Rechtswillkür in Vilnius

Am 17. März 1974 veröffentlichte die Zeitung Tiesa (Die Wahrheit) einen Aufsatz mit dem Titel: Kieno balsu bavo aprašytas Vilniuje vykęs penkių asmenų teismo procesus (Mit welchem Namen kennzeichnet sich ein Prozeß gegen 5 Personen, der in Vilnius ablief?). Im Aufsatz wird nicht erwähnt, wann der Prozeß stattfand, wie die Angeklagten bestraft wurden, es wer­den bloß ihre Kriminalvergehen genannt — sie hätten Schreibmaschinen, Erzeugnisse der Volkskunst und kirchliches Gerät gestohlen. Der Aufsatz läßt erkennen, daß es sich um ein politisches Verfahren handelte.

Am 27. März führten die Organe des Staatsicherheitsdienstes sorgfältig geplante Maßnahmen gegen Heimatfreunde in Litauen und Lettland durch, die nach Umfang und Aufwand nur mit den Aktionen gegen die Heraus­geber der Chronik der litauischen katholischen Kirche zu vergleichen sind. Morgens um 8 Uhr wurden in die Gebäude des Staatssicherheitsdienstes in Vilnius, Kaunas und Riga über 100 Heimatfreunde und ihnen Naheste­hende eingeliefert, Durchsuchungen und Verhaftungen wurden vorgenom­men. Die alleraktivsten Heimatfreunde, R. Matulis (Vilnius), Eitmana-vičiutė" (Kaunas) u. a. wurden gezwungen, Erklärungen zu unterschreiben, wonach sie in Zukunft sich nicht mehr an heimatkundlichen Aktivitäten beteiligen würden, jüngere Heimatfreunde zwang man, mit den Organen des Staatssicherheitsdienstes zusammenzuarbeiten, sie wurden erpreßt. Die Heimatfreunde wurden von Kontrimas, Radzevičius, Aleinikovas, Rimkus, Žilevičius, Sujuta u. a. verhört.

