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CHRONIK DER KATHOLISCHEN KIRCHE LITAUENS Nr. 9,1973
Inhalt dieser Ausgabe:
Gromyko beim Papst im Vatikan.
Eine Welle von Haussuchungen und Verhören.
Litauen, 1974
Die Freiheit zu sterben
Die litauischen Rayonzeitungen druckten im Dezember 1973 und Januar 1974 einen Aufsatz des Rates beim Ministerrat der Litauischen SSR Pranas Mišutis mit dem Titel „Das Sowjetgesetz und die Religion" ab. Das Wochenblatt Kahla Vilnius (Hier spricht Vilnius) veröffentlichte einen umfangreichen Aufsatz desselben Autors „Kirche und Religiosität in unseren Tagen" (1974, Nr. 5). Im Rahmen der Rundfunkreihe Akiratis (Horizont) vertrat derselbe Rat beim Ministerrat den Standpunkt, die Sowjetgesetze seien bezüglich des religiösen Kults äußerst human.
Wodurch ist die atheistische Propaganda derartig beunruhigt? Mišutis schreibt: „Wir haben die Pflicht, die ausländische reaktionäre Propaganda und die Versuche örtlicher Reaktionäre, die Sowjetwirklichkeit anzuschwärzen und die Verhältnisse zu verfälschen, zu demaskieren." Die atheistische Propaganda erklärt unermüdlich, daß „unsere Gesetze über die religiösen Kulte demokratisch" seien.1
Schauen wir, was P. Mišutis von der „Freiheit" der Kirche sagt und was er verschweigt.
„Den Geistlichen ist es verboten, Kinder katechetisch zu unterrichten,2 Unmündige zu kirchlichen Diensten heranzuziehen, sich in weltliche
Komsomol-Kongreß
Mitte Februar 1974 fand in Wilna der 18. Kongreß des litauischen Komsomol statt, der sich insbesondere mit der kommunistischen Erziehung der litauischen Jugend befaßte. Der Erste Sekretär des ZK des litauischen kommunistischen Jugendverbandes (LKSM) V. Baltumas rühmte sich der Erfolge bei der Erziehung der Jugend im Sinne des Patriotismus und Internationalismus. Nach seinen Worten erzielte die Bereisung der Stätten revolutionären, kriegerischen und werktätigen Ruhmes des Sowjetvolkes durch den AU-unions-Komsomol gute Ergebnisse. Im Laufe dreier Jahre hätten die Teilnehmer an der Bereisung ca. 150 Denkmäler, Obelisken und Gedenktafeln enthüllt und 673 Museen, Stuben und Winkel zur Erinnerung an den Kampfesruhm eröffnet. In Zukunft fühlten sich die Organisationen des Komsomol und der Pioniere besonders verpflichtet, in der Jugend Glauben und Verehrung an und für ihre multinationale Heimat zu stärken. Der Sekretär des ZK der KP Litauen A. Barkauskas sagte: „Die Arbeit an der patriotischen und internationalen Erziehung ist in jedem Kollektiv zu planen; für die kriegerisch-patriotische Erziehung sind mit mehr Umsicht und Findigkeit die Beispiele von Heldentum in der revolutionären Bewegung und im großen vaterländischen Krieg auszunutzen; Museen und Ausstellungen sind zu besuchen, Treffen mit Wehrpflichtigen der Sowjetarmee, mit Veteranen, mit ehemaligen Untergrundkämpfern sind zu organisieren, Fahrten zu Stätten des Kampfes und des Sieges zu veranstalten." Beide Redner schmähten den sogenannten Nationalismus. Aber das Leben zeigt, daß Bemühungen, die Vergangenheit unseres Volkes zu verunglimpfen und zu negieren, die Okkupation unseres Landes aber als „heroischen Aufstand des Volkes" darzustellen, vergeblich sind. So ist die litauische Jugend und Schülerschaft durch nichts dazu zu bringen, den 16. Februar zu vergessen.12 In der Stadt Alifus waren sogar drei dreifarbige Nationalfahnen gehißt, im Rayonzentrum wurden Proklamationen verbreitet usw.
