Gajauskas, der in Perm im Lager mit besonderem Regime BC-389-36 gefangengehalten wird, geht am 20. April 1987 zu Ende. Irena Gajauskienė, die Ehefrau von B. Gajauskas, hat das letzte per­sönliche Wiedersehen mit ihrem Mann 1984 und ein Gruppenwiedersehen im Juni 1985 erlaubt bekommen. Die Angehörigen von B. Gajauskas erhal­ten seit Juni 1986 (seit fast fünf Monaten) keine Briefe mehr. Auf die Rück­fragen wegen des Ausbleibens der Briefe und wegen des Besuchsverbots antwortete die Lagerverwaltung: »(...)Wir teilen Ihnen mit, daß dem Bürger B. Gajauskas wegen Verletzung der Lagerordnung das Wiedersehen aberkannt wurde ..., in den Fragen der Korrespondenz wende man sich an Bürger B. Gajauskas selbst.« Es unterschrieb der Lagervorsteher Dolmatow; manchmal ist die Unterschrift unleserlich.

In der letzten Zeit erreichte Litauen die Nachricht, daß B. Gajauskas schwer verletzt worden sei — seine Brust sei in der Nähe des Herzens durchstochen worden und er liege schon seit zwei Monaten im Krankenhaus. Um Ge­naueres von dem Zustand der Gesundheit ihres Mannes und dem Unglücks­fall erfahren zu können, schickte I. Gajauskienė ein Telegramm an die Lagerverwaltung. Auf die Nachfrage wurde folgendes geantwortet: »Der Gesundheitszustand von B. Gajauskas ist zufriedenstellend.«

 

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Aus einem Brief von Povilas Pečeliūnas:

»Dieses Jahr bekomme ich sehr wenige Briefe nicht nur aus der Fremde, sondern auch aus Litauen. (...)

Kompromißlos den Weg zu Ende gehen! Immer dem wegweisenden Stern nach, der nicht in die Irre gehen läßt! Von ihm her kommt die Ausdauer. Es gibt nichts Interessantes, worüber ich schreiben könnte. Was kann es in dieser grauesten Einsamkeit Interessantes geben, wo man beinahe wie auf einer Insel zwischen Wäldern, Sümpfen und Wasser ist? Und das auch noch im Norden Sibiriens!

Was mir am meisten fehlt? Sauerstoff! Für mich, als einen der niedrigen Blutdruck hat, ist das wahrhaftig nicht das Richtige. Ist das aber das Wich­tigste? Geduld, Ausdauer und wenn möglich, weniger an sich selbst denken! Anderen geht es doch noch schlimmer.«

 

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Vladas Lapienis schreibt:

»Man soll sich vor keiner Zukunft fürchten, denn so wie der gegenwärtige Tag, so kommen auch alle anderen von Gott. Sollten Tage der Unannehm­lichkeiten, der Not, der Erniedrigungen, des Leidens kommen, wir wollen ruhig bleiben: Der Herr kommt! Er bringt uns den Kelch des Leidens, gleichzeitig aber bringt Er auch mehr Gnaden, Licht und große Kräfte, damit wir alles aus Liebe tun: leiden, danken und siegen.«

Am 28. Oktober 1986.

Aus dem Lebenslauf von Algirdas Patackas

Algirdas Patackas wurde am 8. September 1943 in Trakai geboren. Nach Abschluß der Fakultät für Chemie-Technologie am Polytechnischen Institut zu Kaunas 1965 arbeitete er einige Jahre in einem Fertigungsbetrieb und anschließend begann er als jüngerer wissenschaftlicher Mitarbeiter am Chemischen Institut in Vilnius zu arbeiten, wo er auch den Stoff für eine Dissertation zusammengebracht hatte. Dauernd vom Sicherheitsdienst ver­folgt, wurde A. Petackas für die Leitung des Instituts zu einer unerwünsch­ten Person: Ihm wurde vorgeschlagen, an das geologische Institut zu gehen, von dort wurde er aber nach nicht ganz einem Jahr wegen »Kürzung des Etats« entlassen.

1976 wurde bei Patackas eine Durchsuchung gemacht. Anlaß dafür waren seine Verbindungen mit den in Weißrußland lebenden Litauern. Seit 1982 von der Arbeit entlassen, nahm A. Patackas eine Arbeit bei der Heuernte mit der Sense und bei der Reinigung der Gräben im Walde an. Im Winter reinigte er die Straßen in der Stadt. So arbeitete A. Patackas bis zu seiner Verhaftung, d. h. bis 29. Juli 1986. Während der Durchsuchung am 22. Mai 1986 wurde Algirdas Patackas viel religiöse und nationale Literatur weg­genommen: »Paskutinė auka« —»Das letzte Opfer« von J. Cicėnas, die Broschüre »Kunigui A. Lakavoniui« — »Priester A. Lakavonis«, ein Artikel »Krikščionybė ir skaista« — laiškas vyskupams — ein Brief an die Bischöfe »Das Christentum und die Keuschheit«, eine Sammlung von Artikeln »ETHOS, baltų kultūra ir savisąmonė — »ETHOS, die Kultur und das Selbstbewußtsein der Balten«, mit der Schreibmaschine abgeschriebene Ge­dichte von K. Bradūnas, das Manuskript »Lietuvos krikštas, kaip esminis baltų istorijos posūkis« — »Die Taufe Litauens als die wichtigste Wende in der Geschichte der Balten«, das selbstherausgegebene Buch »Seinu — Su­valkų kraštas« — »Das Gebiet Seinai — Suvalkai«, eine Landkarte Li­tauens, 7 Magnetophonkassetten, verschiedene Fotoaufnahmen und Bilder, ein altes Kreuz, angefertigt von Svirskis.

Bei Antanas Patackas, dem Vater von Algirdas Patackas, wurden während der Durchsuchung 40 verschiedene Veröffentlichungen mitgenommen, dar­unter »Birstono — prelato K. Olšausko byla« — »Der Prozeß von Birštonas gegen Prälat K. Olsauskas«, »Motiejus Gustaitis«, »Das Gebiet Šeiniai — Suvalkai«, »Palaimintasis Mykolas Giedraitis« — »Der Selige Mykolas Giedraitis«, »Vyskupas Mečislovas Reinys« — »Der Bischof Mečislovas Reinys«, eine Schreibmaschine, viele Fotoaufnahmen usw.

Gegen Algirdas Patackas ist ein Prozeß gemäß 1. Teil des § 199 des StGB eingeleitet. Er wird der Herstellung und der Verbreitung »verleumderischer« Untergrundliteratur, der Veranstaltung von Vorlesungen zu Kultur- und

Religionsfragen der Balten, einer Materialsammlung über die »bourgeoisen Nationalisten«, der Vorbereitung eines Empfangs für den politischen Ge­fangenen Petras Plumpa in seiner Wohnung und so weiter und so fort be­schuldigt. .