Die zu Verhörenden wurden über die Arbeit der Heimatfreunde, über die Expedition nach „Šventąją" über die Beziehungen zu Heimatfreunden an­derer Republiken, über Veranstaltungen mit Jugendlichen, über die Samm­lung von Materialien aus der Zeit der Partisanenkämpfe, über die Vertei­lung von Flugblättern, über den Jahrestag der Selbstverbrennung des Ka­lanta, über Lektüre, über die Vervielfältigung und Verbreitung antisowje­tischer Literatur, über die Persönlichkeit des Žukauskas und anderer Ver­hafteter, über Urteile über sie und Beziehungen zu ihnen, über Beziehungen zum Geistlichen Dobrovolskas aus Paberžė u. a. befragt. Einige zu Ver­hörende wurden mehrfach nach Vilnius zur Konfrontation mit Gefangenen gebracht. Vier von ihnen wurden gefangen gesetzt: Šavunas Žukauskas, Antanas Sakalauskas, Isidorius Rudaitis, Vidmantas Pavilonis. In der Presse erschienen Aufsätze, in denen ernergisch verlangt wurde, Unter­suchungen der „födalen Epoche" aufzugeben, in ihnen wurde deutlich un­terstrichen, daß Heimatkunde vor allem die Geschichte von Fabriken und Unternehmen sei, die mit bemerkenswerten Ereignissen aus den Biographien von Pensionären zu verknüpfen wäre. Das alles zeigt, daß diese Kampagne ein Glied der neostalinistischen „Kulturrevolution" ist, wie solche schon vorher in anderen Kulturbereichen in Erscheinung trat. Fast alle Zeit­schriftenredakteure, die über kulturelle Fragen schrieben, und Geschäfts­führer kultrueller Institutionen und Vereine wurden durch neue ersetzt, mit solch farblosen Funktionären, wie der Redakteur der Zeitschrift Literatūros ir meno (Literatur und Kunst) V. Radaitis, der Radakteur der Zeitschrift Nemuno, L. Inis, oder der eindeutige Reaktionär und jetzige Vorsitzende des Heimatvereins von Litauen Uogintas. Der Verlag Vagos wurde wegen der periodischen VeröffentlichungLituanestines bibliotekos (Litauische Bi­bliothek) unter Druck gesetzt, die Zensur von Seiten des Glavlitas wird verstärkt, gebremst wurden Übersetzungen aus fremden Sprachen. In der Zeitschrift Komunistas (Kommunist) wurden unter dogmatischen Gesichts­punkten die Redaktionen von Kultūros Baru (Bereich der Kultur) und be­sonders von Problema (Das Problem) unterdrückt, verhindert wurde eine heimatkundliche Exkursion in die weißrussische Sowjetrepublik usw. Die Häftlinge Žukauskas, Sakalauskas, Rudaitis und Pavilonis schmachteten ein ganzes Jahr in Einzelzellen, wo „Tag und Nacht sich mischen, weil dauernd in den Zellen Licht brennt" (Aussage eines Gefangenen). Uber die Lage der Gefangenen kann man daraus schließen, daß zum Beispiel V. Pa­vilonis wegen Verdauungsstörungen infolge der schlechten Ernährung ins Krankenhaus gebracht wurde und Žukauskas in den Karzer gesteckt wurde, weil er zu einem Aufseher ein paar Worte auf deutsch gesagt hatte. Das folgende nun ist ein charakteristisches Muster eines Untersuchungsverfah­rens: man versuchte dem Pavilonis einzureden, Sakalauskas sei ein Agent des Staatsschutzes. Pavilonis berichtete daraufhin nach eigener Aussage, völlig aus dem Gleis geworfen „jeglichen Unsinn" über Sakalauskas. Der Betrug wurde aufgedeckt, als sich die beiden vor Gericht wiedersahen. Später, am 23. Oktober, wurde in diesen Prozeß noch Aloyzas Mackevičius aus Mažeikiai, ein ehemaliger Kandidat der kommunistischen Partei der So­wjetunion, einbezogen. Der Prozeß wurde in geschlossener Sitzung des Obersten Gerichts der Litauischen Sowjetrepublik in Vilnius vom 18. Fe­bruar bis zum 5. März 1974 unter Vorsitz des Richters Ignatas verhandelt; Beisitzer waren Kavaliauskaite und Tamulionis. Die Anklage vertrat der stellvertretende Generalstaatsanwalt Bakučionis. Die Angeklagten wurden von den Anwälten Kudaba, Servainis, Gavronskis, Vaičekauskas und Mati-jošaitiene verteidigt. Anwesend waren nur die nächsten Angehörigen, Sol­daten, Agenten des Staatsschutzes und Bedienstete des Gerichts. Während des Prozesses wurden mehr als 90 Zeugen vernommen. Mit Ausnahme von Mackevičius waren alle Abzuurteilenden nach § 68 des Strafgesetzbuches der Litauischen SSR antisowjetischer Tätigkeit angeklagt. Worin bestand nun diese Tätigkeit?

1. Gründung einer Geheimorganisation zur Unterrichtung der Öffentlich­keit über die verbrecherische Tätigkeit des Sowjetstaates gegen das litauische Volk, Eide wurden geleistet, Mitgliedsbeiträge erhoben.