In unseren Tagen ist es höchst modern, von Dialogen zu sprechen. Katholiken und Kommunisten streben sie auch an. Ein päpstlicher Nuntius war vor einiger Zeit in Moskau und am 21. März dieses Jahres besuchte der Außenminister der UdSSR, Gromyko, Papst Paul VI. Was versprechen sich die litauischen Katholiken vom bevorstehenden Dialog mit dem Sowjetstaat? Die Katholiken sind überzeugt, daß das Gespräch notwendig ist, aber sie geben sich keinen Illusionen hin. Der Dialog kann nur dann von Nutzen sein, wenn beide Seiten guten Willens sind. Vom „guten Willen" des kommunistischen Staates zeugen die Prozesse gegen Geistliche wegen der katechetischen Unterweisung von Kindern, die Gefängnishaft von Gläubigen wie P. Pluira, P. Petronis und J. Stašaitis wegen der Herstellung von Gebetbüchern und religiöser Literatur, die Verhöre und Untersuchungen wegen Besitzes religiöser Literatur, das Verbot, sich beim Sowjetstaat über administrative Verfolgung von Gläubigen zu beschweren, das Belügen der Welt über die Lage der Katholiken in Litauen ... usw.
Bis heute gebraucht der kommunistische Staat gegenüber den Gläubigen nur Lüge und Gewalt. Es scheint, daß er den Dialog mit der Kirche allein dazu benutzt, den Vatikan zu veranlassen — in der Hoffnung auf eine Erleichterung der Lage der Gläubigen —, Schweigen zur Verfolgung der Katholiken in der Sowjetunion zu bewahren. Der Dialog ist nur dazu da, die Weltöffentlichkeit zu verwirren, den Eindruck zu erwecken, als herrsche in der Sowjetunion Freiheit der Religion.
Die Welle von Haussuchungen (Fortsetzung. Anfang in „Chronik d. LKK Nr. 8)
Am 19. November 1973 kehrte der Funktionär des Kaunaer Exekutivkomitees, Vytautas Vaičiūnas, nachdem er auf Baustellen in der Stadt gewesen war, um 12 Uhr nach Hause zurück, um zu essen. Zu Hause (Hyppo-dromstr. 46) fand er seinen alten Bekannten, den ehemaligen Lehrer Povilas Petronis vor. Eine Viertelstunde später läutete ein Unbekannter. Kaum hatte der Hausherr die Tür geöffnet, stürzten sechs Männer über den Treppenabsatz ins Zimmer. Die Eindringlinge nannten nicht ihre Namen, wiesen keinerlei Beglaubigungen vor und nahmen Povilas Petronis mit sich. Es gingen aber nicht alle; drei blieben und warteten bis 18 Uhr, d. h. bis zum Beginn der Haussuchung. Die Haussuchung leitete der Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, der Untersuchungsrichter in besonders wichtigen Angelegenheiten, Major Limauskas. „Zeugen" waren Vladimir Gluševski und Vladimir Engelhard; gewöhnlich ziehen die Beauftragten vom Staatssicherheitsdienst ihre eigenen Leute als Zeugen hinzu. Sie schafften es am 19. November nicht, alles zu durchsuchen, deshalb entließ der Major Limauskas um 22 Uhr die Zeugen, fuhr selbst weg, beließ aber in der Wohnung des V. Vaičiūnas als Wache drei Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes. Einer von ihnen — Vilimas — verhörte später den Hausherrn. Am nächsten Morgen erschien der Major Limauskas mit anderen Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes und anderen Zeugen. Die Durchsuchung wurde fortgesetzt. Nach einigen Stunden führten drei Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes die Frau des V. Vaičiūnas, Leonore, ins Gartenhäuschen und durchsuchten dieses. Nach der Durchsuchung brachten die Beamten die Ehefrau Vaičiūnas ins Kaunaer Staatssicherheitskomitee und unterwarfen sie dort einem Verhör, das etwa 9 Stunden dauerte. Tags darauf wurde sie nochmals sieben Stunden lang verhört.