2. Verbreitung eines Aufrufes zum 16. Februar

3. Vorbereitung der Herausgabe der Untergrundzeitschrift Naujasis Var­pas (Die Neue Glocke).

4. Aufbewahrung und Verbreitung verbotener Literatur.

5. Finanzielle Unterstützung der Familie des S. Kudrikas.

S. Žukauskas wurde angeklagt, eine Geheimorganisation gegründet zu haben, von deren Gliedern er Eide empfangen habe, den Band XV der Litauischen Enzyklopädie (Litauen) in zwei Exemplaren vervielfältigt zu haben, den Text des Aufrufs verfaßt und dem Sakalauskas geholfen zu haben, vier Schreibmaschinen gestohlen und eine Volkseigene Skulptur ge­raubt und einen Prozeß wegen „Era" geführt zu haben. Das Gericht be­schuldigte Sakaulaskas der Zugehörigkeit zu einer Geheimorganisation und dessen, antisowjetische Literatur verborgen zu haben. Bei der Haussuchung fand man bei ihm Hitlers Mein Kampf, Medvedev, Vopros bezumnye (Frage der Unvernunft), zwei Nummern der Chronik der Litauischen Ka­tholischen Kirche, Lietuviu archyvas (Das Archiv der Literatur), TSRS užsienio politika 1939—1940 (Die Innenpolitik der UdSSR 1939—1940), Lietuviu Istorija(Die Geschichte Litauens) von Sapakas u. a. Sakalauskas habe beabsichtigt, eine Sammlung seiner Gedichte in den Westen zu senden und er habe die Unterschlagung von Schreibmaschinen organisiert. Im Jahre

1967 sei er für den Versuch, sich mit einem Paddelboot ins Ausland abzu­setzen zu zwei Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Der Arzt I. Rudaitis wurde beschuldigt, eine Geheimorganisation unterstützt zu haben, bei der Vervielfältigung und Verbreitung von antisowjetischer Literatur und Aufrufen geholfen und mit Valuta spekuliert zu haben. Er habe Geldmittel für die Aufrechterhaltung der Organisation gesammelt. Bei der Haussuchung habe man Material für eine geplante Geheimpublikation gefunden, deren Redakteur er gewesen sei. Auch V. Pavilonis habe der Ge­heimorganisation angehört, habe Aufrufe zum 16. Februar verbreitet, hätte antisowjetische Literatur bei sich zu Hause verwahrt und bei deren Ver­breitung geholfen und hätte bei der Vorbereitung der Geheimveröffent­lichung Naujasis Varpas (Neue Glocke) mitgewirkt. A. Mackevičius wurde vorgeworfen, daß er als Beobachter der Untergrundtätigkeit nicht nur dem Staatsschutz keine Mitteilung gemacht habe, sondern selbst beteiligt gewesen sei, indem er von Žukauskas verführt, Erzeugnisse der Volkskunst ge­stohlen, die Kirche in Tirkšliai beraubt und die gestohlenen Gegenstände dem Žukauskas zugeführt habe.

Der Anschluß der Strafsache des A. Mackevičius an den politischen Prozeß entsprach der Praxis der sowjetischen Rechtsprechung, politischen Verfah­ren auf diese Weise einen kriminellen Anstrich zu geben. Da Žukauskas mit Mackevičius bekannt war, versuchte man auch ihn des Diebstahls zu be­zichtigen — schaut, welcher Art diese „sittliche Persönlichkeit" ist! Außer den widersprüchlichen dem Mackevičius entlockten Aussagen hatte das Ge­richt keinerlei Beweise. Das unterstrich auch der Verteidiger des Žukauskas Kudaba. Diesmal wollte sich das sowjetische Gericht als unbestechlicher Be­schützer einer hölzernen Skulptur des leidenden Christus und des kirch­lichen Eigentums erweisen und die Schuldigen streng bestrafen. So sollte es auch die bestrafen, die den Kreuzeshügel, die Kapellen der Wilnaer Kal-varien zerstörten und viele Kirchen entweihten. Diese Verbrecher sind doch bekannt!

S. Žukauskas bekannte sich zur Leitung einer Organisation, deren Ziel die Fortbildung und die Sammlung von Literatur gewesen sei. Er habe aus­schließlich im Rahmen der sowjetischen Gesetzmäßigkeit arbeiten wollen und meine, daß es notwendig sei, die von den Behörden gemachten Fehler zu korrigieren. „Tatsächlich ist unserem Volk allergrößtes Unrecht ge­schehen — deportiert wurden 36 000 Litauer", — sagte Žukauskas. Er be­kannte sich zur Verbreitung von Literatur, die nach seiner Meinung nicht antisowjetisch ist, wie etwa „Der Prozeß S. Kudirka". Er leugnete Krimi­nalvergehen, er habe keine Gegenstände der nationalen kirchlichen Kunst geraubt. Was die Schreibmaschinen betrifft, so war Žukauskas überzeugt, daß sie abgeschrieben waren, daß also niemandem ein Schaden erwachsen sei. A. Sakalauskas bekannte sich zur Mitgliedschaft und daß er Beiträge gezahlt habe. „Wir zahlten für die Fortbildung", sagte der Beschuldigte.

Die Frau des Sakalauskas sagte, über die Anschauungen ihres Mannes be­fragt, er habe dieselben wie alle anständigen Menschen. Ihr Mann habe sein ganzes Leben gearbeitet. Wenn alle soviel arbeiteten, wäre das ein Beitrag für den kommunistischen Aufbau. Er habe die Jugend gelehrt und viel Zeit auf deren Ausbildung verwendet. „Allein, mein Mann kann sich nicht mit den Unzulänglichkeiten des Lebens abfinden, deren es bei uns genügend gibt."

„Was für Unzulänglichkeiten?" fragte der Richter.

„Ich beginne mit den Lebensbedingungen .. . Mit Mühe haben wir eine Wohnung gefunden, aber darin ist nichts..." „Was müßte denn darin sein?"

„Mir scheint, wenn in einer Wohnung Heizkörper sind, müßten die auch wärmen, wenn es Wasserhähne gibt, müßte aus ihnen auch Wasser laufen. Alles das hat mein Mann mit eigenen Händen in Ordnung gebracht und dafür Zeit verwendet, die für wissenschaftliche Arbeit vorgesehen war", sagte Sakalauskiene. Der Richter unterbrach sie und fragte nach dem Ab­hören ausländischer Sender. Auch I. Rudaitis erklärte, er habe nichts von einer Geheimorganisation gehört und keine solche mit Geld unterstützt. Er habe nur zufällig ausländisches Geld bekommen. Von der Vorbereitung einer Veröffentlichung habe er nichts gehört. Er habe Bücher unterschied­licher Art gelesen, denn ein gebildeter Mensch müsse auch die „Antilitera-tur" kennen. A. Mackevičius bekannte den Diebstahl von Gegenständen der nationalen Kunst und die Beraubung der Kirche in Tirkšliai. Das habe er getan, um zu Geld zu kommen, weil er sich schön kleiden wolle. Am Dieb­stahl sei auch Žukauskas beteiligt gewesen. Später sagte Mackevičius, er allein habe die Kirche beraubt, um dem Žukauskas zu beweisen, daß er selb­ständig zu handeln vermöge. Žukauskas sagte vor Gericht zu Mackevičius: „Du, Alius, verantworte dich selbst, was ich getan habe, das überlaß mir. Ich bin nicht gewillt, für deine Verbrechen einzustehen." L. Mackevičius charakterisierte seinen Bruder wie folgt: „Alius ist wie ein Franzose, wenn alle singen, singt auch er, wenn alle schweigen, schweigt er auch." V. Pa-vilonis bekannte sich nicht zur Zugehörigkeit zu einer Geheimorganisation, er habe auch keinerlei Büchlein verbreitet, bloß einige davon bei sich auf­bewahrt. Er habe nichts von geheimen Publikationen gewußt und mit Žu­kauskas habe ihn nur die Heimatpflege verbunden. Der Staatsanwalt Baku-cionis nannte Žukauskas den Begründer einer Untergrundorganisation und verlangte vom Gericht für ihn sieben Jahre Freiheitsentzug. Für Sakalauskas verlangte er fünf Jahre Freiheitsentzug. Während er Pavi-lonis und Rudaitis anklagte, bemühte sich der Staatsanwalt den Mackevičius nach Kräften zu verteidigen, nannte ihn ein beklagenswertes Opfer, das von Žukauskas und ähnlichen betrogen worden sei.