Zu Beginn der Haussuchung verkündete der Major Limauskas einen Befehl vom 14. November zur Durchführung einer Haussuchung in der Wohnung des V. Vaičiūnas und zur Beschlagnahme die Angelegenheit betreffender Gegenstände. Die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes durchsuchten die ganze Wohnung, die Wirtschaftsnebenräume und den V. Vaičiūnas selbst. Die Haussuchung war um 16 Uhr beendet. Beschlagnahmt wurden:
1. Mehrere Pakete mit religiösen und antialkoholischen Aufsätzen: „Grundlagen des katholischen Glaubens", „Daß die Flamme brenne!", „Wunder und Glaube", „Der Weg zum Glück", „Schnaps ist kein Honorar", „Der Pfad des Heils", „Das Beispiel der Väter", „Grundlage des Glaubens", „Der Glaube schlief" usw., insgesamt etwa 70 Titel.
2. Viele Bogen Papier mit allen möglichen Aufzeichnungen.
Vom 19. bis 26. Dezember 1973 wurde im Volksgerichtshof des Leninbezirks von Vilnius der Kriminalprozeß gegen „die Defraudanten von Staatseigentum" durchgeführt. Die Prozeßleitung hatte der Volksrichter Stankevičius.
Der Staatsanwalt Dedinas beschuldigte im Anklagebeschluß, dessen Verlesung etwa drei Stunden dauerte, den Angeklagten Antanas Terleckas auf Grund der Absätze 160, 157 und 94 im zweiten Teil des § 6 der Verfassung der Litauischen SSR. Im zweiten Teil des letzten Absatzes ist von Gruppenvergehen die Rede, obwohl auf der Anklagebank bloß einer saß, eben A. Terleckas. Aus dem Anklagebeschluß ging hervor, daß A. Terleckas akademische Bildung hat, er ist Dipl.-Volkswirt. Daneben hat er Geschichte studiert. 1958 erhielt er eine Vorstrafe nach Absatz 58 § 6 wegen politischer Vergehen. Man sagt, Terleckas sei das gewesen, was in den Augen sowjetischer Behörden ein „Staubkorn" ist und man habe ihm das heimzahlen wollen. Der Ablauf des Prozesses bestätigte das zur Gänze. Seite 1972 arbeitete Terleckas in einer Backwarenfabrik, die sich unter Leitung des städtischen Trusts der Speisehäuser und Restaurants befand. Vom Herbst 1972 bis zum Frühjahr 1973 war er Leiter des Unternehmens, danach arbeitete er bis zum 24. Mai als Stapler im Rohstofflager eben dieses Betriebes. Am 24. Mai wurde er verhaftet. Nach der Verhaftung erfolgte in seiner Wohnung eine Haussuchung zwecks Klärung der ihm vorgeworfenen Vergehen — der Veruntreuung von Staatseigentum. Merkwürdig nur, bei der Haussuchung wurden die Zeitschriften N. Romuva, Musu Vilnius u. a. beschlagnahmt. Was haben diese mit Brötchen zu tun? Statt die wirklichen Veruntreuer ausfindig zu machen, wandte der Untersuchungsrichter in der Voruntersuchung unerlaubte Verfahren an, um von den Zeugen die gewünschten, wenn auch unwahren Aussagen zu erhalten, die A. Terleckas belasteten. Terleckas aber, den man zwingen wollte, ein falsches Protokoll zu unterschreiben, verlangte, daß der Staatsanwalt vorgeladen werde. Um A. Terleckas zu brechen, griffen die Ermittler zum letzten Mittel, sie setzten ihn in die am Stadtgefängnis von Vilnius „Lukiškiai" bestehende psychiatrische Klinik.
Erzdiözese Vilnius
Vilnius
Dem Prokurator der Litauischen SSR von Lapenas Vladės, Antanas
wohnhaft Vilnius, Daugavietis-Straße Nr. 5, Wohnung 11. Eingabe
Nach Absatz 242 der Strafprozeßordnung der Litauischen SSR teile ich mit, daß die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, als sie unter Leitung des Oberleutnants Gudas eine Haussuchung in meiner Wohnung durchführten, gegen den Abs. 192 der Strafprozeßordnung der Litauischen SSR verstoßen haben, indem sie zum Staatssicherheitsdienst folgende Bücher religiösen Inhalts mitnahmen, ohne sie im Protokoll oder in das beigefügte Verzeichnis aufzunehmen...