In politischen Prozessen kann die Verteidigung nicht viel sagen, allenfalls kann sie einige Verdienste der Angeklagten hervorkehren. Der Anwalt Ku­daba verneinte die kriminellen Vergehen des Žukauskas, der Anwalt Bor-vainis unterstrich die Verdienste des Sakalauskas um die Gesellschaft, der Advokat Gavronskis erinnerte daran, daß Rudaitis ein guter Arzt sei und ein ehemaliger Antifaschist. Der Anwalt Vaicekauskas nannte den Macke­vičius ein „verirrtes Schäfchen", das fähig sei, sich völlig zu rehabilitieren. Die Anwältin Matijosaitienė sprach über die Verdienste des Pavilonis um den Komsomol und über seine schwache Gesundheit. Einige Anwälte be­mühten sich, die ganze Schuld auf S. Žukauskas abzuwälzen. Alle Angeklagten baten um Freispruch, allein Mackevičius bat um Gnade. Die Atmosphäre war während des Prozesses gedrückt, im Saal saßen die be­kümmerten Verwandten, die passiven Verteidiger. Den Angeklagten war nicht gestattet, ihr Gesicht dem Saal zuzuwenden! Beim Versuch, etwas zu notieren, schritt ein Polizist ein und nahm die Notiz fort. Vor Gericht wurde der Aufruf zum 16. Februar nicht verlesen, es wurde bloß gesagt, daß er mit dem Wort „Litauer" beginnt und mit den Worten „Kanener Abteilung" endet. Es wäre erforderlich gewesen, den Inhalt dieses Blätt­chens vor Gericht zu analysieren. Vor Gericht wurde von der Vorbereitung einer Untergrundveröffentlichung gesprochen, den Inhalt dieser Publikation aber gab das Gericht nicht bekannt. Auch über die Untergrundorganisation wurde nichts Zuverlässiges bekanntgegeben. Damit wurden die wichtigsten Fragen, um welche es in § 68 des Strafgesetzbuches der Litauischen SSR geht, vor Gericht nicht berührt. So verlief der Prozeß, der zum Ziel hatte, die Heimatbewegung in Litauen anzuschwärzen und zu paralysieren. Das Schlußwort des Žukauskas währte etwa eine Stunde. Er erklärte, kein Feind der sozialistischen Ordnung zu sein, aber meinte, daß die Sowjet­macht nicht Volkesmacht sei, weil sie im Wege der Okkupation errichtet worden wäre. Die „Revolution" im Jahre 1918 erfolgte nicht aus der Masse des Volkes, sondern sie war in Moskau vorbereitet und wurde durch die Rote Armee zusammen mit Kapsukas und Angarietis von dort nach Litauen gebracht. Unter jenen Machthabern überwogen Polen, Russen und Juden, die nichts mit dem Volke gemein hatten, welches die Unabhängigkeit Li­tauens ersehnte. Die Litauer organisierten ein Freiwilligenheer, um die neuen Okkupanten, die Bolschewiken aus Litauen zu vertreiben. Weiter erinnerte Žukauskas an den Ribbentrop-Molotov-Pakt über die Aufteilung des Baltikums. Aufgrund dieses Paktes wurden auch 1940 von der Sowjet­macht die Stützpunkte der Roten Armee in Litauen eingerichtet. Die ge­nannten Revolutionen oder revolutionären Verhältnisse seien nichts anderes, als eine schamlose Lüge. 1940 erfolgten Verhaftungen und Verschickungen, aber die Nachkriegs jähre waren noch furchtbarer: Terror, Bauernenteig­nung, litauische Partisanen, (Žaliukai), die Massenverschickungen verur­sachten rund 300 000 Menschenopfer. Darüber hinaus gab es Verhaftungen, Gefängnisse, Straflager, vielerlei Repressionen, Erschießungen Unschuldiger und den Stalinkult. Nach dem Kriege schaffte man die Menschen nach Si­birien, nicht etwa nach Klassen-, sondern nach nationalen Gesichtspunkten. Bis auf den heutigen Tag gibt es Menschen, die nicht das Recht haben, in die Heimat zurückzukehren. Das ist ein furchtbares Leiden, die Litauen zu­gefügt wurden. Bis in unsere Tage wütet der russische Chauvinismus, wird eine Politik der Entnationalisierung betrieben. In Litauen bestehen für Rus­sen wesentlich günstigere Voraussetzungen als für Litauer. Die Steigerung des Bevölkerungsanteils russischer Herkunft erklärt man mit dem Mangel an Arbeitskräften, die litauischen Einwohner aber werden gleichzeitig für Kasachstan und andere Gegenden der Sowjetunion angeworben. Auf diese Weise erfolgt Kolonisation. Das russische Imperium ist ein Gefängnis der Völker. Alle Völker kämpfen um ihre Freiheit, alle fortschrittlichen Kräfte unterstützen sie. Wieso sind wir Litauer schlechter als die anderen?! Žukauskas hält seine Tätigkeit nicht für ein Vergehen gegen das Volk und gegen die Gesellschaft, er bittet nicht um eine milde Strafe, sondern verlangt Freispruch. Er wendet sich an das Gericht: „Das hier ist kein Gericht, son­dern ein Gewaltakt. Weshalb ist er nicht öffentlich? Fürchtet das Gericht wirklich, daß haßerfüllte Leute es zerrissen? Ihr habt Angst, die ihr euch aufgemacht habt um ein Krümchen Gold, um einen Löffel schmackhafter Speise ..." (V. Kudirka) Wiewohl ihr dem Namen nach Litauer seid, die Volksweisheit hat Recht, wenn sie sagt: der eigene Hund beißt am schmerz­haftesten ... Žukauskas beendete seine Rede mit den Worten von Miko-laitis-Putinas: „Der Feind drückt uns mit eisernen Händen, aber das teuerste Wort ist — Freiheit!"

Am 5. März 1974 wurde das Urteil gesprochen:

S. Žukauskas,, geb. 1930, Student im VI. Kurs des Medizinischen Instituts von Kaunas, Mitglied des Komsomol, der die englische, französische und deutsche Sprache gut kennt, wird zu 6 Jahren Lager mit verschärftem Re­gime und zur Konfiskation seines Eigentums verurteilt.

A. Sakalauskas, geb. 1938, Lehrer der deutschen Sprache am Polytechnischen Institut von Kaunas (PIK) — zu 5 Jahren verschärften Regimes. V. Pavilonis, geb. 1947, Ingenieur-Technolog — zu 2 Jahren Lager ver­schärften Regimes.

L Rudaitis, geb. 1911, Arzt — zu 3 Jahren Lager verschärften Regimes und zu Konfiskation des Eigentums.

A. Mackevičius, geb. 1949, Student des Polytechnischen Instituts von Kau­nas (PIK) — zu 2 Jahren Lager gewöhnlicher Ordnung. Der Verbüßungsort ist Solikamsk (Rayon Perm) mit Ausnahme von Macke­vičius, der seine Strafe in Pravieniškes (Litauen) verbüßen wird. S. Žukaus­kas verbleibt bis zum Herbst im Gefängnis des Staatssicherheitsdienstes.

ERZBISTUM VILNIUS

Vilnius

Vor einigen Jahren begann in Kryžkalnis ein zu Ehren der Roten Armee errichtetes Denkmal zu zerfallen, deshalb mußte man sich um seine Rettung kümmern. Um den Zustand des Denkmals zu überprüfen, wurde der Kan­didat der technischen Wissenschaften vom chemischen Laboratorium für die Denkmalspflege, Mindaugas Tamonis, geb. 1940, abkommandiert.

An den Direktor des Instituts für Denkmalspflege.

M. Tamonis, des ältesten wissenschaftlichen Mitarbeiters im chemischen Laboratorium des Polytechnischen Instituts von Kaunas.