(V. Lapenas nennt dann die genauen Titel von 59 Büchern religiösen Inhalts und erwähnt dazu viele andere Bücher, Broschüren und Einzelblätter, die von den Staatssicherheitsorganen beschlagnahmt wurden, ohne daß sie in das Protokoll der Haussuchung oder in das beigefügte Verzeichnis aufgenommen wurden. — Anmerk d. Redaktion). Der Abschnitt 192 Str. Pr. O. d. Litauischen SSR bestimmt eindeutig, daß „alle beschlagnahmten Gegenstände und Dokumente den Zeugen und weiteren anwesenden Personen gezeigt, namentlich im Beschlagnahme- oder Haussuchungsprotokoll genannt, oder aber in einem dem Protokoll angefügten Verzeichnis aufgeführt werden müssen, unter Angabe der Menge, ... und daß sie am Ort der Beschlagnahme oder der Haussuchung zu stempeln sind". In Wirklichkeit haben sich die Staatssicherheitsbediensteten nicht im geringsten an die Vorschriften des Abschn. 192 des Kodex gehalten, selbstherrlich die in dieser Eingabe genannten und viele nichtgenannte Bücher beschlagnahmt, ohne sie in das Beschlagnahmeprotokoll oder in ein beigefügtes Verzeichnis einzutragen, sie haben sie nicht gestempelt, taten sie in Säcke, luden sie auf Wagen und brachten sie weg. Vor der Abfahrt sagte der Oberleutnano Gudas: „Diese Bücher bringen wir möglicherweise zurück." Die Staatssicherheitsbeamten haben nicht nur den Abschn. 192 der Str. Pr. O. der Litauischen SSR verletzt, sondern auch den Abschnitt 10 der Verfassung der Litauischen SSR (die Bücher sind mein persönliches Eigentum, da sie vom Arbeitseinkommen erworben worden sind), den Abschn. 96 (Garantie der Gewissensfreiheit), den Abschn. 97 (in dem steht, daß gesetzlich garantiert sei: a) die Freiheit des Wortes, b) die Freiheit der Presse). Außerdem wurden internationale Verträge verletzt: die Allgemeine Menschenrechtsdeklaration und die Konvention über den Kampf gegen die Diskriminierung im Bildungsbereich.
Am 30. November 1973 wandte ich mich schriftlich an den Vorsitzenden des Komitees für Staatssicherheit mit der Bitte, mir die Bücher zurückzugeben. Am 21. Dezember erhielt ich die folgende, von Morkevičius unterschriebene Antwort: „Die in Ihrem Schreiben vom 30. 11. 1973 aufgeworfenen Fragen werden während der Voruntersuchung entschieden werden." Im Hinblick auf das oben Dargelegte und in Übereinstimmung mit Abschn. 24 Str. Pr. O. der Litauischen SSR bitte ich zu veranlassen, die oben genannten Verstöße zu beseitigen und alle meine Bücher religiösen Inhalts, alle Broschüren, Notizbücher, die Manuskripte und alles weitere bei mir von den Organen des Staatssicherheitsdienstes Beschlagnahmte zurückzugeben. (V. Lapenas weist darauf hin, daß zwischen der in Lenins Schriften wahrnehmbaren Toleranz in bezug auf die Gläubigen und dem Verhalten der Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, die religiöse Literatur konfiszieren, ein tiefer Abgrund klaffte. Das kann die Gläubigen gegen die bestehende Ordnung aufbringen. — Anmerk. d. Redaktion.) Die Forderung, daß gläubige Menschen keine religiöse Literatur besitzen und lesen sollen, käme der Forderung gleich, daß Kommunisten keine Werke des Marxismus-Leninismus besitzen und lesen sollten, oder daß Atheisten keine atheistische Literatur haben dürften.