Erklärung

Ich bin der Kommandierung vom 5. April d. J. zur Überprüfung des Zu-standes des in Križkalnys zu Ehren der Roten Armee, als der Befreierin Litauens, errichteten Monuments aus Gründen der nicht Kompetenz der PIK nicht gefolgt: ich erkenne den jetzigen Status Litauens nicht an. Nach meiner tiefen Überzeugung muß jeder gewissenhafte Bürger mit seinem ganzen Le­ben danach streben, daß im Namen des Fortschritts alle Fehler, sowohl die im persönlichen Leben verschuldeten, wie die im Rahmen seines Staates er­folgten, korrigiert werden. Man kann doch nicht die Zukunft bauen, wenn man nicht die Fehler der Vergangenheit erkennt und sich ihrer voll bewußt ist.

Zu den nicht oder nur zum Teil wieder gutzumachenden Fehlern aus der Zeit des Personenkults rechne ich:

1. Die Massenversdiickungen unschuldiger Menschen;

2. Den Anschluß der baltischen Staaten an eine Konföderation, die sich mit dem Bestand des früheren russischen Imperiums deckt, zu einer Zeit, in der in aller Welt das Streben nach vollwertiger staatlicher Selbständigkeit sich kräftig verstärkt;

Ich halte es für unmöglich, meine Hand daran zu legen, die Erinnerung an Ereignisse über Jahrhunderte zu erhalten, die die Unabhängigkeitszeit Li­tauens vernichteten und soviel Ungerechtigkeit hervorgerufen haben. Aus allgemeiner Hochachtung für die Nachbarvölker im Kampf gegen den deutschen Faschismus wäre ich bereit, unter den folgenden Bedingungen an die Restauration und Konservierung von unter diesem Gesichtspunkt er-riditeten Denkmälern heranzutreten. Es muß völlig sichergestellt sein, 1. daß an den Hauptorten des Untergangs unschuldiger Bürger in der Zeit des Personenkults monumentale Denkmäler errichtet werden; sie sollen die Kultur unseres Volkes, Achtung vor dem Menschen und hohes Künstler-tum zeigen.

2. daß das in der Verfassung garantierte (einstweilen nur formale) Recht
auf Selbstbestimmung durch ein zusätzliches Gesetz definiert und darin der
Mechanismus ihrer Verwirklichung festgelegt wird; also periodische Abstim-
mungen in allen Republiken des Baltikums, sowie auch in anderen, soweit
deren Völker das wollen, die zu einer wirklichen, vollwertigen Staatlichkeit,
gleicher kultureller und wirtschaftlicher Unabhängigkeit führen, wie sie die
anderen sozialistischen Völker genießen.

3. daß die Drohung einer neuen Periode der Personenkults ausgeräumt ist.
Das kann man durch Einführung eines Mehrparteiensystems erreichen, das
heißt indem die Gründung sozialdemokratischer, christlichdemokratischer
u. a. Parteien gestattet wird. Es gehört dazu eine verantwortliche Presse,
echte demokratische Wahlen, die den Einfluß der Partei vermindern würd-
den, die sich so sehr an dem Volke versündigt hat. Diese Maßnahmen könn-
ten im Rahmen des Sozialismus die Demokratie stärken und zu größeren
Erfolgen bei der Regierung der Staaten führen. Der Vorgang des weltwei-
ten Fortschritts fordert, daß die Gemeinschaft der sozialistischen Staaten
immer demokratischer wird, damit es in allen Lebensbereichen schnell vor-
wärts geht. Es ist unmöglich, sich dem Ideal einer sozialistischen kommuni-
stischen Gesellschaft zu nähern, wenn die Staaten, die diese Ordnung ver-
wirklichen, nicht eine größere Autorität erlangen, wenn sie nicht sich in der
ganzen Welt durch Achtung der Menschenrechte hervortun, durch Toleranz
gegenüber verschiedenen Meinungen, durch deren sorgfältige Würdigung,
durch Erhabenheit und Rechtlichkeit.

5. 4. 1974 M. Tamonis

ERZBISTUM KAUNAS

Kaunas

Um 8 Uhr früh am 9. April 1974 weihte der Bischof I. Labukas in der Ka­thedrale zu Kaunas sechs Theologie-Studenten des 4. Kursus zu Priestern: an der Zeremonie der Handauflegung nahm der Bevollmächtigte der So­wjets für die Angelegenheiten der religiösen Kulte K. Tumėnas teil. Zur gleichen Zeit weihte in der Kathedrale von Panevėžys der Bischof Krik­ščiūnas die übrigen Theologen des 4. Kurses. Zur Zeit der Weihe war die Kathedrale von Panevežys mit Gläubigen überfüllt, denn seit 1945 hatte dort keine derartige Feier stattgefunden.

Die Gläubigen bedauerten, daß die Priesterweihe zu so ungelegener Zeit stattfand und drückten den Wunsch aus, daß sie in Zukunft in arbeitsfreier Zeit, am Sonnabend und zu späterer Stunde stattfinde. Die Geistlichkeit Litauens ist sehr unzufrieden damit, daß man sie über die Priesterseminare fast gar nicht informiert — die Mehrzahl der Priester weiß nicht einmal, wie viele Seminaristen dort unterrichtet werden, wieviel für die Räumlichkeiten des Seminars an die Behörde zu zahlen ist — 4500! — in welchen Verhältnissen die Studenten leben, wenn die Mehrzahl von ihnen im Seminar erkrankt.

Seit 1944 ist das Gebäude des Priesterseminars von Soldaten besetzt, und die Kirche des Seminars wird als Lagerhaus benutzt. Das jetzige Seminar ist im ehemaligen Kloster der Salesianerväter untergebracht. Das Haupt­gebäude des Seminars bedarf dringend der Generalremonte, wie die Behör­den sie aber nur für staatliche Einrichtungen bewilligen — man muß viel bezahlen, die Arbeit geht aber nur im Schildkrötentempo voran. Einige Jahre nacheinander mußten die Seminaristen im Keller eines Hauses beten, die Vorlesungen aber im Schlafraum hören, könnte doch nur die Kurie zwei große leere Säle für das Seminar bereitstellen.

Šiauliai

Zenonas Mištautas, der das Schaulener Polytechnikum K. Didžiulis besuch­te, wurde als Gläubiger lange Zeit von seiner Lehrerin gequält, nachdem sie sich aber überzeugt hatte, daß Worte nicht wirken, griff sie zu feineren Mitteln.

Als Mištautas, vor der Verteidigung des Diploms bei der Leitung des sech­sten Bans sein Praktikum machte, legte man ihm nahe, eine atheistische Vor­lesung für die Arbeiter zu halten. Wegen seiner Weigerung wurde ihm das Stipendium gestrichen — seht ihr, der erfüllt seine „gesellschaftliche Pflicht" nicht. Am 11. Januar 1974 wurde Z. Mištautas zum Abteilungsleiter Pučkus gerufen, der ihm eröffnete, daß seine Note für Betragen herabgesetzt werde; gleichzeitig verlas er eine Anordnung des Direktors Zumer: „Wegen Nicht­erfüllung übernommener gesellschaftlicher Aufgaben und wegen des Aus­falls der atheistischen Vorlesung auf dem 6. Ban ist dem Z. Mištautas die Betragensnote auf — 3 — herabzusetzen."

Als Mištautas sich an den Direktor wandte, erklärte dieser, die Betragens­note werde vom pädagogischen Rat beschlossen. Wegen „bewußter Nicht­erfüllung gesellschaftlicher Verpflichtungen" wurde die Diplomprüfung um ein Jahr verschoben.

Mištautas bat den Minister für das höhere und Fachschulwesen Zabulis, ihm die Verteidigung des Diploms zu gestatten, da seine Eltern materieller Hilfe bedürften und er außerdem während des Militärdienstes viel vergessen würde und von neuem würde lernen müssen. Der Minister Zabulis bestä­tigte den Beschluß des pädagogischen Rates, da das Schaulener Polytech­nikum ihm berichtete, Z. Mistautas sei ein gläubiger Mensch und habe zu Ehren von Kalanta das Kreuz auf den Hügel Meskuciai getragen.